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DEUTSCHLAND 2

Tusch! Die kleinen sehr runden spät gewachsenen Brüste schütteln. Federn, Roben, Schenkel, Fesseln. Er schüttelt, schüttelt den Körper. Die Pumps sind sehr hoch. Die Bühne klein. Chansons vom Band zum sich Öffnen klangloser Münder und fest an die Körper gebundene Penisse.

Die schweren Stiefel in der hängenden Hand. Barfuss. Steigt in die S-Bahn. Setzt sich in den Schneidersitz, stellt die Stiefel vor die Bank. Sitzt da. Keine Regung. Ist jung. So mager. In Schwarz.

"Berlin wird eine normale Stadt in einem normalen Land." "Berlin: das Ende einer anstössigen Insel in einem anstössigen Staat." Berlin tut weh. Seine brachliegenden Flächen, der kahle Streifen, wo die Mauer jetzt weg ist, mit, auf östlicher Seite noch, den extra Streifen ehemaligen Niemandslandes. Mauerreste. Ein Terrain voller Mauerbrocken. Die Synagoge in der Oranienburger Strasse wird renoviert, auch die Museumsinsel, das Zeughaus, der Dom. Die grosse Leere des Potsdamer Platzes. Im Osten ist Kirmes, ist Mittelalterfestival, gibt es ein Gauklerfest: Würstchenbuden, Zuckerzeugbuden, Eis, Bier.

Der Film über den Malermönch von Andrzej Tarkowski, das sind vier Stunden Russland.

 

Mein Vetter - versuchte Republikflucht, ganz früh schon -, seine Frau, meine Kusine (seine ältere Schwester), meine Tante (die ältere Schwester meiner Mutter). Heute ist mein Vetter fünfzig. Vor zwei Jahren zermalmt ihm ein aus seinem Stand rollender Traktor die Beine: Materialverschleiss. Die Brüche wollen nicht zusammenwachsen.
Sessel, Couch, Couchtisch, Glasschrank, Fernseher.
"Mein Man", sagt meine Tante. Sie hat nur einen Zahn. "Die Russen haben uns nichts getan, die Polen!" Es geht um Essen, Geld, Versicherungen. "Zwölf, dreizehn Schuhgeschäfte", krächzt meine Tante, "alle West." Torte. Sahne. Kaffee. Cognac. Der Tisch ist im Garten gedeckt. Die stark taillierten Kleider. Tassen, Untertassen, Kuchenteller, Plätzchen. "Mein Mann mochte die Russen. Dann musste er zum Westeinsatz, ein Krüppel. Wir waren doch nur Menschen zweiter Klasse. Wir sind doch nur Menschen zweiter Klasse. Wir werden doch immer nur Menschen zweiter Klasse sein." "Für die Alten ist es schlimm", sagt meine Kusine, "Mutter ist schon wirr im Kopf." Ihr einer Zahn. Ich kenne sie nur einzahnig und widerwärtig dick. Jetzt ist sie dünn. Meine Kusine hat immer in dem protestantischen Kindergarten gearbeitet. Die andere Schwester ist im Westen, im Kloster. "Zwölf, dreizehn Schuhgeschäfte. Alle West." Das blecherne Lachen der roten propren Prallen aus West, hinter nackten Zähnen. Das bestimmende Greifen ihrer Arme, hohe Gequake aus dem über den Tisch hingestreckten, in den Nacken geworfenen Kopf. Und wieder das blecherne Lachen. Sekt. Für die Herren Bier. Punsch, Eis, Orangensaft, Wodka. Die bunten Lampen gehn an. Einer holt sein Schifferklavier.
"Mäuschen."
"Was soll ich sagen."
"Wie gesagt."
"Zwölf, dreizehn Schuhgeschäfte.
Dit freut ma aber.
Mein Mann."
Ihre Angst etwas nicht perfekt zu tun, es dem anderen nicht recht zu machen, ist Angst vor des anderen Züchtigung. Diese Verkrampfung zu lebenslänglich schraubt sie im Alter fest, lässt sie unkontrollierbar zittern, zu tödlicher Perfektion, Kirche, Alkohol greifen.
"Oh, Heideröschen nimm dich in acht..."
Salate, Fleisch, Käse, Brot.
"Wenn in stiller Stunde Träume mich umwehn, bringen frohe Kunde... ungesehn... reden... Pommerland..."
Mit dem Rümpfen der Nasen werden die Oberlippen mit angezogen. Bemerkungen in der Nähe von Zweideutigkeiten lösen fettes kreischendes beinahe hustendes Lachen aus.
"Oh, wie ist es am Rhein so schön."
"Ein Prosit! Ein Prosit der Gemütlichkeit!"
Hier, in einem Zimmer unterm Dach, hat Barbara ihre ersten sechs Berlin-Wochen, Potsdam-Wochen, verbracht. Wir müssen gehen. Sie bringen uns bis an die Strasse. "Dass ich dich noch gesehen habe", sagt meine Tante, "ganz die Trude, nun guck doch mal." Ich umarme sie fest, und den Vetter auf seinen Krücken und die Frau, die Kusine und den Hund.

 

Heute Nachmittag kommt Victor. Er bleibt ein paar Tage. Ich fahre noch in die Stadt. Ich darf vom Informationszentrum aus anrufen. Wieder hat diese Frau Zeit für mich. Gleich morgen die zwei Gespräche auf meiner Suche nach Geld für die Schulz-Büste. "Es ist unwichtig, dass ich es selbst nicht so täte." Sie schaut sich meine Zeichnungen von unterwegs an, sorgt für Kopien meiner Nachweise. "Bitte", sage ich, "hätten Sie vielleicht eine Kontaktadresse in Israel für mich." Das Du kommt erst später. Sie gibt mir die Adresse einer Freundin in Tel Aviv. "In einer Woche kommt eine Gruppe Israelis, ehemalige Berliner, nach Berlin. Wenn Sie dabei sein möchten, bei der Stadtrundfahrt?"

Victor und ich ziehen für drei Nächte in ein Hotel ganz in der Nähe von Barbaras Wohnung. Bis zur Wende ist es Sporthotel, geführt von der Stasi. Alle Wanzen sind entfernt. In den guten Stuben der Appartements - diese Appartements sind damals den Gruppenleitern vorbehalten - stehen Couches, Sessel, Glasvitrinen, Schrankwände, Farbfernseher, liegen Perserteppiche vom Band. Man zielt auf die Mittelschicht. Wirtschaftsaufbauhelfer, Vertreter, Umschulungsleiter und -teilnehmer. Ganze Busse Touristen werden in den minderen Wohneinheiten, ohne gute Stube, untergebracht; die Umschulungsteilnehmer auch. Der Frühstücksraum ist noch immer Jugendherbergskantine, die Hoteldirektion von damals abgesetzt. Das Hotel hat nichts Anziehendes, weder von aussen noch von innen.

