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ZWISCHENZEIT

In Utrecht empfängt mich Anastasia mit Blumen, bringt mich zum Zug nach Zaltbommel.

 

Zaltbommel/Amsterdam. Ich fühle keine solche Schwere und Verlassenheit wie 1979 nach meiner ersten Reise allein, fahre wieder morgens von Zaltbommel nach Amsterdam, abends von Amsterdam nach Zaltbommel.

Ich fange an meine Aufzeichnungen durchzuarbeiten. Lege all die Gezeichneten im Institut auf dem Fussboden aus. Ich will, dass sie dabei sind. Und ich zeichne noch weiter, mit Hilfe von Fotos. Für das Zeichnen, das Schreiben mancher Gesichter ist die Zeit unterwegs zu kurz, die direkte Einprägung in mein Fleisch nicht scharf genug um sie aus dieser Prägung heraus zu zeichnen. Manche, die ich gern direkt zeichnete, wage ich nicht direkt zu zeichnen. Menschen haben Vorstellungen von ihrem Bild.

Die Einsame auf dem Utrechter Bahnhof ist noch da. Das gerötete Gesicht. Noch immer können Leute, die sie zum ersten Mal sehen, denken, sie warte auf einen Zug. Wer wirklich hinschaut, weiss, dass das nicht stimmt. Alle täglich Vorbeikommenden wissen von ihrer Einsamkeit. Um den Mund herum fällt ihr das Gesicht ein.

Hiesige Gesichter und Leiber sind wenig geschmeidig, wenig anmutig, werden mit steifem gerade sitzendem Becken fortbewegt. Von der Taille bis zu den Knien scheinen die Frauen aus einem Block zu sein. Viele laufen nur mit den Füssen. Die betonte Nachlässigkeit von Kleidung und Haltung der Jüngeren. Die Menschen hier stossen aneinander, küssen beim Begrüssen rechts und links der Wangen in die Luft.
"Ja, genau", sagen sie. "Das ist dein gutes Recht. Schau. We zullen zien (wörtlich: Wir werden sehen)", und lassen nichts mehr von sich hören.
Jetzt stehen sie morgens schon in den Nischen, spritzen sich voll. "Nein", sagt der Staatsanwalt, "es sind nicht mehr geworden, sie scheuen das Licht nicht mehr, gehören sichtbar zur Tagesordnung."

106 Zeichnungen. Gesichter. Leiber. "Da liegen sie", sage ich. "Man muss solche Reise unternehmen wollen", sagst du.

"... gibt es, wenn überhaupt eine Geburt, nur Abschied oder Tod. Der Tod kann dauern. Auf Weiterleben ist dieses Haus nicht eingerichtet. Ohne rückzeugenden Beifall kannst du nicht bestehen. Am einfachsten sind Totgeborene, diese im Schoss schon gestorbenen Hoffnungen. Kinder, die kürzer als zwölf Stunden leben, trägt der Standesbeamte nur ins Sterberegister ein..." ('Morgen wusste ich nicht weiter')
Wie viele höre ich von meinem Zimmer aus nicht kommen, schreien. Irgendwann kommen sie nicht mehr. Andere kommen, schreien.
Du gehst nicht aus der Fülle heraus, die es dir ermöglicht deine Fähigkeiten zu üben und zu erweitern, du gehst dem Ersticken zu entkommen, der Aushungerung, dem hermetischen Schweigen, dem Brand. Solange du noch über etwas verfügst, das dich vom Gehenmüssen abhält, vom Gedanken daran schon, gibst du es dafür aus, sogar dich selbst.

Ich finde Notizen, die noch in keinem Zusammenhang stehen. Wie viele Zeilen durchgestrichen sind, nicht mehr zu entziffern. Wovor fürchte ich mich? Noch einmal mit meiner Lächerlichkeit, meinem Selbstmitleid konfrontiert zu werden? Mit dem, was ich sehe? Dass jemand das Heft aufschlägt und sieht, was so nicht für ihn bestimmt ist? Ich sperre ganze Seiten hinter Tuschegitter, decke schwarz, weiss, rot ab, reisse heraus.

Ich kann das Gesicht nur schwer fassen. Immer wieder radiere ich es aus. Man hat ihnen ihre Gesichter genommen. Sie haben keine Gesichter mehr. Ich gebe dem Etwas rote Lippen, lege über manches eine weisse Lage, kratze das Weiss wieder ab, zeichne hinein, decke wieder ab, kratze weg.
"Ich finde das Gesicht nicht", sage ich, "obwohl es dasteht." "Kannst du den Kontakt nicht herstellen", fragst du. "Der Kontakt liegt hinter den Gesichtern, kommt von jenseits des Bannes der Gesichter. 'Geh!', sagen sie. Es drehte und dreht ihnen die Augen weg."

