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DEUTSCHLAND 1

Görlitz. Keine Kontrolle, keine Roma, keine herumlungernden Menschen. Überhaupt keine Menschen. Eine Anlage mit geharkten Pfaden. Auf der gegenüberliegenden Strassenseite stehen Wohnblöcke, ist der Grenzkontrollposten für die, die nach Polen wollen, geradeaus kreuzt eine grosse Strasse. Ich gehe durch die Anlage. Deutschland fängt ohne Menschen an. Entweder mein Gepäck wird immer leichter oder es fällt mir leichter. Doch zwei Menschen. Sie sind zu weit weg, schauen auch nicht, nur auf den Boden direkt vor ihren Füssen. Das beugt die Köpfe, setzt die Kinne fest, muss die Kehlen, die Stimmen quetschen.
Zwei ältere Damen, die robustere mit Stock. Sie laufen hier sogar mit diesen gekanteten Becken. Das Kanten des Beckens seitwärts nach oben sorgt für ein Spiel- oder Freibein neben einem Standbein. Irgendwann können sie das Becken nicht mehr in die ursprüngliche Lage kriegen, scheint ihre Bewegung der Kantung zu entspringen. Den Stock steif in der Hand der Seite des durchgestreckten oder schon versteiften Beins, des Standbeins, halten sie die Oberkörper schräg nach vorn oder ziehen sie straff nach hinten.
"Bitte", frage ich. Im zweiten Fall sind die Kreuze hohler als im ersten. Der Fluss ihrer Bewegungen erfährt also immer an mehr als einer - ursprünglich zum optimalen Anschwung genutzten - Stelle einen scharfen Knick, muss sich da stauen. "Bitte", frage ich, "gibt es hier ein Hotel?" "Ja, das gibt es", sagt die mit Stock. Das fest aufgesteckte graue Haar, die laschen Oberarme aus den kurzärmeligen Blusen. "Das ist aber teuer." Sie schauen einander lächelnd an. Wissenden Lächelns. Weisen mir den Weg. Schauen auf meinen Karren: "Die Strassen sind holprig. Solche holprigen Strassen gibt es in Westdeutschland nicht." Ich frage den Weg noch einmal. In dieser Stadt, die für uns bis zum Fall der Mauer nicht mehr als ein weisser Flecken in einem nicht ohne weiteres zu erreichenden Gebiet war, leben Menschen. Sie verstehen meine Worte. Ich probiere so zu laufen wie sie. Das ist nicht leicht. Ich habe keinen Stock. 1980 schreibe ich über meine Bewegungen gemäss denen in den Niederlanden: "Jahrelang bewegte ich mich wie sie. Das dachte ich. Alles schmerzte."

"Nur noch ein Dreibettzimmer für eine Nacht", sagt die Dame beim Empfang. Ich will zwei Nächte bleiben. Sie ruft in einem anderen Hotel an. Die haben ein Zimmer. "Das Telefonat kostet 60 Pfennige." Es gibt kaum Hotelzimmer, und die sind zum Grossteil permanent reserviert für die aus dem Westen, die hier aufbauen helfen, von montags bis freitags. Nach 12 Uhr kann ich auf mein Zimmer. Das Bad ist auf dem Flur, das Klo eine Etage tiefer. Es kostet dreimal so viel wie das mit Klo und Bad jenseits der Neisse. Es riecht nicht nach Lysol.

"GUT EINKAUFEN! SCHÖNER LEBEN!"
"BREMSEN IST MACHBAR, HERR NACHBAR! RÜCKSICHT KOMMT AN!"