 

Schulz. Die Büste. Das Geld.
Das erste Gespräche. Jemand, der kurz reinschaut, sagt: "Es ist leichter 100 000 Dollar als 3 000 zu erbetteln." Dann reiche ich dem Mann, dem ich mein Anliegen unterbreite, meine Zeichnungen von unterwegs, meine Tagebücher, die Fotobüchlein meiner Figuren und Bilder. "Es schimmert immer ein Gesicht in den Zeichnungen durch", sagt er. "Vielleicht meins", sage ich, "was da steht, kommt durch mein Gesicht, ist behaftet mit meinem Blut, meinem Atem."
Als er im April dann noch einmal alle Zeichnungen durchschaut, auch die aus Israel, sagt er: "Der Tod spielt mit, alle deine Zeichnungen reichen an den Tod. Vielleicht klingt das komisch, das gibt mir Mut." Er streift sich das Haar aus dem Gesicht, wirft den Kopf zurück.

Vielleicht ist es das Gesicht der Einsamkeit. Liebe, Kunst machen einsam. Einsamkeit grenzt an Tod. Die Grenze mit dem Tod ist die einzige, die untrennbar mit dem Leben verbunden ist. Du kannst dich nicht über sie hinwegsetzen. Sie durchbrochen zu haben, heisst nicht mehr am Leben zu sein. Ihre Antwort ist immer Schweigen. Ich bin sicher, dass es diese schweigende Grenze ist, die uns zeichnet, sehen und zeichnen lässt. All unsere Antworten, Reaktionen, liegen diesseits dieser Grenze. Kunst schaffen, Liebe, diese Zustände im Bereich der Auflösung der Zeit, kennen keine Häuser, da gibt es keinen Schutz, spürst du den Wind von da.
Das zweite Gespräch. Wieder packe ich aus. "Wollen Sie damit nicht nach Berlin." "Ich will." "Sie müssen nicht enttäuscht sein, wenn es nicht klappt, es lässt sich kaum irgend einfügen." "Enttäuscht sein ist ein tödlicher Luxus." Der Mann zieht den Rücken nach vorn, verschränkt seine Beine, verschraubt den Kopf zwischen den Schultern.

Der Führerbunker ist nicht unter dem Erdhügel, auf dem die Leute einander fotografieren, er ist unter den Wohnblocks, unter dem Spielplatz vor den Wohnblocks.

 

Hennigsholm. Wir fahren in die Wälder östlich Stettins. Ich will Victor die Wälder meines herrlichen Sommers inmitten von Krieg zeigen, ihn sie riechen lassen. Das Behelfsheim steht längst nicht mehr. Auch damals war der Sommer so heiss. Wir bringen mein grosses Gepäck zu Barbara. Bis zur letzten S-Bahnstation kommt sie mit. Sie ist in Urlaub, wenn wir zurückkommen. Nach diesem Ausflug wohnen wir, wohne ich wieder da.
Die Grenzdurchfahrt nach Polen verläuft zügig. Wir finden Hohenkrug (jetzt Struga), die ehemalige Papierfabrik, die die Feldmühle damals da baut, was meinen Eltern erlaubt mit ihren Kindern Berlin zu verlassen, kurz bevor mein Bruder zur Hitlerjugend muss. Da in den Wäldern gibt es keine Hitlerjugend. Mein Vater wird wieder eingezogen, nach Dänemark.
Nach der ehemaligen Papierfabrik fahren wir links in den Wald, kommen nach ein paar Biegungen links an einem gelben Schloss vorbei. Ich kann mich nur an den Bäumen festhalten, dem Geruch - der stimmt. "Links", sage ich. "Weiter. Hier, irgendwo hier." Ich frage einen Polen in seinem Garten, ob er vielleicht von jenem Hennigsholm wisse, zeige ihm auf der Kopie einer alten Karte meiner Mutter, wo es lag. Er holt eine neue polnische Karte. Es muss hier sein, ungefähr. Wir dürfen unser Auto auf sein Grundstück fahren. Ich habe keine hohen oder besonderen Gefühle. Diese Sandpfade, Kiefern, Birken, Brombeeren, ihr heisser Atem. Es existiert, ist kein Phantom in mir.
Unter dem Pfad rinnt ein Bach durch. Wir laufen weiter. Dann kehren wir um. Bei einer Gabelung sage ich: "Wir liefen immer einen anderen Weg zurück, vielleicht diesen." Wir nehmen diesen anderen Weg. Victor geht vor, kann nicht weiter. Der Bach. Meine Arme breiten sich aus: "Wir liefen immer so rüber." Da liegen Brocken Mauerwerk im Wasser: eine Schleuse. Über der Schleuse lag damals ein Brett. Die Schleuse ist noch da, kaputt.
"Bitte", sagt der Pole, "trinken Sie Kaffee mit uns." Er führt uns ins Haus, in die gute Stube. Vielleicht sind es die breiten alten Bohlen, die einen Geruch von früher in mir aufkommen lassen. Der Fernseher, die Schrankwand. Er hat jahrelang im Sudan auf Baumwollfeldern gearbeitet. Seine Tochter, seine Enkelin, seine Frau. Die Frau stellt Tassen hin, bringt den Kaffee und Pralinen.
Wieder weg, über den Hinweg. Nichts ist mir mehr zuwider als über Hinwege wieder weg zu müssen. Ich fühle mich wie ein Eindringling. Wir halten noch einmal. Steigen aus. Ich zeige Victor Gartenvegetation, wo kein Haus mehr steht. Vorm Schloss halten wir noch einmal. Ein Foto für meine Mutter. Hinter uns halten zwei Autos mit deutschen Nummernschilden. Sie fahren schon einmal an uns vorbei. Zwei Männer, drei Frauen. Eine der Frauen ist alt. "Aber Kinder, es muss hier sein." "Hennigsholm liegt da", sage ich. Sie drückt mich beinahe kaputt. Weint.

Ich liebe solche Wälder. Die in Brabant sind so. In Brabant liegt kein Wermut in der Luft, kein Salbei. Der Sandboden mit den schon braunen Kiefernnadeln federt. Die Nadeln tun den blossen Füssen nicht weh, sind ganz sacht.

Nach der deutschen Kapitulation kommt der Mann dieser Frau wieder her, arbeitet noch ein Jahr lang unter Polen. 1946 werden sie ausgesiedelt, nach Kiel. In derselben Zeit wie die Stiefmutter meiner Mutter. Der Vater meines Vaters stirbt kurz vor der Aussiedlung. Seine Frau, die junge Stiefmutter meines Vaters, für uns Tante Erika, sitzt fünf Tage neben seiner Leiche. Die wird dann, im Rahmen des Abkarrens aller möglichen Leichen, abgekarrt. Auch Tante Erika geht nach Westen.
Als wir jene Wälder meines schönen Sommers inmitten von Krieg im Februar 1945 verlassen, reicht der Schnee höher als ich. Ich mag keinen Schnee.
"Verdammt", sagt der Sohn der alten Frau, "warum habe ich meinen Spaten nicht mitgenommen." Damals vergraben sie ihre Reichtümer im Garten hinter ihrem Haus.
Damals beschliesst der Ort gemeinsam vor der aufrückenden Russenfront wegzugehen, am nächsten Morgen. Am nächsten Morgen sind die anderen schon weg.

