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fotos während der proben, seit 2005

Sabine Vess, Bruno Schulz Institut, June 2008

From 7 till 31 May I was in Lima. Togther with the stagedirector Ismael Contreras and the musician Toño Tarnawiecki we took up the preparations of the intended pilot-campaign this fall: presenting 'nana de la calle' at secondary schools of Lima, followed by discussions between street children and students.
To my great pleasure I can tell you that Pedro, one of the youngster of the family of Generación, who took part in the opera in 2006 and 2007, on Monday, 26 May, entered the police school of Lima; he had dreamed of becoming a police officer, one day. We will miss him badly.

May 2009
The pilot-campaign turned out a success.
Toño Tarnawiecki quit working with the kids.
After two years of absence, Pepe Toro, the musician I initiated this theater with, started anew working with them. During those two years, he writes, the kids have have improved incredebly, have incorporated their lullaby and are using it as a tool managing it themselves; and that he cannot but support them in relying on and developing their talents their way. They are keen on mastering what is offered to them. This mastery makes them strong, self-confident and humble...
And Lucy Borja ads, that, as a matter of fact, the applause their public uses to break into finally makes the kids and adolescents dying for presentations.
Our next step will be a street academy.

 

Mit Strassenkindern aus ihrem Leben Theater machen

Was soll's mit ihnen ihr Leben einzuüben und sie und dieses eingeübte Leben auf Podien zu schaffen; fern ihrer gewohnten Umgebung eben beklatscht, bejubelt. Und dann? Auf der Strasse schaffen sie sich mit Kleisterdunst oder irgendwie sonst mühelos high, weg.

Im August 2005 fange ich mit den Kindern und Jugendlichen der Häuser von 'Generación' in Lima mit diesem Theatermachen an. Seit 2000 unterstützt das Bruno Schulz Institut das Theaterprogramm dieser Institution, wo sie für die Rechte der Strassenkinder kämpfen, die von der Strasse als ihresgleichen betrachten, ihnen ein Heim anbieten und ob du gerade in einem der Häuser wohnst, unterkommst, irgendwann da warst, immer wieder oder permanent auf Strasse lebst, du gehörst zur 'Familie'. Ich auch.

Wie kommt es dazu?

1995, mit gut vierzig anderen zu Fuss unterwegs von Mombasa in Kenia nach Kampala in Uganda, sagt Luke, eine Ärztin aus Nairobi: mach Theater mit meinen Strassenkindern. Das kommt dann über erste Ansätze nicht hinaus.
Unterwegs sagt Hans, unser Freund aus Kisumu: arbeite mit unseren Kunststudenten, schüre ihre Talente, ihre Vorstellungskraft. Hans ist Missionar in Kisumus Elendsvierteln. Er hatte seine schwarzen und weissen Freunde zu diesem fünfzigtägigen Marsch auf den Spuren der ersten Mill Hill Missionare eingeladen.
Zum Schüren der Talente seiner Kunststudenten schickt mich der Verband niederländischer Seniorenexperten (PUM) 1996 und 1997 für je einen Monat dahin.
Und seit ich damals mit diesen Studenten unter ihrem Trommeln auf allem, was Klang erzeugt, wie unter tiefen Stillen zeichne, tanze, Theater mache, sie sich beim Spielen häuslicher Szenen halbtot lachen, ihr Bettler mir unter die Haut fährt, phantastische Figuren aus zusammengetragenem Abfall, Menschenfronten aus alten Zeitungen unseren Raum bevölkern, wir silbermaskiert mit Sack und Pack durchs Tor des Missionszentrums tanzen, gehört solchem Schaffen mein Herz.


mit Kunststudenten in Kisumu, 1996 und 1997

Nach solch offiziellem Monat bin ich dann kurz noch in Nairobi, mehr ist nicht drin.



in einer Schule für Strassenkinder in einem Elendsviertel Nairobis, 1996

Projekte zum Fördern der Kreativität mittels der Batik bringen mich bis 2000 auch zweimal nach Kamerun und zweimal nach Mali. Diese alte indonesische Wachstechnik ist für mich mehr eine Art des Denkens, des Strukturierens von Vorstellungen, als nur eine Technik für Stoffdekorationen.