Ich gehe in eine Bäckerei. "Eine Quarktasche, bitte." "30 Pfennige." Ich rufe von hier aus an. Noch brauche ich für die Verbindung zum Westen das Amt. Der Anrufbeantworter sagt: "... wenn Sie zurückgerufen werden wollen..." 'Leiser', der gute Schuh, ist schon da. Morgen eröffnet 'Blokker', diese niederländische Warenhauskette für Haushaltsartikel.
"Natürlich haben wir Filme. Es gibt jetzt alles." "In Polen auch." "Aber nicht in der Qualität." "Doch, aber es gibt da kein Geld." "Geld gibt es hier dann auch nicht mehr." "Die Kriminalität nimmt zu." "Damals gibt es ja keine Arbeitslosigkeit: ein sozial-medizinischer Grundsatz." "Sie behandeln uns so herablassend. Als müssten sie uns alles beibringen." Bitter. Dieses kleine R macht bitte zu bitter. 'C&A' bringt meterweise Seidenjoppen, Seidenblusen, Seidensakkos, Seidenhosen. C&A baut um. Alle bauen um. Ausverkauf. Kaufsucht. Eis.

Am Bahnhof lungern Penner. Der Bahnhof ist alt, ist heruntergekommen. Bier. Bockwurst. Zeitungskioske. Süssigkeiten. Direkt am Bahnhof sind zwei grosse Hotels geschlossen. Die müssen renoviert werden. Wenn die dann neu eröffnet werden, können die, die jetzt noch funktionieren, renoviert werden. Danach sind die Preise vollkommen angeglichen.

Görlitz ist schön, mit viel unverpfuschtem Fachwerk am Rande endgültigen Verfalls. Baugerüst neben Baugerüst. Der Innenstadt ist als Ganzes der Status Baudenkmal zuerkannt. Auf einer frisch verputzten Wand steht ein frischer Judenstern.
Betriebe schliessen. Die Jungen ziehen weg. "Sie wollen gleich dieselben Löhne wie die im Westen, Arbeit, nicht nur das gleiche Warenangebot."
Am Rande des offiziellen Denkmals verfallen ganze Viertel, liegen ehemalige Trümmerfelder voller Schutt und Grasbüschel. Für manches Haus kommt jede Rettung zu spät.

"Nicht so gut. Ich bin 75." "Gar nicht?" "Es ist nicht zu fassen. Die wirklich guten Zeiten mache ich nicht mehr mit. Ich lebe keine zehn Jahre mehr. DM 1 000,-. Das reicht. Ich kenne den Westen. Mein Sohn wohnt im Westen. Zitrusfrüchte können wir damals gar nicht bekommen." "Die freie Meinungsäusserung?" Er zuckt mit den Achseln.

Ein alter HO-Laden mit darunter der noch älteren Aufschrift 'Kolonialwaren'. Hinter Kindern mit grossen bunten Schultüten watscheln dicke Mütter. "Wenn ihr nicht ordentlich lauft, nehmen wir euch die Schultüten wieder weg, dann essen wir sie alle", nörgeln die dicken Mütter.

Aus einem Plattenbaublock am Rande einer Brache kommt eine Frau mit Mülleimer, geht zu den Mülltonnen. Öffnet eine. Schliesst sie wieder. Öffnet die andere. Quetscht ihren Abfall oben drauf. Ich gehe zu ihr: "Sie sind Polin?" "Ich habe einen Deutschen geheiratet. Meine Mutter wohnt in Zgorzelec." Sie öffnet die erste Tonne. Da liegt eine tote Taube. Sie schliesst die Tonne. Lächelt. Nimmt ihren Eimer. Geht ins Haus.

Ich ziehe mich auf mein Zimmer zurück. Über mir quietschen Sprungfedern, immer eiliger, stöhnt eine Frau, ein Mann.

Ich bringe die Gesichter hier kaum aufs Papier. Als lasse mich etwas nicht in ihre Linien ein. Was vor mir liegt, zeigt noch keinen Zusammenhang, zeigt Streifen Niemandsland, Pufferzonen, diesseits und jenseits der Linien. Welche Mühe es sie kostet so geglättet auszusehen.