Das irre Glücksgefühl der schwirrenden Hitze, des heissen, trockenen Kiefernatems, des Waldbodens, über den ich damals mit blossen Füssen laufe, mit meinen Händen drin grabe, Gräser zupfe, mich suhle...
1979, auf meiner ersten Polenreise, finde ich in Szczecin das Haus meiner Mutter. Ein alter Freund, der geblieben war, sagt mir, wo ich die Strasse finde, ich weiss die Hausnummer nicht, will nur durch die Strasse. Weiss auf einmal: hier ist es. Finde auch noch die Bäckerei und das Schuhgeschäft, wo meine Mutter damals braun/gelb karierte Hausschuhe für mich kauft, mit Leiterverschluss. Jetzt weiss ich die Hausnummer und den polnischen Namen der Strasse. "Mariana Bucka", frage ich einen. Es ist gleich um die Ecke. Die Strasse ist jetzt nach Pilsudski genannt. Bis zum Einzug der Polen hiess sie 'Friedrich Karl Strasse'. Wir stehen gegenüber der Nummer, die ich jetzt weiss. Auf den Balkons, in den Fenstern zeigen sich Menschen voller abweisender Neugierde, glimmen in der Sonne. Ich kenne das Haus nicht. Vielleicht habe ich die Nummer nicht gut behalten. Ich fotografiere es. "Nein", sagt meine Mutter, als ich ihr das Foto zeige. Die Menschen bleiben auf ihren Balkons, hinter ihren Fensterscheiben, bis wir wieder ins Auto steigen, abhauen. Jetzt kommen viele Deutsche her wie nach Schlesien, nach Ostpreussen. Sie wollen ihre Strasse sehen, ihr Haus, ihre Gräber.
Vor zehn Jahren kommt die ältere Schwester meiner Mutter her, die Einzahnige, die jetzt immer den Satz von den zwölf, dreizehn Schuhgeschäften herauskrächzt. Man bespuckt sie. Dann zeigt man ihr ihre Kindheitswohnung doch. Alle Möbel sind noch da. Der Schneidertisch meines Grossvaters. Alles, wo es gestanden hatte.

 

Swinemünde. Wir fahren östlich des Haffs nach Swinemünde, Swinoujscie. Setzen mit der Fähre über, finden in dieser 'Perle der Ostsee', gegenüber dem Jachthafen, ein Hotel. Ein altes Hotel. Die Etagendusche ist dreckig, das Etagenklo auch. Beide stinken; darüber das Lysol. Victor ekelt sich, ist empört. Ich ekele mich auch. Ich bin nicht empört. Ich mache die Dusche soweit sauber, dass wir duschen können. "Unten sitzen sie, quatschen, rauchen, anstatt die Dusche sauber zu machen", sagt er.

Im Restaurant des Hotels wird kein Essen mehr serviert. Der Kellner gibt uns eine Adresse. Die alten Häuser verfallen zu Löchern. Traurige Strassen. Im Rotwein schwimmt Eis. Zwei Romnija kommen, setzen sich an einen der Tische, trinken Tee, starren mich durch den Raum hin an, winken mir zu. Die Alte sieht hell. Nachts schaue ich aus dem Fenster. Da stehen sie in der Anlage am Jachthafen, schäkern mit den Männern.

Frühstückszeit ist erst in anderthalb Stunden. "Wieder sitzen sie da, quatschen, rauchen." Wir warten nicht aufs Frühstück, bezahlen, gehen, kaufen in einem Supermarkt Brot, Schinken und Mineralwasser. Das alles stellt sich als nicht sehr schmackhaft heraus.
"Das so Umgehen mit Zeit, der eigenen, der des anderen!" "Mit der im Westen herrschenden Zeitordnung gehst du östlich der Oder zugrunde."

Die Grenze ist noch oder sowieso für den Durchgangsverkehr geschlossen. Victor spricht mit dem Leiter des polnischen Grenzpostens. "Choland!" Wir dürfen durch. Auf der deutschen Seite der Grenze sind Strassen und Orte sauber. Der Unterschied ist offensichtlich. In einem der Badeorte trinken wir unseren Morgenkaffee.

'Wiege der Raumfahrt' steht am Eingang des Barackenkomplexes, wo Wernher von Braun in Peenemünde für das Nazi-Regime Raketen baute. Den Dünenstreifen gleich hinter der Ostsee verminte man kilometerweit. Nicht alle Durchgänge sind schon freigegeben.
Zwei Stunden Strand. Ich döse in der Sonne. Gehe weit raus ins Meer, bis weit raus ist es flach, schwimme.

 

Stralsund. Tafeln verkünden, dass es zu den Städten gehört, die vorrangig restauriert werden. Hier bleiben wir heute nacht.
Auf dem Tisch im Hotelzimmer liegt ein Brief an die Gäste: "... Das Haus wurde von der ehemaligen HO (Handelsorganisation) im April 1991 in äusserst desolatem Zustand übergeben. Jahrzehntelange Planwirtschaft haben das einst exklusive gediegene Hotel in ein Objekt der untersten Niveauklasse heruntergewirtschaftet."
Wir schlendern durch die Stadt, essen im 'Schelen Haus', ein Haus aus der Zeit der Hanse. Es ist schön, ruhig, geräumig, hoch, das Essen lecker, der Wein mundet.

Rügen im Regen. Alte Frauen in Türen, diese dunklen Frauenklumpen vor dunklen Löchern wie überall auf dem Lande.

Und wieder nach Berlin. Die Städte unterwegs, ohne Baudenkmal-Status, ohne vorrangige Behandlung. All die noch offenen Kriegswunden, in die Wohnblöcke geknallt sind. Wie Krieg brandschatzt, und am meisten die Menschen. In neuen Schaufenstern stehen neue Puppendamen.
In Neu-Brandenburg gehen wir in ein Café, ein neues Café. Frauen in Röcken, guten Kleidern, Männer in Anzügen, etwas steif: nur nicht anecken. Pasteten, Kuchen, Tee, Kaffee.
Ravensbrück. Sachsenhausen. Oranienburg. Die unmittelbare Nähe dieser Konzentrationslager zu Berlin wird mir erst jetzt bewusst. Dass das Städte sind, durch die man durchkommen kann.

 

Berlin. Ich bin wieder allein. Zeichne, schreibe auf. Fahre in die Stadt, sitze in einem Café, schreibe weiter. Sehe mir zwei Filme an, der zweite zeigt das Leben der Roma, der Zigeuner. Die Wirklichkeit ist erbarmungsloser, roher, steht abseits solcher Farbenpracht, ist kein Epos, kein wunderschönes Celluloid.

