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FRAUEN KREISCHEN, STAMPFEN DIE ERDEMombasa - Kampala19.07. - 06.09.1995 © Sabine Vess
ocker, rost, grau.
"Es ist nichts für mich", sagt Victor und reicht mir den Brief, "dich kann ich nicht zurückhalten." Im Sommer 1895 zogen die ersten Mill Hill Missionare in einer Karawane von Mombasa aus nach Kampala. Zum Andenken daran wollen wir ihren Weg im nächsten Sommer mit unseren schwarzen und weissen Freunden noch einmal ablegen...Das Hin nach Kampala jener ersten Missionare war Teil des Hins der Weissen zu den Quellen des Nils. Wer seine Quellen behrrschen würde, würde den Fluss, die Länder am Fluss beherrschen. Wir lernen uns 1966 beim Aktzeichnen auf der Akademie in Breda kennen. Nach noch einigen Jahren im Mutterhaus in London geht Hans in Kisumus Elendsvierteln arbeiten. Bis die Weissen in den sechziger Jahren weg mussten, war er in Uganda stationiert. In den sechziger Jahren blättert der katholisch christliche Glaube unwiderruflich von mir ab. Ich sage zu. "Was ist Afrika für dich", fragst du. "Laufen ums Leben", höre ich mich sagen und dass ich mir dessen ganz sicher sei. "Laufen um nicht entkommen zu können", fragt Trautwein. Schuhe, irrsinnige Schuhe. Die mir Abschied gebende Seite schreit wieder auf. Nach Schiphol Im Flugzeug Von Abu Dhabi an herrscht im Flugzeug eine andere Atmosphäre. Nairobi Der Mann in dem Sperrholzverschlag, der die Flughafengebühren kassiert, hat ein ausgeschrieenes Gesicht, grau, auch wenn es schwarz ist. Mombasa An einer Müllhalde vorbei, an Menschen vor Bruchbuden, vor Wellblechwänden, im Dreck, geradeaus laufend, einem Stück Bude, Wellblech, Dreck. Ihr Zug in der Gosse - zwischen Buden, Marktständen, auf der Erde liegender Ware mit Menschen daneben, Autos, Fahrrädern hindurch - reisst nicht ab. Lepröse Füsse stechen aus angefressenen Mauern, liegen quer über den Bürgersteigen. Daneben eine offene Hand. Ein ständiger Wind von Pestiziden weht durch die Strassen. Todbringender Atem. Ihre Leiber müssen voll davon sein. Das alte Hotel mit seinem offenen überdachten Treppenhaus liegt gegenüber der Kathedrale. Von übermorgen an versammelt sich da unser Zug, schlafen wir die Nacht vor dem Aufbruch in einer Scheune da. Die Klimaanlage unterkühlt das Zimmer. Ein Fenster steht offen. Entlang der Umzäunung des Territoriums der Kathedrale steht Bude an Bude mit Andenken, abscheulichen Andenken. Das sich anhäufende Elend kann sich kaum mehr erheben, geschweige denn aufbrechen. Nach wohin denn? Wachposten mit Gummiknüppeln vor Banken, vor Geschäftskomplexen. Dann ist einer dieser Jungen unser Führer, unser mit braun gefleckten Zähnen lächelnder Vorschatten, weicht nicht mehr von uns, erzählt, weist, beschützt uns, wie er sagt. Schuttreliefs heben die Köpfe, recken sich. Es muss hier viele Ratten geben. Kein ungekochtes Wasser trinken, kein rohes Gemüse essen. "Fish?" "Fish." "Soda?" Soda is alles an süssem Zeug, dem Kohlensäure zugefügt ist. "Bier." Der Strom fällt aus. Sie bringen Kerzen. Schalten den hoteleigenen Generator ein. 16.07. "Sie können ihm vertrauen", sagt der