Ich bin schon einen Tag und eine Nacht in 'Überalles', wie du Deutschland immer nennst. Nur der Fluss liegt zwischen gestern und heute. Hier schwimmen sie rüber, binden sich unter Lastwagen. Gestern Abend während eines Gesprächs mit beinahe fertigen Architekturstudenten aus Düsseldorf - wir sassen bis Mitternacht auf einer Terrasse, assen, tranken Wein; sie hatten sich zu mir an den Tisch gesetzt -, sagte eine: "Du liebst Warschau." Ich liebe auch Krakau, da kann ich schlendern. Als ich mit Wieska durch Krakau lief, sagte sie: "Krakau ist deine Stadt, es ist schön dich hier laufen zu sehen." Warschau, als schleuse sich da ein bestimmtes Gift in deinen Leib. Warschaus Kampf ist härter als der Krakaus. Warschau kann sich nicht wirklich an seinen alten Gebäuden ergötzen, sich nicht von ihnen berauschen lassen, weiss nur allzu gut, dass seine Alterskulisse, seine Tradition aus Schutt und Asche und verwesten, zermahlten Opfern in Schutt und Asche wieder hochgezogen ist. Wer von da aus nie in Krakau war, weiss nichts von der schlaftrunkenen Ruhe des Schlenderns, nicht, nicht wirklich, dass die kulissenhaften Fassaden anders sind als solche, die schon immer stehen. Und die, die das noch wissen, sterben.
Kommst du von östlich des Flusses, ist Görlitz Glanz, Westen, aus Koma erwachend. Kommst du von Westen, bist nie durch solche Gebiete gekommen? Die glänzenden Verpackungen, auch die der Menschen - eine bestimmte Strickart der Pullover lässt trotz Westfarben den Osten erkennen. Es hat etwas Makaberes, woher du auch kommst. Die Gesichter sind grauer als im Westen, die Haut schlaffer, die Augenränder tiefer und dunkler. Und dann die Gerüste. Der frische Putz. Diese alten unverschandelten Städte sind für die Studenten eine Art Mekka.
Blokker eröffnet. Die Schlange ist lang. Weisse Plastikstühle, gleich vier. Holzperlenmatten für Autositze: das ist gesund. Plastik Wäschekörbe. Der Haufen derer, die nur gaffen kommen, die Schlange derer, die kaufen kommen. Das Greifen schon ist die Droge, egal ob du zu Plastikstühlen, Bier, der Zigarette, Essen, Glanz, Menschen greifst, der Gegriffene bist. Mit dem Zugriff ist das Zugeständnis dingfest. Der Mensch kann sich manchmal entwinden, sich ausserhalb der Zugriffszone schaffen.
Mit dem Bus fahre ich nach Zittau. Das liegt auf selber Höhe wie Bogatynia in Polen und ganz in der Nähe. Zittau ist schön. "DIE KINDER SIND UNSERE RICHTER VON MORGEN!", mahnt es von den Wänden. Wir sind unsere Richter von heute, sollte da stehen.
"Mein Thema", sagt die Künstlerin, die sich an meinen Tisch setzt, "ist das des Eingeschlossenseins. Freunde von uns schwimmen durch den Fluss in die Freiheit, via Warschau. Es war, es ist..." Wie es war, ist, können sie nicht sagen. Die Linien, die Furchen der Gesichter hier sind für das, was sich in ihnen abgespielt haben und abspielen muss, zu straff. Wo denn spielte und spielt es sich ab?
Ausverkauf. Gesprächsfetzen. Bockwurst. Currywurst. Strammer Max. Polen sprechen sicher über die gleichen unwichtigen Dinge. Nur verstehe ich ihre Worte nicht. "Wissen Sie, es ist ja so..."
Mit dem Bummelzug zurück, er ruckelt kaum.
Da liegt Polen. Ich könnte ohne weiteres über die Brücke gehen, noch einmal an jenem Ufer entlang laufen. Wieder sitze ich abends auf dem Platz von gestern. Heute bleibe ich allein. Jede Stunde leuchtet das Gesicht der Turmuhr von innen her auf, schnellt die Zunge heraus.