batiken im 'Centre Social des Beaux Arts' in Yaoundé, Kamerun, 1996 und 1997

frei zeichnen mit Kreide auf Tischen, Bamako, Mali, 1999

 

1998, zum ersten Mal nach Peru geschickt, ins Zustromgebiet des Amazonas, verliebe ich mich in dieses Land und sage ja, als ich ein Jahr später um meine Assistenz bei einem dreijährigen Schulungsprojekt für Weber der Anden gebeten werde. Wieder mache ich es zu meiner Hauptaufgabe Talente und Vorstellungskraft der mir Anvertrauten zu schüren und die besten unter ihnen darauf vorzubereiten dieses Schüren selbst in die Hand zu nehmen. 2002, im letzten Jahr des Projekts, werden dann auch Töpfer und Gold- und Silberschmiede in die Schulung mit einbezogen. Ich arbeite vor Ort in den Departementen Cajamarca und Ayacucho und in Lima.
Seit diesem Ja lebe ich Jahr für Jahr fünf bis acht Wochen in Peru, manchmal mehr.
Nach Beendigung des offiziellen Projekts arbeite ich 2003 noch einmal in Cajamarca mit Frauen, die noch nie einen Bleistift festgehalten haben, und 2004 in Ollantajtambo an der Bahnstrecke zwischen Cuzco und dem Machu Picchu mit Töpfern.

 

Vom ersten Kontakt mit den Kindern und Jugendlichen von Generación bis Ende 2007

hier finden Sie die Dokumentation des Projektes

Anfang 2000 schreibe ich Lucy Borja, der Direktorin von Generación, eine Bekannte eines Bekannten, biete jedenfalls unsere Unterstützung an und bin im Mai zum ersten Mal bei den Kindern und Jugendlichen in den verschiedenen Häusern und auf der Strasse. Gehe dann immer zu ihnen, wenn ich in Lima bin und meine Zeit es zulässt. Kriege ihre individuellen Situationen und Geschichten mit, den Verlauf ihrer Tage, das Funktionieren des Fangnetzes der Häuser. Lerne die Rhythmen ihrer individuellen und gemeinsamen Verhaltensmuster, Bewegungen, Melodien, Laute, Geräusche kennen, befinde mich zunächst in nur ohrenbetäubender Kakophonie.

Rein ins Haus, raus, hin, her, übereinander gelegt in Ecken; das hält nachts auf der Strasse die Wärme in den Knochen. Die spastische Schwachsinnige mit Rucksack wimmert, treppauf, treppab, schlägt mit der Hand auf den Kopf ein. Der Kretin schreit, lacht, plärrt. Kinder schleppen Kinder in Bäuchen, vor Bäuchen. Ein Fussball zischt an meinem Kopf vorbei. Die Dreizehnjährige, auf der Strasse vergewaltigt, hört, ihr Vater sei nicht ihr Vater, dreht durch, rennt rum, raus auf die Strasse, ist Tage später zurück, stinkend, verklebt, wirft sich auf den Boden, den Männern an die Hälse, tanzt lasziv in durchsichtigem Kleidchen.
Schlurfende Kinder, liegen bleibende Kinder. Anschesen, wegschesen, hinlegen, triezen.
Der Fernseher schreit. Sie wollen, dass er schreit.
Sich bewegen wie die Schönen, die Rapper! Sie greifen zu allem, was wie ein Mikrofon aussieht, wollen aufs Foto. Kommen apathisch vom Job. Sind nicht aus dem Bett zu kriegen. Machen Hausaufgaben, üben Zirkusnummern, trommeln, rütteln an verschlossener Tür. Waschen. Kochen. Stopfen in sich hinein, spucken aus.