Ober, "können mit ihm in die Stadt gehen. Er will Ihnen die Stadt zeigen, Sie zu seinem Bruder mitnehmen. Sie können getrost mit ihm gehen." Die Absätze der Ober sind schief. Sie laufen auf diesen schiefen Absätzen, als seien sie Herren. Irgendwann dringt zu mir durch, dass die Absätze schief sind. Rostiges Rot, gelbe bis graue Todmüdigkeit der Gesichter und Bewegungen, ständiger Wind von Pestiziden. Sie laufen wie aufgezogen, die ganze Strasse, und dann rennt die ganze Strasse, als kippe sie. Die Fähre, die da noch liegt, könnte die letzte sein. Ein Seil wird quer über die Strasse gespannt. Sie fangen sich. Stehen. Ein Priester aus Sega mit Freunden. Sega ist, wo Charles herkommt. Sie erkennen einander an der Sprache. Die der Luo ist so weit von der in Mombasa entfernt wie Russisch von Holländisch. Kinder und Erwachsene schauen mir unverwandt in die Augen und ich ihnen. Bleiben schauen, ich auch. Sie lachen, lachen unbändig. Mein Lachen fällt hier nicht auf. In Europa werden sie unruhig, wenn ich länger als ein paar Sekunden schaue, senken die Augen, fangen an an sich herumzufummeln, laufen rot an, schauen mich ermahnend an, wenn ich lache. "Zum Bruder?" "Ja. Weit?" "Nein." Charles weist über die rechte Schulter. Der Bus. Er hat kein Geld für den Bus. "Zwei Fahrscheine." Busse, schlimmer als seinerzeit in Polen, in Russland. Menschengewimmel nach Menschengewimmel durchkreuzt von den geradlinigen Zügen in den Gossen. Sie laufen wie Kolonnen von Zugameisen. Trittst du in eine Kolonne Zugameisen, befallen, zerfressen sie dich sofort. Entlang Wohnblocks, deren Fronten schon zeigen, wie überbelegt sie sind, freistehenden Häusern im Kolonialstil Richtung Flugplatz, an der Müllhalde vorbei, Richtung Zementfabrik durch dicke graue Stinkluft. Die Strassen sind voller entsetzlicher Schlaglöcher. Weit, weit vorbei der Zementfabrik, vorbei letzten Wellblechwänden beginnt eine andere Zivilisation. Eine Lehmhüttenstadt mit Gemüseständen zur Durchgangsstrasse hin. Menschen sitzen auf dem Boden. Wir steigen aus. "Hei!", gehen in die Hüttengassen. "Tee? Essen?" "Soda", sagt Charles. Trinkt aus. Will kurz weg. 17.07. Charles kommt gegen halb elf. Die Schuhe kaufen wir in einem Schuhgeschäft, sie sollen nicht allzu hart sein und bis Kampala halten. Es ist deutlich, dass er noch nie Schuhe getragen hat. Das Warenhaus ist vergittert. Taschen müssen abgegeben werden. Dann hat er alles. Wir geben ihm Geld für den Bus, auch für die Rückfahrt. Um vier Uhr hinter der Kathedrale. Er steht schon da mit noch einem grossen wuchtigen Schwarzen: "George" und seinen Sachen. George schaut mich abschätzend von oben bis unten an, schüttelt den Kopf, lacht. Die Autos aus Kisumu kommen. Hans und ich haben uns im Dezember 1988 bei einer meiner Vorstellungen in Amsterdam zuletzt gesehen. Die Scheune ist Unterrichtsraum, da schlafen wir morgen. Der Wasserhahn ist draussen, die Klos im Pfarrhaus und noch ein paar in dem Männerwohnheim auf dem Gelände. Noch vergesse ich sofort, welches Gesicht zu welchem Namen gehört. Bis auf die, die in der Scheune Wache halten, und das Küchenpersonal