"Meinen Schlüssel, bitte, und den vom Bad." Ein Bad und danach noch kurz unten sitzen, unter Menschen. Da steht der Pole mit den zwei Bengeln. Sie sprechen Deutsch. Die Bengel zappeln aufgekratzt. Es zerrt an etwas in mir. Ihre Stimmen hauen. Dann sehe ich die Frau, seine Frau, ihre Mutter: Haut über Knochen: Krebs im letzten Stadium. Sie schlafen auf derselben Etage wie ich. "Wenn Sie nach dieser Reise erst ins Bad wollen?" "Wir müssen noch essen", sagt der Mann. "Morgen nach dem Frühstück gehen wir gleich rüber."
Discomusik.
"Katowice schaffen wir nicht", sagt der Mann. "Morgen nach dem Frühstück gehen wir gleich rüber. Wenn's sein muss, mit einem Taxi. Sie soll eben in Polen stehen, meinem Land. Ich will ihr Polen zeigen. Sie will Polen noch sehen. Verstehen Sie. Sie soll wissen: da komme ich her. Dann fahren wir zurück nach Magdeburg."

 

Leipzig. Da wohne ich bei meiner Tante, der Witwe des jüngeren Bruders meines toten Vaters. In Dresden steige ich um. Auf dem Bahnsteig steht eine Einheit sowjetischer Soldaten.
Stramm, ihr Äusseres noch einmal zurechtgerückt, steht sie da. Das runde flache glänzende Gesicht schier unveränderlichen Ausdrucks. Sie zieht die Oberlippe ein wenig an, hebt den Kopf an.
"Du darfst dich an den Roma nicht stören.
Es gibt auch Junkies.
Polizisten mit Gummiknüppeln.
Die Stadt ist so dreckig."
Mit der Strassenbahn fahren wir zu ihrer Wohnung. DDR-Neubau. Zwei kleine Zimmer, Kochnische, Bad. Das Wohnzimmer: grosse Sessel, grosse Schlafcouch, Kommoden, Spind, grosser Farbfernseher, grosser Couchtisch, grosser Esstisch mit grossen Stühlen, Teppiche, Brücken. Das Schlafzimmer: ihr Bett, ein Klappbett, Federbettenberge unter Tagesdecken. Die Wohnung, in der diese Möbel einst standen, hat sie dem jüngeren Sohn überlassen.
"Das polnische Volk ist kein Brudervolk mehr."
"Roma schwimmen durch die Neisse."
"Motorräder werden auseinander genommen und als Carepakete nach Polen geschickt - nun sag mal!"
"Ich habe westliche Autowracks in Polen ankommen sehen."
"Kann ich dir noch etwas anbieten?
Ein Stück Kuchen?
Ich darf ja nicht - es schmeckt so gut.
Du wirst ja auch schon alt.
Noch eine Tasse Kaffee?
Du kannst doch deinen Mann nicht drei Monate allein lassen!
Willst du deine Mutter anrufen?
Hast du ein Nachthemd.
Hast du ein Programm?"
Sie legt die Beine hoch. Strickt. Schaut Westfernsehen.
"Eine Schorle?
Reklame mag ich nicht.
Eben das Ost-Sandmännchen: das ist erzieherisch, ohne erhobenen Zeigefinger."