 

Gorbatschow ist abgesetzt. Panzereinheiten bewegen sich gen Moskau. Die Luft in Berlin zieht sich anders zusammen, die Menge sich anders zusammen. Die so homogenen Gruppen vor Bahnhof Zoo lockern sich, jeder stellt sich zu jedem, spricht jeden an.
Roma liegen vor den Warenhäusern.
Ich fahre zurück in die Wohnung, schalte den Fernseher ein, zeichne, bis ich über dem Blatt einschlafe. Zeichne vom frühen Morgen an weiter. Laufe durch die Stadt. Von Ost nach West und West nach Ost, als müsse ich meine Stadt zusammenstopfen.
Ob es der Regen ist, der Schulanfang oder der Putsch in Moskau, im Ostteil sehen die Menschen wie geschlagen aus.
Panzer
brennen.
Der beklemmende Film auf ihnen, den ich von früher her kenne, schliesst ihre Gesichter wieder ab. Sie verkaufen Wurst und Käse wie vor dem Wochenende. Die Unterlippe ist etwas straffer geschürzt. Sie lächeln dumpf: "Das hätte auch hier passieren können", senken die Augen, die Köpfe. Einer fummelt seinen Mund weg. Das Gesicht, das mit mir spricht, schaut mich nicht an. Es weint, aber lässt keine Träne durch.
S-Bahnhöfe voller Graffiti.

Wieder bin ich im Bahnhof Friedrichstrasse. Dass ich die Gänge, die Räume der Erniedrigung nicht finde! Nicht mehr finden kann, wie sie verliefen. Ich gehe zum Fernbahnsteig, zum Bahnsteigvorsteher. "Bitte, wo sind die Hunde? Wo standen sie jedes Mal, bis wo?" "Die Zwinger, in denen die Schäferhunde jedes Mal bis zum nächsten Zug verblieben, sind noch da, auch die Hochgalerien, auf denen die Vopos standen..." - das Gewehr im Anschlag. Die Gänge, durch die sie die Menschen schleusten, sind weg. Von den vermaledeiten Schaltern, den dreimal erniedrigenden, aus denen die Hände kamen, die starren lautlosen Gesichter, keine Spur. Die Wände, zwischen denen sich das alles abspielte, haben Wunden. "Alle Bahnbeamten von damals sind weg, ich bin erst ein Jahr hier. Die Hunde haben sie sofort verkauft. Gorbatschow? Schlafen tue ich heute Nacht nicht. Ich hoffe, die in Moskau haben genügend lange Freiheit geatmet um sich nicht wieder zurückreissen zu lassen."
Als mich der Mann der toten Tänze 1980 in Warschau fragt, ob sich seit Solidarnosz etwas verändert habe, sage ich: "Die Menschen im Zug lachen." Er schneidet mir barsch das Wort ab: "Das ist kein Lachen. Und wenn morgen die Panzer in den Strassen stehen?" Ich antworte ihm: "Auch wenn sie nur drei Tage lang frei heraus lachen, dieses Lachen nistet sich ein, sie vergessen es nie." Das Getto überlebt er. Kurz bevor Jaruzelski die Zügel lockert, stirbt er.
Der Zug nach München fährt ein. Der Bahnsteigvorsteher setzt die Uniformmütze auf, nimmt die Kelle in Hand. Noch immer schreit dieser Bahnhof mich kalt in mich zurück.

Ein einziger Strich verändert die Haltung, das Bild ganz und gar. Mit einem Strich nur werden aus Untertänigen mit hochgezogenen Schultern, aus alles Hinnehmenden Herrscher, Schläger.

 

Im Frühjahr 1987, am Ende meiner letzten Polenreise vor dem Fall der Mauer, treffe ich sie zum ersten Mal. Die Kontrollen sind schärfer, erniedrigender denn je. Als ich um 12 Uhr Ausgang Friedrichstrasse Ost stehe, steht auch sie da, mit der Weltbühne in der Hand. Übel vor und von den Kontrollen, der Macht, die Menschen über Menschen, über sich selbst ausüben - im Zug nach Warschau, im Zug von Warschau nach Westberlin, dann in diesen Gängen der Erniedrigung zwischen den Wänden von Bahnhof Friedrichstrasse und sowieso -, kann ich mich kaum noch auf den Beinen halten. Ich schreibe dir das damals schon. Bis 10 Uhr morgens kotze ich von allem und mir, spucke nur noch Galle. Ich konnte nicht einfach zu ihr hin, Klein Machnow ist nicht Berlin.
Dann warten wir vor Ampeln, nur weil sie auf Rot stehen, sitzen im Café gegenüber dem roten Rathaus, stehen vor den marmornen Riesen Marx und Engels: "Die Kinder spielen gern auf ihnen", laufen durch die renovierten Gassen zwischen Rathaus und Spandauer Strasse. "1945 komme ich mit meiner fünfjährigen Tochter, von östlich der Oder kommend, in Berlin an. Ich und der Kinderwagen mit dem Kind. Ich suche und finde in diesem Trümmerhaufen ein Dach über dem Kopf. Kann bei der Weltbühne arbeiten. Ich glaube an die kommunistische Idee. Ich wohne West, die Redaktion ist Ost. Das ist in jener Zeit noch ohne weiteres möglich. Dann wird denen, die West wohnen und Ost arbeiten und auch bezahlt werden, der Lastenausgleich gestrichen. Ich muss mich entscheiden. Ich ziehe in den Osten."

Nach dem Lesen von Texten von mir schreibt sie mir: "... aber für mich geht das Wort vorrangig über den Verstand, und erst von dort weckt es Gefühle und löst Gedankenketten aus..."
Im Anfang ist der Schrei und dann sein ungleicher Bruder der Ruf.
"Der Kommunismus nimmt uns ja kollektiv die Schuld am zweiten Weltkrieg. Dass man Worte fühlen, schmecken kann, davon wenden wir uns eher schon radikal ab. Das bringt nur Elend und die vom Verstand ausgerichtete, dem Guten verschriebene Struktur der Lebensform in Gefahr."
Es werde Licht und es ward Licht! Der Mensch sei gut, tauglich, passe in das Baugefüge einer Gemeinschaft, und er ist gut, tauglich, passt. Die Zukunft ist so, auch wenn sich das So nicht so entpuppt.
Du sollst den Herren, Deinen Gott, lieben! Dein Gott ist gut!
Liebe lässt sich nicht gebieten, hat nichts mit Sollen und weil zu schaffen. Du liebst und weisst nicht, wo hindurch, wohin dich das führt. Mit diesem nicht zu gebietenden Gebot, gekoppelt an Gutsein, gekoppelt an Gott, handhabt der Mensch einen fiktiven erhabenen Grund ausserhalb seiner selbst, stellt Güte unter Beweis.
Mit jedem herausgelösten purifizierenden, nein, desinfizierenden Gedanken, aus herausgelöstem desinfizierendem Gedanken - Giftpfeilen mit aufgespiessten Schädeln gleich, über die wir unsere Köpfe schütteln - steckt der Mensch sein Territorium immer wieder ab, dämmt es, ganze Teppiche abgetöteten ausgeräucherten Fleisches ins Feld führend, immer unerbittlicher ein. Nicht alle sind tot. Resistenz immunisiert.