essen wir zusammen im Hotel, trinken Bier, manche Soda. Ich geniesse meine vorläufig letzte Mahlzeit an einem gedeckten Tisch, die Dusche, das Bett, 18.07. ... Nachher werden Leute beim Gottesdienst sein, die morgen nach NL fliegen. Ich habe schon entsetzlich viel gesehen und es hat noch nicht einmal angefangen. Ich habe kurz mit Mutti gesprochen. Aber ein kurzes Gespräch kostet von hier aus 20 Dollar. Ich werde probieren jedes Mal, wenn jemand zurückfliegt, einen Brief mitzugeben. Jaap fliegt am 10. August zurück. Dann hast du einen, wenn ihr aus Amerika kommt.Unser Zug sammelt sich. Fünfundvierzig sind wir, so ungefähr. Einige stossen unterwegs zu uns, ein ganzer Schub erst in Nairobi. Einige verlassen uns irgendwo. Die Hälfte sind Schwarze, die Hälfte Weisse. Josephina, Marita, Felicitas. Felicitas ist Marktfrau, kauft für uns ein, hilft beim Kochen, schrubbt die Töpfe. Mary, Kizito, Paul, die Rotznasenkinder Franziska, Hildegard und Anastasia. Bumping. Bumping trägt die Kinder, wäscht sie in einer Schüssel, trägt die Zeitung weg, auf der sie ihre Notdurft verrichten, bringt sie aufs Klo, wäscht Küchenwäsche, Laken und Kleidung, putzt Gemüse. Sie ist sechzehn, vielleicht siebzehn Jahre alt, gross, wuchtig, mit diesen Bewegungen, die über die Länge ihrer Arme weit hinausreichen, ihre Zähne haben braune Flecken. Lucy, Chris, Gabriel, Andrew, Patrick, Charles, Charles, Canute, George, Lwanga, John F. Kennedy, einer der Chauffeure, der Koch, der auch Chauffeur und der Sohn von Felicitas ist. Die meisten der Schwarzen kommen aus den Elendsvierteln Kisumus. Drei Jungen und ein Pater aus Tirol. Ein Vater mit seiner Tochter, Iren aus England. Hans, sein Bruder Eugène, seine Schwägerin Lidy und Cousine Vera, Theo, Jan, Jaap, Liliane, Hanneke, Ankie, die Holländer. Manche Gesichter haben noch keinen Namen, manche Namen noch keine Gesichter. Anastasia, unser Krachschläger, und Franziska sind die Kinder von Mary und Kizito; sie haben noch sechs. Hildegard ist die Tochter von Paul; seine Frau kommt erst nach Nairobi zu uns. Paul ist der Bruder von Mary. Anastasia kreischt, bis Mary sie anlegt und dann weiter bis jemand anders sie nimmt. Auf ein mannshohes kahles Holzkreuz, das da steht, schreibt Jan mit Filzschreiber Mombasa - Kampala 19. 7. - 6.9. 1995. Es wird die ganze Strecke getragen. Es ist das Mutterkreuz. Nachher, nach der Messe, wird ihm das erste uns überreichte kleinere Kreuz mit Korpus aufgebunden. Jan ist für das Kreuz verantwortlich und erster Träger. Er kommt aus Limburg, lebt seit gut einem Jahr in Kisumu, gibt da Zeichenunterricht. Er ist pensioniert. Witwer. Jeder Ankömmling sucht sich gleich einen Platz, rollt seine Unterlage aus, bläst seine Matratze auf, legt sie auf die Unterlage, darauf den Schlafsack, hängt sein Mückennetzt darüber. Dein grosses und kleines Gepäck stellst du am besten rechts oder links deines Kopf- oder Fussendes. Diese knappen 2 mē sind dein persönliches Reich bis zum Aufbruch am nächsten Morgen. Der Bischof zelebriert die Messe. Chris, neben mir, zischt: "Hut absetzen!" Hans predigt. "Die Botschaft lautet: Sharing