Mein Vetter, ihr älterer Sohn, wird in den letzten Jahren der DDR, nach sieben Monaten Haft, in den Westen abgeschoben. Damals weiss noch niemand, dass das die letzten Jahre sind. Sohn und Hund kommen drei Tage später. Seine Frau kehrt von der Silberhochzeit ihres Bruders im Westen nicht zurück. Er kann wählen zwischen Scheidung und Gefängnis. Er kann seinen Beruf da ausüben bleiben. Er ist Arzt. "Nein, der andere Sohn will nicht rüber. Angebote, ja. Die Schwiegertochter wird dann, wegen der Auflösung der Leipziger Sporthochschule, arbeitslos. Na ja. Die Kriminalität wächst. Bis an die Tür kommen sie, die Roma, die polnischen Hausierer. Ich jage sie weg. Sie können gar nicht so schnell weglaufen, wie ich sie wegjagen kann." Wieder zieht sie die Oberlippe an, den Kopf: "Das kann ich dir sagen!"
1940 heiratet sie den jüngeren Bruder meines Vaters. Geht mit ihm nach Nürnberg. Im Sommer 1941 gebiert sie ihren ersten Sohn, bei Magdeburg. "Mit dem Jungen wieder nach Berlin und dann entweder nach östlich von Warschau, da stehen Baracken für Evakuierung, oder zurück nach Magdeburg. Ich gehe nach Magdeburg." Der Bruder meines Vaters kommt Ende des Krieges aus der Tschechoslowakei nach Bamberg, bleibt im Westen. 1953 gebiert sie ihren zweiten Sohn.
"Ich gehe in die Partei. Fange an zu studieren. Mit den zwei Gören ist das nicht leicht. Sozialhelferin im medizinischen Bereich eingegliedert." Sie ist eine gute Kraft und immer zur Stelle. Ohne Murren, ohne Aufhebens, still, freundlich. Die Kinder studieren.
Vor ungefähr zehn Jahren darf sie zum ersten Mal in den Westen. Mit sechzig. Kommt zu meiner Mutter. Versorgt, ungefragt, das Haus des Schwagers Witwe; schweigend, in Ostfarben. Sie strickt und häkelt. Die Illustrierten, die meine Mutter ihr für die Rückreise mitgeben will, nimmt sie nicht an. "Das darf ich nicht." "Bis zur Grenze." "Nein." Sie kommt dann jedes Jahr.
"Auf einmal ist alles schlecht, wofür ich gearbeitet habe, taugt nicht. Die Sozialarbeit im medizinischen Bereich, billigen Ferien für alle, kleinen Mieten, Tagesstätten für Kinder, die Ideale. Naja - irgendwann..."
Für mich machen wir das Bett auf der Schlafcouch im Wohnzimmer. Ich zeichne und schreibe noch lange.

Sie zeigt mir die Stadt. Die Sandsteinlöwen und -menschen bröckeln ab. Schiller steht nackt in der Anlage, Beine und Hüften umschlungen von Musen; voller Grünspan.
"Möchtest du ein Bonbon?" "Nein Danke." "Mein Mund ist so trocken, weisst du. Ich finde es immer so komisch."
Die alte Dame, die sich im Auerbachskeller zum Mittagessen mit ihren Westgästen an unseren Tisch setzt, die von ihren Westgästen, aus Amerika, eingeladen ist, bestellt etwas Kleines, Billiges: die Beilage, Pilze. Dann möchte sie doch noch einen Knödel.

Beim Anblick der Schönheit mancher Frauen hier begreifst du, dass jeder Kratzer, jeder Verfall so schmerzhaft empfunden wird. Die grossen vollen kirschroten Münder, die haselnuss- bis dunkelbraunen Augen, das schwarze Haar, die porzellane Haut. Jeder Kratzer fällt sofort ins Auge, stört. Anders als auf zerfurchten Gesichtern, die ich so liebe, wären Kratzer hier unverzeihlich. Ich kaufe Blumen für meine Tante. Vom Bahnhof aus rufe ich Barbara in Berlin an. "Sonntagmittag, Lichterfelde." Die Ankunftszeit habe ich vergessen. Sie stimmt auch nicht, sonntags fahren die Züge anders.
Wie Verfall schmerzt. Auf den Fahrdämmen mancher Seitenstrassen wächst Gras zwischen den Katzenköpfen.
Warum sind Ehrenmale, der Ehre auf Grund von Abschlachtungen, so protzig-obszön wie die kreischende Reklame in Katowice?
Warum fällt der Mensch trotz Wissens immer wieder darauf rein, verschreibt sich der Obszönität, dem Protz?
Warum hat eine Stadt dieses Ausmasses nicht mehr Klos?
Die russische Kirche.
Unantastbare alte Frauen, Haufen Benachteiligter und Gekränkter, kahle Schädel mit Ringlein in Nasen und Ohren.
"Dass ich jetzt Zivildienst leisten kann und nur ein Jahr."
"Dass ich mich erst später als schon im achten Schuljahr zu entscheiden brauche, was ich studieren will."
"Ich habe das Regime nicht unterstützt, auf keine Weise. Ich brauche mich nicht schuldig zu fühlen."
"Dass die Westler begreifen, dass wir hier moralischer... doch, ja, dass sie den Unterschied merken."