Lässt meine Zeit es zu, zeichnen wir zusammen, machen Masken aus Silberpapier, tanzen. Bei allem, was sie tun, schwingt die Strasse, schwingt das Zuhause, aus dem sie raus auf die Strasse sind, in ihnen mit. Alles kann gleich wieder abbröckeln, sich endlos verzögern. Wollen sie nicht, wollen sie nicht. Und für die Gehirne vieler, vom Kleisterdunst buchstäblich verklebt, ist und bleibt der Fleck, wo Pläne geschmiedet und ausgeführt werden, weiss, macht gegebene Worte zunichte.

Im November 2004 nehme ich alle kreativen Projekte von Generación unter die Lupe, biete an mit den Kindern und Jugendlichen aus ihrem Leben Theater zu machen, in ihrem und meinem Raum Raum dafür zu schaffen. Die Zeit ist reif. Und ich fange an sie zu zeichnen, krieche so unter ihre und sie unter meine Haut.

Bevor wir im August 2005 mit so gut wie nichts mit den Proben anfangen, hole ich einen ersten spanischen Gesang - Rap in ihrem Jargon - aus einem Interview mit einem Exstrassenkind. Rap, sie sprechen so. Berichte über die Vertreibung von gut siebzig Kindern und Jugendlichen aus Generacións grössten Haus in Magdalena del Mar, einem Stadtteil Limas, seitens der Obrigkeit durch eine Hundertschaft am 17. Mai 2005, fügen sich an.
Vor dem Haus stehen seither tagaus, tagein zwei bewaffnete Polizisten. Wir hatten da proben, spielen wollen, proben nun an vier anderen, weit auseinander liegenden Orten, brauchen ein Podium für die erste Aufführung.
Mein ständiger Kumpan ist der Musiker Pepe Toro, der lange schon fest mit den Kindern und Jugendlichen von Generación arbeitet. Ab und zu hilft uns sein Bruder Onasis. Pepe musizierte als Junge in Bussen. Onasis war als Junge beim Zirkus, jetzt wird er Schauspieler.

Pepe und Onasis Toro

2006 machen wir Drei uns mit denen, die noch dabei sind, und denen, die neu sind, an die Opernform dieses Theaters.

2007 werden noch drei Häuser geschlossen, zwei wegen klagender Nachbarn und aus dem Haus für Mädchen auf dem Strassenstrich, einem Bäckereiprojekt, zieht sich die europäische Hilfsorganisation zurück. Da konnten sie wohnen, die Schwangeren ihre Kinder kriegen und bei sich behalten, mittags zur Schule gehen und zwei Stunden pro Tag in der Bäckerei arbeiten, das Fach lernen. Sie brauchen drei Dollar Verdienst pro Tag um versichert sein zu können. Nachbarn kauften da ihre Brötchen und Torten, das Krankenhaus um die Ecke war Kunde. Einige dieser Mütter sind noch nicht sechzehn. Einige dieser Mütter leben nun mit ihren Kindern wieder auf der Strasse.

Wir machen weiter, beziehen die, die auf der Strasse leben, mit ein, auch wenn sie sich nicht zur Familie zählen. Meine Kumpane sind diesmal der peruanische Schauspieler und Dramaturgiedozent Ismael Contreras und der achtzehnjährige Musiker Yolver Rodríguez.

Yolver lebt sechs Jahre auf der Strasse, bevor er 2000 zur Familie kommt. Damals singt er für mich, nur für mich. Wohnt jetzt bei der sechzehnjährigen Mutter seiner zweijährigen Tochter bei der Schwiegermutter, spielt in Bussen, gibt den Kleinen der Familie Musikunterricht.

Die letzten zwei Wochen hilft uns der kolumbianische Musiker Luis Andrés Sendoyer.

Ismael Contreras, Luis Andrés Sendoyer, Yolver Rodríguez

Wir arbeiten im letzten noch offenen Haus am Pazifik südlich Limas mit den Kleinen, in der Hochschule für Dramaturgie und im Stadion mit denen, die auf der Strasse leben, im Wohnzimmer von Ismael Contreras mit denen der Familie, die jetzt selbständig wohnen, und zweimal dürfen wir mit allen in der Sporthochschule der 'Universidad Nacional Mayor de San Marcos' die Oper zusammenfügen.