 

Heidelberg. September.
1953 werden Flüchtlinge und Umsiedler hier in Wohnblocks gepfercht, die die Stadt mit Geldern vom Bund im Schatten der Gasfabrik, des grossen grünen Kessels, für sie baut. Sie stehen noch immer da. In den Baracken am Anfang dieser Strasse, einer Mulde, gibt es, als wir und wie wir viele andere in der Bundesrepublik umgesiedelt werden uns einen zweiten, besseren Start zu ermöglichen kaum einen Mann. Kleinere und grössere Verbrecher, sind die Männer im Gefängnis. Der Anfang der Strasse heisst im Volksmund 'das Loch'. Die Gasfabrik samt Kessel ist jetzt abgerissen, im Loch stehen moderne Baracken. Die Strasse atmet noch immer Misstrauen aus. In unserer winzigen Dreizimmerwohnung, in der wir gegen Ende unserer Zeit da mit der frisch aus der DDR geflüchteten Familie der jüngeren Schwester meiner Mutter zu elft wohnen - zwei Väter, zwei Mütter, sechs Kinder im Alter von vier bis neunzehn und eine Grossmutter und im Sommer noch ganze sechs Wochen unsere Grosstante, die Souffleuse -, wohnen jetzt Roma. Damals stehen ihre Wagen auf dem Hof.

Mein Vater lässt seine Rente kapitalisieren, baut ein Haus im Pfaffengrund, wir ziehen weg aus der Strasse mit dem Loch, ziehen alle in das neue Haus mit dem grossen Garten. In zwei Etagen dieses Hauses, das Erdgeschoss müssen wir, wegen Sozialkredits, vermieten. Da zieht ein Krüppel aus dem ersten Weltkrieg mit seiner Frau ein. Irgendwann bekommt die Familie meiner Tante eine eigene Wohnung. Meine Mutter wohnt noch immer in dem Haus.

Jeden Morgen zieht mein Vater sein Holzbein an. Er hat jetzt eine Saugprothese. Oft helfe ich ihm dabei. Die Luft in Heidelberg ist heiss und feucht. Meine Mutter nicht kräftig genug. Bei Witterungsumschlägen wird er von elektrischen Schocks erfasst. Der Stumpf mit dem Holzbein daran knallt von unten gegen die Tischplatte. Sein Gesicht glättet sich. Wir decken den Tisch noch einmal. Es kommt vor, dass er sich einbeinig auf Krücken durchs Haus schwingt. Einmal setzt er die Krücke, in Gedanken versunken, verkehrt auf, kollert die Treppe runter. Stille. Herbeigestürzt, starren wir auf den Zusammengerollten mit den herausragenden Krücken, eingekeilt auf dem Treppenabsatz. "Lacht!", befiehlt dieses Etwas mit den staksigen toten Fühlern.

Der Krüppel des Erdgeschosses, Herr L. aus den Sudeten, hat keinen Stumpf mehr. Jeden Tag schnallt er sich ein Lederkorsett mit einem Bein daran um. Mit dem Schuh ohne Falte. Mit dem wieder Abschnallen des Korsetts verliert er auch seine kolossalen unförmigen Frauenhüften. Auch er wird regelmässig von elektrischen Schocks erfasst. Er ist beinahe taub. Wenn er etwas hören will, steckt er sich eine Trompete ins Ohr, richtet sie auf den Mund des Sprechers. Der Bass seiner Frau dröhnt durchs Haus. Zu Weihnachten, Silvester, Ostern und Pfingsten sitzen sie in der guten Stube. Dann erklingt das 'Horst-Wessel-Lied'. "Noch immer", sagt mein Vater. Zu Silvester trinken sie Sekt. In diesem Sekt schwimmen kleine rosa Marzipanschweinchen. Immer schwarz gekleidete Frauen mit schwarzen Kopftüchern kommen zu ihnen: geborene Witwen mit schmerzhaft wehem Lächeln. Sie haben alles gehabt. Ihre Worte kommen in einem fremdartigen Singsang. Ganze Reihen von Kirchenbänken sind voll von ihnen. Die meisten sind dick. Sie können köstliche Kuchen backen.

Die langen Sonntagnachmittage mit Mensch ärgere dich nicht, Fang den Hut, Doppelkopf, Rommé, Canasta. Es gibt kein Entweichen aus dieser erdrückenden Normalität in Sonntagskleidern, die wir im Sitzen nicht zerknittern dürfen, zwischen Kaffee und Kuchen und Abendessen. Nur das Klo. Das Ziehen der Karten ist stundenlang die einzige Bewegung. Wir stürzen uns auf sie. Manchmal färbt sich das Gesicht eines Verlierers rot. Jeder Anflug eines Decolletés wird mit Tüchern verdeckt. Der Anflug eines Lidschattens bringt uns ein zischendes 'Solch Eine' ein. "Die Leute sollen wohl denken, dass unsere Tochter Solch Eine! ist."
Diese Normalität, die nur Ruhe will, nirgends anecken, nicht angeeckt werden will, ist zäh, unerbittlich, verstümmelt das Herz. Und wenn wir sagen: "Es schmerzt mich", sagt mein Vater: "Was weisst denn du von Schmerz!" Wir haben keinen Schmerz zu haben: wir haben keinen Schmerz.