Der Fluss, den ich Anfang der Woche überquert habe, scheidet Europa in zwei Hauptlager. Von Osten kommend scheint der Unterschied zwischen Deutschen und Deutschen nicht relevant, du bist in Deutschland. Strassen und Menschen sind grauer als wir vom Westen her gewohnt sind, ihre Beklemmung noch beklemmender. Dumpfe Zerschlagenheit umgibt sie wie ein unsichtbarer Kokon. Wie sie atmen und laufen zeigt, wie tief die Ereignisse sie eingerissen haben, an ihnen frassen und noch weiterfressen. Vielleicht wissen sie nur nicht, dass man auch anders laufen, anders atmen kann. Die Einrichtungen sind noch nicht ausgewechselt. Weiter und weiter dringe ich in die hiesigen Gesichter und Haltungen vor. Ihre Treue gegenüber Programmen, vorgeschriebener von vornherein schon verausgabter Zeit, gewährt ihnen keine Zwischenräume, keine Möglichkeit für unvorhergesehene Wendungen. Wer zu anderen Wendungen neigt, wird für vogelfrei, für irr erklärt. Jeder Programmpunkt folgt festgelegten Regeln. Programmpunkt folgt Programmpunkt, Programm, Programm. Das gilt für Ost wie für West. Hektik und Krampf herrscht an allen Übergängen: nur nicht den Anschluss verpassen. Freizeit ist oder wird eingeordnet, verbracht.
"Und, was hast du Schönes getan?"
Ich begebe mich auf meiner Reise immer wieder in die Zeitordnung anderer. Es ist mir nicht möglich meine Einordnung in Ordnungen anderer zu umgehen. Dass ich überhaupt gehen kann!
Ihre Zeitmasse sind unbarmherzige Essensmasse.
"Kann ich dir nichts mehr anbieten?
Ich kann dir ja nicht den Mund aufsperren und das Essen reinstecken.
Der Mund ist so trocken, das kommt von den Medikamenten", und sie wickeln das Bonbon aus.
Mit nichts lässt sich eine Tyrannei unbemerkter ausüben als mit Essen, unter Essen, dem Vieruhrrhythmus des Nagens des Magens, dem Zuvorkommen dieses Nagens. Wer spuckt schon mit seinen Bemerkungen ins angebotene Essen, dem das Essen Bietenden ins Gesicht, vergällt durch seine Ablehnung des Gebers Lust zu geben. Ich erinnere Festtage, an denen wir nicht vom Tisch kamen, sich all die Mahlzeiten unentrinnbar ineinanderschoben, überbrückt von Häppchen und Keksen und Nüssen.
Nur im Kloster in Katowice und hier bei meiner Tante habe ich probiert die Mahlzeiten zu umgehen, habe mein Nachhausekommen bis über die Mahlzeitgrenze hinaus verzögert. Das nützt gar nichts. Ich esse zu wenig für ihre Begriffe. Solange ich esse - nein, sie essen auch, wenn ich nicht da bin. Prall des runter geschluckten Essens, kein Essen kann diesen Hunger stillen, stehen sie bereit. Ich esse hier mehr als üblich. Ich hatte Angst vor Deutschland. Es stimmt alles so entsetzlich. Ich bin noch nicht sicher, ob, was ich anrühre, alte Angst ist und also Vorurteil.
"... er begibt sich in die Fangarme der Seeanemone. Die sind eigentlich sehr giftig. Sie können ihm nichts anhaben", sagt die Stimme aus dem Fernseher. Ich muss lachen. "Warum lachst du?"

 