Jesus (Jesus teilen)." Zum äusseren Zeichen tragen wir den hier empfangenen, gekreuzigten und - gekreuzigt, wie er ist - dem kahlen Mutterkreuz aufgebundenen Menschensohn bis zur nächsten Gemeinde. Binden ihn da, gekreuzigt, wie er geblieben ist, ab. Übergeben ihn und übernehmen ihren gekreuzigten Menschensohn, tragen ihn - gekreuzigt, wie er ist - dem Mutterkreuz aufgebunden bis zur nächsten Gemeinde, übergeben, übernehmen und tragen diese gekreuzigten und gekreuzigt, wie sie sind, kurz wieder dem kahlen Mutterkreuz verbundenen Menschensöhne bis nach Kampala. Von da nehmen die Leute aus Kisumu das kahle Mutterkreuz ohne aufgebundenen gekreuzigten Menschensohn wieder mit nachhause. Die Messe versetzt mich in die Jahre nach dem Krieg. "Tochter Zion." "Grosser Gott wir loben dich." Du gehörst dazu, auch als Vertriebene. Die Liturgie ist auf Latein und so gut wie für alle Gläubigen unverständlich, die Dazugehörigkeit nach der Messe vorbei. Jede Kreuzung wird zum Kreuz erhoben, an das Vater, Mutter, Onkel, Tanten, Nachbarn dich, im Namen des Herrn, zu hängen drohen. Und du hängst dich dran, bevor sie Hand an dich legen, vor der Drohung schon. Leib und Seele krampfen sich zusammen. Das Sehvermögen reicht nicht über das eigene elende Blickfeld hinaus. Solche Masse gleich Missformter, in ihre Missformung im Voraus Einwilligende, gibt das Gebot der Angst weiter, ist ein sich dauernd versichernder Machtblock. Mein Vater konvertierte als Krüppel. Nach dem Essen wäscht jeder sein Geschirr und Besteck selbst ab. Draussen stehen dafür zwei blaue Eimer mit heissem Wasser. Neben dem ersten liegt Kernseife und ein Scheuerschwamm. Mit Scheuerschwamm und Seife schrubbst du im ersten Eimer Teller, Becher und Besteck und tauchst alles im zweiten noch einmal unter. Jeder hat sein eigenes Geschirrtuch. Morgen laufen wir 40 km. Ziehen um 4 Uhr los. Hans will vor Morgengrauen aus der Stadt raus sein. Um 3 Uhr müssen wir aufstehen. Ich stelle meinen Wecker auf 2 Uhr 45. Ich brauche fünf bis sechs Viertelstunden, will ich mich ohne zu hasten fertig machen: aufs Klo, am liebsten vor der Schlange, mich waschen, eincremen und anziehen, die Füsse extra versorgen, die zwei Paar Socken und die schweren Schuhe anziehen, Mückennetz, Laken, Schlafsack und Unterlage aufrollen und verstauen, das grosse Gepäck fertigmachen und hinstellen - die grossen Zeichenblöcke stecken schon im grossen, mein Notizbuch kommt ins Tagesgepäck - Tee trinken, ein weisses Wattebrot mit Margarine und roter Marmelade beschmieren und aufessen, die Flasche mit abgekochtem Wasser füllen, eine Stulle für unterwegs schmieren, mit Margarine und Erdnussbutter oder Zucker, eine Handvoll Erdnüsse in Empfang nehmen, Messer, Löffel, Teller und Becher abwaschen und verstauen, Zähne putzen, noch einmal austreten, den Tagesrucksack auf den Rücken nehmen, den Schal umtun, den Hut aufsetzen und fünf Minuten bei mir sein, ganz still. Auch die Küche ist in der Scheune untergebracht, gekocht wird auf Holzkohle und Propangas. Das Wasser für unterwegs wird abends abgekocht. Jeder bekommt ein Hemd mit der Route drauf. |