Feststeht, wann ich jedes Mal ankomme und wieder gehe, dass ich die ganze Zeit tagtäglich für dieses Theatermachen da bin und wir das Stück am Ende meiner Frist wenigstens einmal irgendwo spielen.
Jede Etappe ist zeitlich überschaubar und hat ein konkretes Ziel.

Gebrauch und Funktion der von ihnen erhaltenen Informationen über ihr Leben fürs Theater

Nicht nur die erstatteten Berichte informieren, sondern auch das Verhalten der Kinder und Jugendlichen, ihre Bewegungen, die Melodien und Rhythmen ihrer Sprache.

Der weitere Umgang mit ihren Berichten
Das erste Lesen des von mir erarbeiteten Gesangs im Rhythmus ihres Jargons mit allen Kindern und Jugendlichen ist ihre erste Begegnung mit ihrem Leben aus gewissem Abstand. Noch steht alles in der Vergangenheit, so wie sie selbst darüber sprechen, als etwas Abgeschlossenem. Hier und da ändern sie ein paar Sätze, Wörter; ihre Erfahrungen liegen gerade daneben, ihr Jargon eine Strasse weiter, irgendein Wort kriegen sie nicht raus.
Sie bestimmen selbst, welchen Teil sie spielen, manche bitten wir dies, das zu übernehmen.
Im Laufe der Proben nehmen wir weitere Berichte und Teile aus Briefen der Kinder mit auf und anstelle eines Teils des ersten Gesangs fängt Edson, einer der Älteren, der sich dem unbarmherzigen Regime der Behandlung seiner multiresistenten Tuberkulose unterzieht, vom verdammten Leben auf der Strasse zu rappen an. Zögernd zunächst und unter ständigem Rückzug und Zuspruch. Die Strasse war von seinem zweiten Jahr an, nach der Erschiessung seiner Eltern durch Regierungstruppen, sein Zuhause.

Bevor wir uns 2006 an die Oper machen, schreibe ich anhand des entstandenen Theatertextes und meiner Aufzeichnungen das Libretto, setze alles in die Gegenwart. Aus Edson wird Rapson, sein Spielraum grösser. Er hat das Schreiben für sich entdeckt, hat das Zeug dazu. Den Song, den er mir schickt, bearbeite ich so, dass er Teil des Ganzen bleibt, brüte dann mit ihm zusammen darüber, bis es wieder sein Song ist.

Rapson und sein Freund Pedro fangen mit Kumpanen, die nicht von der Strasse sind, eine eigene Rapgruppe an, fangen an Aufnahmen zu machen, an Wettbewerben teilzunehmen.

Das Umfunktionieren ihrer Bewegungen
Aus ihrer Manier sich zu bewegen, ihrem Rhythmus und den unregelmässigen Sequenzen ihres gewohnten Verhaltens und ihrer gewohnten Bewegungsabläufe entwickeln wir die Theaterbewegungen, diesen 'Tanz' ihres Lebens; es gäbe andere.

Die Funktion der Melodie und des Rhythmus ihrer Sprache
Durch ihre Manier zu sprechen, die Melodie und den Rhythmus ihrer Sprache, ihrer Klänge und Geräusche wird aus dem ersten Gesang ihr eigener, der sich - so viele wie möglich sollen mitmachen und sie behalten nur wenig - aus einer Vielzahl von Gesängen und deren Zersplitterungen zusammensetzt.
Einige lassen wir ihre Textstücke in ihren kleinen eigenen Melodien wie Schlaflieder singen. Sie singen falsch, also werden die Melodien atonal. Andere lassen wir rhythmisch sprechen, andere rappen.
Monotones Singen, Rappen, rhythmisches Sprechen helfen ihnen sich ihre Textstücke einzurammen, sich darin einzulullen. Dann erst können sie anfangen die eigene Information zu spielen, damit zu spielen.
Die Opernform ist logische Folge ihres Könnens.
Rapson bringt seinen Soundtrack mit und wie die im Fernsehen schart er seine Mannen um sich, die ihn ankündigen, mitrappen, sich zum Rhythmus des Tracks bewegen.
Mit Flöten, Zupfinstrumenten, Rasseln, Trommeln begleiten sich die Kinder selbst.
Manche Szene wird nur gespielt.