Berlin

Jetzt sitze ich in Berlin-Lichterfelde, warte. Eine ganze Stunde. Es ist heiss. Der Zug, den ich ausgesucht hatte, fährt sonntags nicht. Barbara wohnt in Ostberlin. Da ist ein Telefon noch eine Seltenheit.
Ich bin hier geboren, zufällig, als einzige der Familie. Berlin riecht für mich, seit ich 1957 zum ersten Mal wieder herkomme, 'Ost'. Das dringt erst 1979 am Ende meiner ersten Polenreise zu mir durch.
Nicht nur die DDR, auch Polen ist Transitland, vielleicht ganz Deutschland. Gleich nach der Öffnung der Mauer hatte sich das Bild auf westdeutschen Bahnhöfen verändert. Moskau ist Moskau. Die Niederlande sind West.
Ja, sie hoffen, dass sich die Moral in der ehemaligen DDR von der im Westen doch unterscheidet. Ja, besser ist. Nein, sie haben nie mitgemacht.
Der grösste Feind des Menschen ist sein Selbstmitleid, das Selbstüberschätzung, Untertänigkeit, Entschuldigungen gebiert. Die halten dich überall raus, denkst du, und wenn nicht, bist du Opfer - das ist ja kein Leben -, bleiben deine Hände sauber und du darfst urteilen, verurteilen. Sie sagen hundert Mal am Tag: "Entschuldigung, aber!" "Entschuldigung, dass ich das sage!" Und dann tun sie, sagen sie. Du findest es ja gut, hast durch das Hinnehmen ihrer Entschuldigung - sie nicht abzuschlagen - ihr so Handeln, ihre Aussage im Voraus sanktioniert.
Überall in der DDR hatten sie die gleichen Wohnblöcke hingeknallt. Plattenbau. Irgendwo im achten Stock eines dieser Blöcke hat Barbara eine Einzimmerwohnung. "Mama, du bist grau!" Ich schmiere mir Henna ins Haar. Bade. Wir liegen Seite an Seite auf dem Boden, sprechen.

Gegen Abend fahren wir in die Stadt. Essen, trinken Wein. Die Stadt, das ist Westberlin, Bahnhof Zoo, der Kudamm. Das dauert solange wie von Zaltbommel nach Amsterdam. Mit der Strassenbahn bis S-Bahn-Bahnhof Marx-Engels-Platz (jetzt Hacketscher Markt.) und dann mit der S-Bahn bis Bahnhof Zoo. 1979 und 1980 komme ich hier auch durch. Damals suche ich meine Kusine Maria auf. Das zweite Mal, nur wenige Wochen vor ihrem Tod. Die Mauer, die zwischen ihnen errichtet wurde, rieb erst den Geliebten im Westen auf - sobald es erlaubt war, kam er jeden zweiten Tag durch die Mauer - und dann sie.
Es tut gut, wenigstens äusserlich, nicht von der Umgebung abzustechen.

Obwohl Barbara schon beinahe ein Jahr hier wohnt, Deutsch meine Muttersprache ist, sprechen wir niederländisch miteinander. Ich spreche mit den Kindern von Anfang an nur niederländisch, lerne zusammen mit Barbara von Anastasia, die dann schon zur Schule geht, auch die Kindersprache, niederländische Kinderlieder. Mit Anastasia weiss ich mir anfangs in Bezug auf die Sprache keinen Rat. Ich summe Melodien für sie. Sobald sie einen Stift festhalten kann, zeichnen wir - Hundekönige -, spielen Puppentheater mit Stock- und Handpuppen, machen endlose Spaziergänge. Die Lautschwalle aus ihrem Mund haben zunächst nur für sie eine Bedeutung. Ich zeige ihr Vogelnester, den Weg zu Eichhörnchenhöhlen, Sauerampfer, wie man auf einem Grashalm pfeift und abends die Kauze. Ich kenne keine deutsche Kleinkindersprache und auch keine niederländische. Wir lächeln uns an, lachen, pieksen dem anderen in die Seite. Das ist so ungefähr alles, und es ist so geblieben. Abends erfindet Victor Märchen für sie. Anastasia beherrscht das Kinderdeutsch. Immer ist sie für drei Wochen allein bei ihren Grosseltern in Heidelberg, muss deutsch sprechen, die Melodie beherrschen. Immer dauert es, bis sie von diesem hohen erzwingenden Quengelton wieder ablässt. Als Barbara dann mitgeht, sprechen die beiden untereinander niederländisch.
Die Kinder machen in meinem Bauch, an meiner Brust, an meine Beine geklammert mit mir mit, wie ich das sture Umreissen, das meine Arbeiten kennzeichnet, das sture Umreissen meines Lebens mit seinem "Wie kannst du! Das tut man doch nicht! Aber aber! Du du!" durchbreche. Erfahren, dass zeichnen und leben gemäss der Ordnung des durchbrochenen Umrisses mit dem Durchbruch vorbei ist. Manchmal spüre ich noch Schatten von Ängsten, die die alte Ordnung verursacht hatte. Immer wieder stecke ich im Würgegriff solcher Durchbrüche. Alle Verzweiflung, allen Jubel, alle Verzweiflung danach machen sie hautnah mit. Ich erfahre, dass Kinder immer ganz genau sehen, was los ist, und unverkorkst darüber sprechen, wenn sie spüren, dass sie sich damit nicht die Selbstverständlichkeit ihres Daseins vermasseln. Und sie unterstützen mich.
Im Spätsommer letzten Jahres geht Barbara nach Berlin. Sie will sicher ein Jahr wegbleiben, auf eigenen Füssen stehen. Nach sechs Wochen läuft noch nichts, nicht wirklich. Sie wohnt anfangs bei einem Vetter von mir in Potsdam. Für jedes Telefongespräch ist sie eine halbe Stunde mit dem Fahrrad unterwegs. Brüllt die Telefonnummer in die Leitung. Legt auf. "Mama!" "Du schaffst es!"
Sie bekommt ihr erstes eigenes Zimmer in Berlin, nimmt Arbeit an. Dann zieht sie in diese Wohnung in Hohenschönhausen, im Ostteil der Stadt.