Sie und ihr Mann holen mich in Klein Machnow an der Bushaltestelle ab. In weisser Hose mit Reissverschluss hinten, weissem Pullover, weissem Blusenkragen, rund, mit Rüschen kommt sie auf mich zu. Eine Folie zieht in mir auf. Die tiefen Mundkranz- und Kinnfalten. Ansonsten ist ihr Gesicht, ist die hohe Stirn glatt. Über die Mitte der Unterlippe zieht sich die Kinnhaut bis ins Mundinnere. Ihr Rücken ist nur ganz oben ein wenig gerundet. Sie ist noch immer schön.
"Früher funktionierte dies und das. Jetzt, der Busverkehr, die S-Bahn, die Postzustellung... auf nichts ist mehr Verlass. Seit wir zusammengedonnert sind." Ich kam und komme nicht dahinter, wie ihre Einstellung damals wirklich war, ob es doch nur das für alle Sicherheit hochgehaltene geforderte Gesicht war, wie ihre Einstellung jetzt ist, wer und wie sie unter dieser Einstellung sind. Immer strahlen sie ihr Gutsein aus.
Sie wohnen in einem Bungalow mit grossem Garten. Der Tisch ist gedeckt. "Kaffee? Waffeln?" Danach zieht er sich zurück. Sie setzt sich mit mir in den Garten. Sie waren privilegiert.
Sogar die Worte in den Mündern anderer biegt ihr Gütesiegel um. Und dann die Bewegungen.
Schon winkeln sich meine Arme an, lächele ich dem hingeworfenen "Na, siehst du!" kopfnickend zu. Schneller als du denkst, stecken deine Hände in Schellen und mit ihnen dein Verstand, zeigt man dir die umzäunte Wüste, gibt dir Förmchen, damit du deine zerriebene Masse Mensch darin garst. "Püppchen!" Was überhängt, wird abgesäbelt. Gibt dir die Perlenkette ihrer Regeln zum täglichen Gebet. Erhebt Kreuzungen zu Kreuzen. Kreuzigt.
Töte nicht, vergewaltige nicht. Lasse den anderen nicht deinen Mörder, deinen Vergewaltiger werden. Unserer Ermordung, unserer Vergewaltigung durch andere können wir nicht immer entkommen. Mit jedem Mord schwillt die Gesellschaft, die Herrschaft der Mörder, mit jeder Vergewaltigung die Gesellschaft, die Herrschaft der Vergewaltiger, die Gleichgültigkeit dem Totmachen gegenüber an.

 

Ich werfe den Schlüssel in den Briefkasten, gebe das Gepäck am Bahnhof Zoo in Bewahrung.
Flatterige Vögel, denke ich angesichts dieser ehemaligen Berliner. Das gespannte Aufgeworfensein in manchen der Gesichter, auch der mageren. Hier gehen sie zur Schule. Von hier aus direkt oder via Auschwitz oder andere Stätten nach Israel, nach Amerika, in andere Länder. "Jede zweite Zigarette", sagt unsere junge Fremdenführerin, "kommt aus Berlin."
Die Marmorblöcke, bei denen wir aussteigen, die die Viehwaggons mit ihrem Gestank aus Todesangst, Hunger und Krankheit symbolisieren. Vielleicht muss etwas dastehen, irgendetwas. Kein Abbild, kein externes Zeichen kann dieses Geschehen je ausdrücken, immer sind Symbole, sogar die zu Symbolen erhobenen Stätten des Geschehens, weit vom herrschenden Wahnsinn da entfernt. Die rostige in den Himmel ragende Stahlplatte mit den Namen von Umgekommenen, Abgeknallten, Vergasten. Da stehen sie, schauen auf die Namen, lesen sie laut. Das laut Lesen der Namen lockert den Film, der sie umspannt. Dann zieht sich der Film wieder zusammen. Manche haben ihre Kinder mitgebracht.
"Mein Mann ist hier geboren, der Schrei von damals lässt ihn noch immer schweigen." Er ist sitzen geblieben, nicht schauen, nicht laut lesen gegangen.
Bei jener denke ich: wie gut, dass ihr Haus nicht mehr steht.
Empfang im Reichstag. Kaffee, Saft. Manche können nicht mehr. Dann drängen sie sich um den Sprecher. Was kann der schon sagen. "Meine lieben..." Eine scheinbar ganz normale Rundfahrt. Eine aus Jerusalem gibt mir ihre Adresse: "Kommen Sie zu mir."

Es heisst uns der Kapitän der IC-Mannschaft an Bord des 'Ricarda Huch' willkommen, erst der Kapitän der Mannschaft der Reichsbahn und von der ehemaligen deutsch/deutschen Grenze an, der der Bundesbahn.

 

Göttingen. Ich wohne in der Jüden Strasse, mitten in der Stadt. Göttingen rüstet sich zum Altstadtfest. Ich rufe meine Mutter an. Gestern begruben sie den Mann ihrer schon toten jüngeren Schwester. Den letzten der alten Garde in ihrer Nähe.

Seinerzeit fliegen die Bomber über diese Stadt hinweg nach Osten. Hier wohnen wir von März 1945 bis November 1953. Hier stehen meine Grosseltern auf der Bühne, bevor sie Mitte der zwanziger Jahre nach Stettin ziehen. Auf dem Friedhof liegen die in Wien geborene Grossmutter meines Vaters, auch eine Schauspielerin, ihr Budapester Vetter, ein Cellist, und eine Halbschwester meines Vaters. Diese Halbschwester, eine frische Kriegerwitwe mit zwei halbwüchsigen Jungen, nimmt uns im März 1945 auf. Fünfmal schmeisst sie uns raus und fünfmal nimmt sie uns wieder auf. "Bei jedem Stunk legst du dich zu ihr ins Bett", sagt meine Mutter, "streichelst sie." Ich kann nichts davon in mir erspüren, wittern. Ihre Söhne wohnen nicht mehr hier. Nur die zwei Kinder des Jüngeren. Alles ist viel weniger weit voneinander entfernt, als ich es in Erinnerung habe. Manches, dessen ich sicher bin, es liege diesseits des Zentrums, liegt jenseits.
Mit unserer Umsiedlung nach Heidelberg im November 1953 fühle ich mich nicht mehr zu Göttingen hingezogen.

Ich fahre nach Friedland, dem einstigen Flüchtlingslager, dann auch Durchgangslager für Spätheimkehrer, jetzt Durchgangslager für deutsche Aussiedler aus dem ehemaligen Ostblock.
"Zehn Tage bin ich hier", sagt der Alte. "Kasachstan. Sie schimpfen uns da Faschisten. Das tut hier niemand. Es gibt da nichts zu essen. 1 1/2 kg Fleisch, den ganzen Monat, die ganze Familie." "Können Sie Kasachisch." "Kein Kasache beschmiert mich." "Heimweh?" "Vielleicht später, jetzt noch nicht."
"Zwei Tage", sagt ein anderer. Die goldenen, die silbernen Zähne der Frauen. "Wo du geboren bist, sollst du auch sterben, sagen die Leut." Er zuckt mit den Achseln, lacht.
"Usbekistan."
"Kasachstan."
Die Öffnungszeiten des Wäschelagers. Zeiten der Gottesdienste und heiligen Messen. Hausschuhe an den Füssen. Manche sind gar nicht hier, nur ihr Fleisch, taub noch.
1953 begrüssen eine Klassenkameradin und ich hier unseren Spätheimkehrer. Klassen übernehmen damals Patenschaften für Soldaten in sowjetischer Kriegsgefangenschaft. Zu Ostern und Weihnachten schicken die Klassen ihren Soldaten Pakete und in gewissen Abständen Briefe. Für zwei Stunden zwei warme Wesen, noch keine Frauen, für jemanden, der spät in ein Land heimkehrt, wo niemand auf ihn wartet, wo er wahrscheinlich nie war, dessen Russisch inzwischen besser ist als sein Deutsch. Mit diesem Empfang ist die Verbindung zu Ende.