Das tägliche Üben und Proben

Vor Anfang jeder Probe üben wir mit allen Anwesenden das Basiszeug allen Theaters: Bewegungs- und Sprachapparat, die grauen Zellen und auch das Zusammenspiel. Sie kriegen es mit den Grenzen ihres Könnens im Kleinen zu tun, lernen Können und Talente im Kleinen auszubauen. Und sie und meine Kumpane und ich müssen mit ihren weissen Flecken - Folgen des Kleisterdunstes, anderer Drogen und der Netze ihrer sozialen Strukturen - umgehen.

Für sie war alles immer jetzt und aus. Für Zukünftiges zu arbeiten lag jenseits ihrer Horizonte. Und Zeit, was ist Zeit schon?
Obwohl wir alle Proben mit allen Kindern und Jugendlichen und Begleitern aller Häusern vorher vereinbaren, fangen wir kaum je zur festgesetzten Zeit an, müssen jedoch zur festgesetzten Zeit aufhören und zum nächsten Haus. Wir arbeiten also mit denen, die da sind, kommen und vielleicht dann gerade wollen, müssen in der Spanne, in der wirklich gearbeitet werden kann, ganz anwesend sowohl mit der Gruppe als auch mit jedem individuell arbeiten. Jedes Nachlassen meiner Konzentration, jedes Nachlassen der Spannung bietet Fluchtmöglichkeiten. Und immer wieder torpedieren einige die Proben und haben die Macht andere mitzureissen.

Während der Proben entwickelt sich unsere - nicht nur ihre - Fähigkeit unser Tun und Lassen aus gewissem Abstand zu betrachten. Wir üben unser Können, unsere Talente und Vorstellungskraft, unsere Fähigkeit freier mit Können, Talenten und Vorstellungskraft umzugehen, damit zu jonglieren, üben uns in der hier nötigen kollektiven und individuellen Disziplin.
Abends zeichne ich, mache Notizen, ziehe mit oder ohne Kumpane Bilanz.

Wissend, dass wir in der mit ihnen vereinbarten Zeit nicht weggehen, wir über unsere Bindung an die Vereinbarung mit ihnen ihre Gefangenen werden können, spielen sie ihr Spiel mit uns, das somit unser Spiel ist. In jeder vereinbarten Zeitspanne findet ein Austausch statt, was noch nichts über die Auswirkung in ihnen oder uns besagt.

Jorge Luis sitzt 2005 nur da, wäscht sich nicht, seine Kleider nicht, schaut vor sich hin, liefert seinen Akrobatenakt, sitzt wieder da, torpediert die Proben. 2007 kennt er den ganzen Text auswendig, könnte die ganze Oper zur Not alleine spielen, sie perfekt imitieren. Wie ein Fisch bewegt er sich im Pazifik. Wellenreiten ist wie für viele im Haus am Pazifik sein Ein und Alles. Sie nehmen an Wettkämpfen teil.
Schule mögen sie nicht.
Jorge Luis ist jetzt dreizehn.

Die Kinder und Jugendlichen, die sich irgendwie in Häuser eingliedern lassen, schaffen es jetzt zwei Stunden hintereinander mehr oder weniger konzentriert zu arbeiten, für die, die auf der Strasse leben, ist eine Stunde viel. Manchmal sind sie ganz da. Das macht mir Mut, denn abgesehen vom Stück an sich, vom Schauspieler sein oder nicht - sie sind weder Schauspieler noch Künstler, einige haben Talent - ist Theater Magie, ganze Anwesenheit, auf Leben und Tod.

2007 protestieren sie nicht mehr wirklich, wenn ich sie drei-, vier-, fünfmal hintereinander dieselbe Stelle üben lasse, merken auf einmal selbst, dass sie beim vierten Mal besser sind als beim dritten. Natürlich ist Wellenreiten schöner.
Die Grossen nehmen endlose Busfahrten auf sich um mitzumachen.