Die Augen meiner Mutter sind anders geworden. Sie nimmt die Blätter in ihre knotigen Hände. Ganz behutsam. Blatt für Blatt. Ich wasche diesen kleinen schrunzligen Leib, massiere ihr die bröseligen Glieder, den verhärteten Nacken, die Arme, Beine, Füsse, Hände. "Die Zeichnungen strahlen", sagt sie.
1985 laufe ich mit ihr in Brüssel durch die Ausstellung meiner Radierungen aus meiner Begegnung mit Schulz, meiner täglichen Blätter, meiner Bilder und ersten Menschen nach Menschen. Manchmal kann sie nicht mehr hinschauen, läuft abgewendeten Blickes dran vorbei. Schreit auf. "Das eine kann ich dir sagen", sagt sie, etwas ruhiger geworden, "hätte ich den Glauben an meinen Gott nicht gehabt, ich hätte jene Zeit nicht überstanden." Bei meinem 'Karneval' in Bochum, im Oktober 1988, sitzt sie in der ersten Reihe, liest, wieder zuhause, das Buch Hiob. Liest die ganze Nacht meine Texte, bis sie Wort für Wort durch ist. Jetzt will sie lesen, was ich schon geschrieben habe. "Du hast es doch bei dir." Natürlich weiss sie, dass ich es bei mir habe. Victor schaut sie an: "Nein", sagt er, "sie hat ja gerade erst angefangen." Für die Ausstellung in Brüssel steckte sie mir Geld zu und für diese Reise wieder. Immer wieder hilft sie mir dann, ungefragt, über die drohende Unmöglichkeit hinweg.

 

Israel. Dieser Teil der Reise ist anders, steht in meinen Notizen, jemand sagt: "Komm!" Den letzten Brief schreibe ich diesem Jemand zehn Tage bevor ich abfliege: dann komme ich in Tel Aviv an, dann fliege ich wieder ab. Seit M New York Ende letzten Jahres verlässt um nach Israel zu gehen, habe ich nichts mehr von ihm vernommen.
Mit unserem Aufeinandertreffen im Spätsommer letzten Jahres fängt diese Reise an. Die Zusammenhänge? Was soll's. Unter den Blicken meiner dann direkt unter der Decke hängenden Menschen nach Menschen erfahren wir zwei uns in Mark und Bein erschütternde Stunden, beide. Nichts Besonderes. Wir schauen meine Zeichnungen durch, meine Notizbücher. Sprechen. "Schulz' Mörder lebt", sagt M.
Von Dezember an übernimmt er einen Job in Israel. "Da ist ein Haus, das dir offen steht", sagt er. Minuten, es sind ganze Ewigkeiten, stehen wir schweigend Auge in Auge, gelähmt. Der Film seiner Gestalt in mir durchschneidet meinen Leib. "Sei stark", sagt er. Bevor er aus dem Haus tritt, setzt er seine Sonnenbrille auf.
Einmal noch sprechen wir am Telefon miteinander. "Wir sind verwandt ('kindred')", schreibt er ein paar Tage bevor er sich nach Israel aufmacht, "unsere Begegnung ist wahr...", und gibt mir seine Anschrift in Israel. Es gibt Wunder, denke ich und sage es dir. Ich schreibe Briefe an diese Anschrift.

 

Schiphol.
Haben Sie Familie in Israel?
Sind Sie Jüdin?
Der Name Ihres Vaters?
Ist das Ihre erste Reise nach Israel?
Was tun Sie da?
Wen kennen Sie da?
Namen, Adressen!
Woher haben sie die Namen, die Adressen?
Wo wohnen Sie da?
Ist dieser Rucksack ihr Eigentum?
Wie lange haben Sie ihn schon?
Wann haben Sie ihn gepackt?
Hat Ihnen jemand dabei geholfen?
Wie sind Sie hergekommen?
Hat jemand Sie gebracht?
Warum nur bis dahin?
Ist jemand, den Sie kennen, in der Halle?
Hat jemand Ihnen etwas gegeben?
Geschenke?
Von anderen für andere?
"Zeichenblöcke."
Was wissen Sie über jüdische Feste?
Kein Blatt bleibt unangefasst. Und dann tasten sie meinen Leib ab.


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