In Göttingens Innenstadt kreischt Pop, trieft Volksmusik, stopfen Menschen Essen, schütten Trinken in sich hinein. Kauen. Ich laufe raus in die direkte Umgebung meiner Göttinger Kindheit. Durch die Eisenbahnunterführung, über die Leine Richtung Grone, vorbei am Haus von Herrn Gottmann, dem Milchmann. "Herr Gottmann war Clown, Musikclown". Er trägt eine Fliege. "Seine Frau trug in spärlicher Bekleidung die Nummern der Auftritte durch die Piste." Das erste Revuegirl, das ich zu Gesicht bekomme, ist alt, sein schrunzliges Gesicht fällt in einer Hautschluppe aus seinem Rahmen. Es trägt ein Dekolleté. Anna. Meine erste Piste, die ich betrete, ist ihr Milchladen.
Auf dieser Strasse stecke ich mein Gesicht in dampfendes Brot, es macht mich irr, laufen wir unter Alarm im Dunkeln mit einem Katzenauge vor dem Bauch (einer runden Scheibe mit phosphoreszierendem Innenkreis).
Auf dieser Strasse stehen am 8. April 1945 die Jeeps der Amerikaner. Frauen verbarrikadieren sich kreischend in Kellern. Man kreischt, wenn man befreit wird. Das Dröhnen endloser Reihen schwerer Fahrzeuge. Dann ist es still. Die Ersten, die die Häuser verlassen, sind ganz alte Männer und dann wir Kinder unter acht. Eine stille Parade, kilometerlang Jeep an Jeep. Die Männer darin lächeln uns an. Geben uns Schokolade, 'Chewinggum'. Streicheln uns die Köpfe. Dann fallen die grossen Brüder und Schwestern und Vettern über uns her, nehmen sich ihr Teil. "Ich piesacke dich bis zur Vergasung", sagen die grossen Jungen. Ich sehe meinen ersten Schwarzen in einem dieser Jeeps. Im Weiss des vergangenen Winters stehen Graugesichtige reglos unter Bäumen, die Köpfe beinahe auf der Brust; ihre Füsse erreichen den Boden nicht. Witwen jammern, manch eine schmeisst sich an den ersten Männerhals. So nennt man das. Junge Mädchen bekommen Kinder und haben keinen Mann. Ehemalige Parteigänger hängen sich während der Entnazifizierung in ihren Gärten auf. Auf endlosen Regalen in Kellergewölben verschimmelt Eingemachtes von vor dem Kriege noch.
Vorbei an den drei Häusern jener Kindheit, über den Friedhof und wieder stadteinwärts. Entlang dem Judenfriedhof. Endlose Tage irre ich über diese Friedhöfe, erst den meiner Urgrossmutter und dann, trotz Verbots, über den jüdischen. "Wer die Hand gegen Vater und Mutter erhebt, dem wächst sie aus dem Grabe." Nirgends sticht auch nur der Ansatz einer Hand aus einem Grab.
Vorbei am Haus der Freundin, gegenüber der Gerichtslinde, die eine Kuckucksuhr haben, einen Fischladen und im Sommer einen Eisstand, wo ich solange stehe, alles tue, was sie mir auftragen, nur für ein Eis. Ich bin wieder bei den drei Häusern von damals, dem ersten und dritten an dieser Durchgangsstrasse und schräg gegenüber, in einer Seitenstrasse, dem zweiten. Das erste und dritte Haus stehen nebeneinander, haben keine Vorgärten, und keine Gärten mehr. Trostlos erheben sich ihre Fronten direkt am Bürgersteig. Jetzt wohnen da Türken und Jugoslawen.

Im ersten Haus noch nehmen sie mir meinen Fritz ohne Kopf ab. Schmeissen diesen ständigen Begleiter meiner ersten Jahre in den Aschekasten. "Jetzt hast du ja eine schöne heile Puppe." In diesem Haus, im Parterre, sagt eine graue, über die hervorstechenden Knochen geworfene Haut: "Ich bin dein Vater. Es ist alles vorbei. Alles wird wieder normal sein, wie es war." Sein offener Fuss suppt. Meine erste Normalität ist Krieg. Roter lodernder Himmel, Sirenen, das Kreischen von Frauen, Entwarnungsfrisuren, Trümmer. Wo soll er schlafen? Ich packe meine Habe in einen Schuhkarton, gehe hoch zu den Leuten, wo ich immer die Puddingtöpfe auskratzen darf. "Ich bleibe jetzt immer bei Euch." Am Nachmittag habe ich mich von Lisa, der einzigen Tochter, wieder runter tragen lassen. Nie habe ich mich erniedrigter gefühlt.

Im dritten Haus, unserer ersten eigenen Wohnung, 1951 ziehen wir da ein, bangen wir lange um das Leben meines Vaters. In dem Garten, der jetzt eine Autowerkstatt ist - damals noch der Garten der Nachbarn -, liege ich in meinem ersten Göttiger September im Schatten eines Grauchenbaumes. Grauchen sind hässliche graue Birnchen mit harter pickliger nahezu bitterer Haut. Das Wasser läuft mir im Munde zusammen. Mein Mund füllt sich mit süssem warmem Matsch. Ich presse diesen Matsch durch die Lücken meiner Zähne, er tropft durch meine Finger, rinnt runter an den Ärmchen. Ich schlürfe ihn auf, lecke ihn mir vom Leib. Alles wird durchtränkt und überzogen von der Birnchen süssem Matsch. Das Gesicht kann ich mir nicht ablecken. Nur die Lippen. Die Zunge reicht nicht einmal bis an die Nase. Der Schatten des Baumes verschiebt sich, ich bleibe liegen, wo ich liege, stopfe weiter ein Grauchen nach dem anderen in mich hinein. Muss mich übergeben. Der Heisshunger wächst. Ich verschlinge mehr und mehr. Fünf bin ich. Voll gepfropft, süss glasiert, ganz Birne - mein Gesicht spannt -, kann ich nur noch die Oberlippe hochziehen, die Vorderzähne freilegen, grinse die Sonne an. "Mein Baum der Erkenntnis ist die Birne", steht im 'Phänomen Bruno Schulz', der Lesung, die ich in Warschau dann doch nicht gehalten habe, "... der Schatten des Baumes, dessen Früchte wir gierig verschliegen, deckt uns nicht mehr."