Die Aufführungen

Wie das Leben ist Theater, dieser zugespitzte Auszug von Leben, ein Wechselspiel zwischen einer Menge von Leuten und Umständen.
Eine Aufführung ist ein konkretes und zeitlich absehbares Ziel: zur festgesetzten Zeit spielen wir. Das hält sie - uns - irgendwie zusammen und bei der Sache, auch wenn es oft nicht so aussieht.
Bei jeder Aufführung zeigt sich, wie wir dieses Wechselspiel meistern, baut sich das Stück vor Ort mit den anwesenden Spielern und dem vorhandenen Material auf, bleiben Kinder und Team eine Gemeinschaft. Wer nicht da ist, dessen Rolle fällt für diesmal weg oder wird von jemand anderem oder mir übernommen.
Nach dem Stück kann jeder seinen eigenen Akt bringen.
Mit ihnen auf der Bühne zu stehen ist ein Fest. Feste reissen mit, wollen gefeiert sein.
Perfektion? Die meisten mathematischen Gleichungen kennen wenigstens eine Unbekannte. Das ist tröstlich.

Mitte August 2005 ist eine Art Generalprobe im britischen 'Markham College'.
Am 1. September geht das Stück, das wir 'Wiegenlied der Strasse' nennen, im grossen Saal des Kongresszentrums 'Derrama Magisterial' in Premiere.
Am 23. November spielen wir während des 2. Weltkongresses über die Rechte von Kindern und Jugendlichen, der damals in Lima stattfindet, und um wieder reinzukommen für die Nachbarn des Hauses der Mädchen aus der Prostitution auf einem öffentlichen Platz.
2006 bringen wir die Opernfassung am 6. Oktober in der Aula der 'Universidad Nacional Mayor de San Marcos' am 7. Oktober in der Aula der Rechtsfakultät der 'Universidad Católica del Perú' und am 8. Oktober im 'Centro Cultural de España'.
Am 27. Oktober 2007 spielen wir wieder im 'Derrama Magisterial'. Da bringen Edson und Pedro mit ihren Kumpanen, die nicht von der Strasse sind, nach dem Stück eigene Songs.

Wiegenlied der Strasse 2007.wmv

Nie hätten diese Kinder und Jugendlichen sich träumen lassen je das schickste College Limas, ein spiegelblankes Kongresszentrum, die älteste Universität Latein Amerikas als gleichberechtigte Menschen zu betreten und da auch noch vor einem Publikum in schönen Kleidern zu spielen und nicht: Ratte verschwinde!, sondern Beifall zu hören.
Diese Orte und die Hochschule für Dramaturgie, das Wohnzimmer von Ismael Contreras und die Sporthochschule, wo wir das Stück 2007 zusammenfügen dürfen, klingen noch lange in ihnen nach.

Der Beifall während und am Ende einer Aufführung steigert ihr Selbstbewusstsein, erzeugt gleichzeitig pure Freude und Arroganz.

Und jetzt?

Wir hatten uns entschieden alle Kinder und Jugendlichen anzusprechen und jedes und jeden, der dann auch will, irgendwie mitmachen zu lassen; 2007 auch die, deren Zuhause die Strasse ist, ob sie sich nun zur Familie zählen oder nicht. Die kommen 2006 in Scharen zur ersten Vorstellung, stürmen danach auf die Bühne, wollen mit ihren Instrumenten kommen, treten bei den nächsten zwei Vorstellungen im Nachprogramm auf. 2007 machen sie mit.

Für die, die wirklich arbeiten wollen, sind die, die das nicht oder noch nicht wollen, die reinste Plage. Schon 2006 wünschen sich einige der Jugendlichen ein Zentrum, wo sie allein oder in Gruppen mit Dozenten proben und an weiterem Theater arbeiten können.