Die Generation meiner Eltern will nicht wahrhaben, dass sie mit ihrem massiven Gleichschritt eine Grenze durchbrochen haben, hinter die sie sich nicht mehr zurückziehen können. Und niemand mehr. Sie überspielen den Durchbruch. Die zur Verfügung gestellten Mittel lassen diesen Wahn und das sich Manövrieren in diesen Wahn gedeihen. Alles, was sie im Gedenken an jene vorbeie Normalität so wieder aufbauen und erledigen, ist als Kopie zu erkennen.
Mein Vater überlebt den Gasbrand, der in ihm wütet, dann bekommt er sein Holzbein, eines mit Gurten noch, bekomme ich, kurz bevor wir nach Heidelberg umsiedeln, meine Tage.

Die Mietskaserne, in der die Stadtarbeiter wohnen, die Aschkästenmänner, ihre Kinder (Aschows Mädchen), die Kunstrad fahren, von Jungs wissen, steht nicht mehr.

Ich gehe die Treppe zum zweiten Haus hoch, dem in der Seitenstrasse, klingele. "Bitte", sage ich. Ich darf rein. Es ist dasselbe Haus. Sie wohnen hier zu dritt, wir damals zu zwölft und ab und zu Schübe von Leuten, die kommen, dasitzen, ihre Geschichte erzählen, schweigen, weiterziehen. "Was ist", frage ich. Sie schliessen die Augen, dämmern vor sich hin. Ich ziehe ihnen die Augenlider hoch. Wo sind ihre Augen? Was tun Augen, wenn sie geschlossen sind? Oft sehe ich nur das Weiss des Augapfels, manchmal die Pupille, die sich durch den plötzlichen Lichteinfall zusammenzieht. "Lass das!" Aus Brennholz schnitzt mein Vater Handpuppenköpfe und spielt Theater für uns: "Die Toten, die Toten, die haben weisse Pfoten, sie haben an ein weisses Hemd, die Unterwäsche ist ihnen fremd." Das lässt uns den Hunger und die Kälte vergessen, eben. Abends im Bett spinnen meine Schwester und ich uns in normale Familien ein. Unsere Männer haben gehobene Positionen, unsere unartigen Kinder werden am 6. Dezember von Knecht Ruprecht in Säcke gesteckt und in die Hölle abtransportiert. Dort reisst man ihnen die Kleider vom Leib, peitscht sie aus, zerhackt sie und schmeisst sie in siedendes Öl, bis ihnen Hören und Sehen vergeht, um sie rechtzeitig, geläutert und perfekt wieder zusammengefügt, zu Weihnachten zu entlassen; zur Bescherung, dem Riegel Schokolade aus dem Carepaket, den wir ihnen in unsereren gleichzeitigen Rollen als Weihnachtsmänner und Geläuterte gönnerhaft lächelnd geben und lächelnd knicksend annehmen, unter Glöckchengebimmel vom Weihnachtsbaum, 'Stille Nacht, Heilige Nacht', 'Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen!'

Die Haut der Menschen wird schnell wieder glatt, fängt an zu glimmen. Auch die meiner Grossmutter. Als mein Vater sie 1946 zu uns holt, ist sie ein Strich. Dann kommen die Kartoffeln. Wenn sie einschnappt, sagt sie tagelang kein Wort, setzt sich nicht zu uns an den gedeckten Tisch, streift, aufgequollen, mit roten Flecken im Gesicht, schwarzem Kleid und weissem Kragen, uns Essende. Ihr Umfang ist stark. Unter ihrem immer wiederholten wässrigen: "Ihr lasst mich verhungern!" - diese hängende Lippe werde ich nicht mehr los - stochern wir auf unseren Tellern herum, stecken das Fleisch in den Mund, schlucken runter.

Es ist derselbe Garten mit derselben Einfassung des Stückchens Rasen, der Bleiche, auf der ich mir die Nase breche, und dahinter nur Wildwuchs bis an die Hinterpforte. Auf der anderen Seite des Durchgangs hinter den Gärten ist der Zaun des Altenpflegeheims, damals Tuberkuloseanstalt für die im letzten Stadium. Wenn die Diakonissen die Betten raus fahren, die Gestelle abseifen, die Decken lüften, ist wieder einer weg. Damals liegt das Sterbetempo höher. Ich darf hoch in die Kammern, wo ich einst stundenlang in die Gewitter schaue.

Meine Schulen, die Bordsteinkante, auf der ich mir die Zähne ausschlage. In der ersten Schule lerne ich, wie Erpressung anfängt. In der ersten Klasse befiehlt mir das Fräulein mich hinters Katheder zu setzen und aufzuschreiben, wer schwatzt. Eine Ehre. Vor mir sitzen vierzig Mädchen, alle ungefähr sieben Jahre alt. Fräulein S muss zum Rektor. Vor mir das Blatt Papier, in der Hand, steif, der Bleistift. Die Tochter des Musiklehrers spricht andauernd. Es ist der einzige Name, den ich über all die Jahre hin behalten habe, abgesehen von zwei, drei engen Vertrauten. Sie ist blond. "Ich muss dich aufschreiben", sage ich. Sie kommt ans Katheder: "Wenn du mich nicht aufschreibst, gebe ich dir diesen Puppenkochtopf." Schlagartig wird mir ein Unterschied bewusst, der mir bis dahin nichts bedeutet. Sie hat eine Wohnung, einen Vater mit sicherer Stellung und heilen Gliedern, Spielzeug. Ich habe sechs dürre Menschen in zwei Kammern, wenig zu essen, einen Vater mit kaputten suppenden Gliedern, ohne feste Stellung, kaum Spielzeug. Ich schreibe sie nicht auf. Ich schreibe niemanden auf. Vor aller Augen nehme ich den Puppenkochtopf in die Hand. Er ist schön. Nie würde ich mit ihm spielen können. Ich müsste seine Herkunft erklären.
"Niemand", fragt das Fräulein.
"Niemand", sage ich.

Ich besuche noch eine Ausstellung. Die Bilder halten nicht durch, was ich bei dem einen im Schaufenster zu verspüren meinte. "Und", fragt der junge Künstler, "sehen Sie Selbstgefälligkeit in meinen Arbeiten? Das kann ich mir doch wohl leisten." "Nein", sage ich. "Das klingt ja nach Askese. Ich habe doch noch Zeit."

 

Treysa. Ich fahre zum einzigen Freund meines Vaters, in die Schwalm, ins Hessische. Im August 1974, bei der Beerdigung meines Vaters sehen wir uns das letzte Mal, davor im Sommer 1952.

Als herrsche ein Vakuum in ihm, söge ihn aus. Die mageren Hände zittern. Auch in seinem Mund herrscht dies Vakuum. Unten trägt er kein Gebiss. Er und mein Vater treffen sich in britischer Kriegsgefangenschaft. Der eine zeichnet, der andere liest Tucholsky. Mein Vater wird nach Göttingen entlassen, er in die Schwalm. Seine Eltern sind schon da, bei Familienangehörigen. Sie sind aus Danzig. Er ist zwanzig, vielleicht zweiundzwanzig Jahre alt. Dorfschullehrer. Immer kommt er mit dem Fahrrad nach Göttingen, ist ein, zwei Tage bei uns, fährt wieder weg. Mit ihm kommt etwas anderes ins Haus als mit den andern, die kommen. Mein Vater hat einen Freund! Irgendwann heiratet er eine Witwe mit drei Kindern. Ihr gemeinsamer Sohn wird geboren. Die Freundschaft mit meinem Vater gerät an den Rand.
Noch immer ruft er gähnend aus: "Es ist ja alles so masslos traurig", zieht den Mund breit. Der fällt wieder ein. Die dumpfe Mauer zwischen uns wie damals.
Die Frau sitzt da, Mutter, herrisch, gemeisselt seit je, sich den Schleim loshustend. Jeden Tag ruft sie den Sohn an. Und immer weiss sie noch eine lustige Geschichte.
Ich beziehe für drei Nächte dieses Sohnes Reich im Keller.
Ich hatte gesagt, dass ich das hessische Land sehen wollte. Ich wollte diesen Freund sehen.

Der hessische Bauer ist reich, sein Boden gut. Er schützt sich vor denen, die aus dem Thüringischen kommen.
Die Kreuzwegstationen in den Kirchen sind wie Strassenszenen heute: Erlöser, Schläger, Masse; aufgewiegelte, gewiegte, geknüppelte.
In der Dorfschulgeschichte, die er jetzt schreibt, lese ich: "... wie man auch bei der Sektion des Körpers fand, dass sie wenigstens über sechs Monate geschwängert sei, deswegen ihr der Hals bis auf die Knochen abgeschnitten. Der Täter ist dem Allwissenden bekannt, der wird solchen Meuchelmord richten."
... deswegen ihnen die Schamlippen bis auf die Knochen abgeschnitten, im Namen - nein von Menschen mit abgeschnittenen Schamlippen.

Abends führen sie ihren Leibern Alkohol zu, bis sie taub gesogen sind, drehen die Zigaretten mit Filter für morgen.
Heute Abend zeige ich ihnen die Zeichnungen. Ich will, dass die, bei denen ich bin, wissen, wem sie Obdach verleihen. Nur in Katowice und Leipzig habe ich nichts gezeigt. Wenn ich deutlich spüre, sie wollen nicht, lasse ich es. Nur ganz wenigen zeige ich Zeichnungen, die noch nicht fertig sind. Das sind wunde Öffnungen. Menschen können sich selten zurückhalten, greifen ein, reissen an sich, wollen, dass es gut wird, gemäss ihrer Ordnung. Die Meinung, die Ausstrahlung des anderen fliessen schnell ein. Es dauert dem Bann und den Folgen der Ausstrahlung zu entkommen, die schützend sich hochziehende Eigeneindämmung wieder zu lösen. In diese offenen Stellen hinein sind ihre Tiraden, ist ihr Auslachen, ihr Gegrinse verheerend, lassen dich versteinern, wenn auch nur eben, ist ihr Lob tödlich.
Ich vernichte Zeichnungen, übermale Bilder. Alles hinterlässt seine Spuren. Es gibt kein absolutes Bild, wie es kein absolutes Leben gibt. Was du abdeckst, kriegst du nie wieder so hin. Ich weiss nicht, wo hindurch mich die Striche auf dem Papier, die Flecken auf der Leinwand, die ersten Sätze, die ich aufschreibe, schaffen, wie weit ich komme. Ich begreife nichts vom Entstehen von Kunst.
Die Zeichnungen. Champagner! Eine lustige Geschichte.
"Es ist keine Karikatur", sagt der Freund meines Vaters, "nein. Mädchen. Die ganzen 360 Grad, das schaffst du nicht. Niemand hat sich daran vergriffen, keiner der Grossen, niemand. Immer beschränken Künstler sich auf zwei, drei, vier Aspekte. Du schluderst, hastest. Beschränke dich! Das sind keine Schattierungen, keine Schraffierungen. Mädchen!"
Die Frau erhebt sich, geht aus dem Zimmer.
"Und immer das Gesicht deines Vaters. Dein Vater, deine Mutter. Lass deinen Vater in Ruhe! Was weisst du denn schon! Damals sagt deine Mutter zu mir: 'Nach solch einem Konzert sollte man nicht allein nach Hause gehen.' Mädchen, nicht nur deine eigenen Bedürfnisse zählen." Ich packe die Zeichnungen ein. Ich weiss nicht, was mehr an mir zerrt, seine Worte, seine Stimme, dieses Bad aus Vater und Mutter, in dem er, es über mich ausschüttend, sich suhlt. Wasser fällt aus meinen Augen. Das ist Wut. Mein Vater ist tot. Während der ersten Phase des Entstehens meines 'Karnevals' zeichne und male ich ihn. Das ist im dreizehnten Jahr nach seinem Tod. Ob ich will, dass er dabei ist, bei jedem Tropfen Schweiss, ganz aus der Nähe, und ich bei jedem seiner Tropfen. Nach seinem Tod erst kann ich malen. "Dein Vater. Deine Mutter." Er ist ihr Freund. Er muss sich festhalten. Wir verlassen den Raum.
Wir wollen dazugehören, dazugehören bleiben, auch wenn wir Grenzen durchbrochen haben.
Unten blättere ich die Zeichnungen durch, als müsse ich diese Tiraden von ihnen ab schauen. Ich weiss immer, wo meine Konzentration nachlässt, wo ich denke, ich wüsste, eingreife, mich doch beuge, wo ich, vergessen, nur zeichne.

Ich lade sie zu einem abschliessenden Mittagessen ein. Gegen Abend bringen sie mich zum Zug nach Frankfurt. Morgen um 12 Uhr noch ein Gespräch, noch eine Möglichkeit für das Geld für die Schulz-Büste, eine Adresse sowohl aus Warschau als auch aus Berlin.

 

Diedenbergen. Der ältere Sohn meiner älteren Schwester holt mich vom Bahnhof in Hofheim ab. Zwei Nächte schlafe ich bei ihr, deren Nähe mich jahrelang buchstäblich sprachlos schlägt.
Der Mann, der mir gestern sagt: "Um 12 Uhr", ist nicht da. "Um 14 Uhr müsste er hier sein", sagt eine Mitarbeiterin. Dann blättert er in meinen Papieren. "Natürlich sind die 3 000 Dollar ein Klacks", sagt er. Sie finanzieren das Festival in Krakau nächstes Jahr mit. "Die Entscheidung liegt nicht bei mir", sagt er. Und: "Wir brauchen ein schriftliches Gesuch." Schulz bringt mich weit herum durch der Menschen Landschaft.
Mitten in Frankfurt wähle ich deine Telefonnummer. "Montag bin ich wieder in Amsterdam."
Den frühen Chagall noch und noch einen Pernod.

Für meinen Schwager ist es mein Gesicht, das hinter den Zeichnungen liegt.

Meine Schwester bringt mich nach Mainz. In Duisburg steige ich um. Sitze neben einem jungen Amerikaner. "Niemand spricht mehr über das Sterben, bezieht den Tod nicht mehr mit ein in das, was er tut", sagt er. "Doch, wir wollen ihn nicht, wollen den Blick von da nicht."


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