  • Wir sprechen also weiterhin alle Kinder und Jugendlichen an und arbeiten mit ihnen,
  • arbeiten weiter mit ihnen an ihrem Leben als Theater, wobei wir nicht an der jetzigen Form festzuhalten brauchen,
  • arbeiten - weiter - mit den Musikanten, Sängern und Rappern.
  • Es ist an der Zeit die Kinder und Jugendlichen an anderes Theater, anderes Leben heranzuführen. Die, die interessiert sind, sollen in Zukunft zu Aufführungen von Ismael Contreras Studenten mitgenommen werden. Dann wollen wir in Werkstätten nicht nur Stimm- und Leibesübungen mit ihnen exerzieren, sondern sie auch Szenen aus den gesehenen Stücken gestalten lassen.
  • Wir wollen eine Struktur für eine 'Strassenschule', für eine 'Akademie der Stasse' entwerfen.

Eine PR-Kampagne

Seit dem Auftritt im britischen 'Markham College' im August 2005 schwebt uns vor dieses Theater an allen mittleren und höheren Schulen Limas zu spielen mit danach Diskussionen zwischen Schülern und Strassenkindern. Bei zwei Schulen pro Tag dauert solch eine Kampagne gut ein Jahr. Lima ist riesig. Auch über mehrere Gruppen verteilt, arbeiteten die Kinder und Jugendlichen so ein Jahr lang regelmässig und setzten sich immer wieder, vor und mit immer anderen Gleichaltrigen, mit ihrem Leben auseinander.
Keiner unserer Ersuche um finanzielle Hilfe dafür ist bisher honoriert worden.

Sogar für ein Pilot-Projekt brauchen wir Zuschüsse.

  • Die Kinder und Jugendlichen müssen essen und trinken und transportiert werden.
  • Peruanische Begleiter, Dozenten und Musiker mit Herz für Strassenkinder können nicht wie ich ohne Bezahlung arbeiten.
  • Jugendliche über sechzehn müssen mindestens drei Dollar pro Tag verdienen um sich versichern zu können. In Anbetracht der Lebensumstände und herrschenden Krankheiten ist das nötig. Die meisten der Generación-Familie arbeiten halbtags in den Grünanlagen Limas, manche anderswo für wenigstens diesen Mindestbetrag.
Ende September starten wir oben genanntes Pilot-Projekt, ich habe das Geld dafür zusammen.
Vom 7. bis 31. Mai 2008 war ich zu Vorbereitungen in Lima. Yolver, mein junger Kumpan vom letzten Jahr, kommt nicht mehr. Ich arbeite weiter mit Ismael Contreras und habe den Musiker Toño Tarnawiecki dazugeholt. Mit Toño hatte ich 2002 zweimal beim Schüren der Talente der Weber, Töpfer und Gold- und Silberschmiede der Anden in Ateliers des Peruanischen Nationalen Kultur Instituts in Lima gearbeitet.

Toño Tarnawiecki

Inzwischen ist Pedro, einer unserer Rapper, in die Polizeischule Limas aufgenommen worden, ist Peter, ein anderer Rapper, auf der Strasse gestorben. Gregorio macht's auch nicht mehr lange.

Aus einem Gespräch im Mai 2008 in Lima:
- Das Heer der Strassenkinder
- der Kinder und Jugendlichen, die auf der Strasse leben
- schwillt und schwillt weltweit; eine Faust machen können sie nicht.
- Was geschieht, wenn wir sie nicht einbeziehen können?
- Aus dem Moder der Strasse wird uns noch ungekannte Intelligenz hervorkommen...

Juli 2009. Das Pilot-Projekt hat erwiesen, dass solche Kampagne funktioniert. Die Kinder spielen jetzt einmal pro Monat. Toño macht nicht mehr mit. Ismael auch nicht. Pepe, der Musiker, mit dem ich mit diesem Theatermachen angefangen hatte, war kurz wieder dabei. Er schrieb mir, die Kinder seien darauf versessen ihr Theater zu spielen, regelten alles selbst und er helfe nur. Im Juni haben sie das Stück allein, ohne Musiker, vor 350 Schülern gespielt; mit Erfolg. Das ist ein grosser Schritt. Ich fliege im September wieder hin.

August 2010. Der nächste Schritt ist eine Strassenakademie, a street academy. Im Oktober bin ich wieder in Lima.

nana de la calle - Berichte über den Prozess

sabine vess

2009

2010


nana de la calle - bei einer Probe im Oktober 2010

generación, lima

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