"Ik reiss dir die Beine auseinander." "Du bist ja kein Mann." "Dat kannste mir doch nich antun." "Nun komm doch schon." "Nun hör doch mal auf, sa ik dir." Die Leute eine Etage tiefer jaulen sich in ihrem Dauersuff stundenlang an. Abends, nachts, morgens.

 

Um jemanden anrufen zu können, muss ich eine Telefonzelle aufsuchen. Bahnhof Zoo sind die Chancen am besten. Ich gehe noch nirgends wirklich hin. Es ist ziemlich dicht in mir geworden. Streune nur, schaue.
Besoffene, Junkies, Huren.
Den Arbeitern auf den Reliefs des Arbeiter- und Bauernstates knallen die Genitalien jetzt rot aus den harten Hosen.
An Lenin vorbei.
Die S-Bahneingänge mit den ockergelben angeschlagenen Kacheln.
"Qualitätsmässig."
Kaisers Kaffee-Geschäfte.
"Die Kartoffeln sind nicht mehr so lecker." "Die Kartoffeln sind kleiner geworden." "Und teurer."
Der Alkohol steht in den Regalen direkt bei der Kasse. Kaum einer, der da steht, nimmt nicht doch noch eine Flasche extra.
Polen und Vietnamesen handeln mit unverzollten Zigaretten, mit Kassetten; vor Kaisers Kaffee-Geschäft in Hohenschönhausen, vor Bahnhof Zoo, vor allen S- und U-Bahneingängen.
"Haste een Jroschen für mich. Ik bin nämlich uff Treibe. Danke schön, danke vielmals."
Die Freibank: abgewertetes Fleisch: Fleisch.
"Bis jetzt haben wir 20 Pfennige pro Fahrschein bezahlt, noch zwei Tage, dann müssen wir DMark 1,80 bezahlen", sagt der Alte.

Ich fahre nicht noch einmal nach Spandau. Bis auf die Tatsache, dass ich da, mit zwei Unterbrechungen wegen Evakuierung im Osten, meine ersten Jahre verbracht habe, ist da nichts für mich. Der Himmel ist nicht mehr rot, es kracht nicht und heult keine Sirene mehr. Der Luftschutzkeller, ein Jahr vor Kriegsausbruch serienmässig eingebaut, ist jetzt Hausdisco. Da polke ich mit meinen Fingerchen Löcher in die Wände, sitze bei Opa Schubert auf dem Schoss, bis es für diesmal wieder vorbei ist.

Auch wenn sie kein Kölnisch Wasser benutzen, sticht beim Anblick der meisten Frauen hier der Geruch von Kölnisch Wasser, über dem verklemmter Körper, in meiner Nase. Ergebenheit strahlt schon von den taillierten Kleidern mit Gürtel ab, oben straff und bis über den Brustansatz zugeknöpft.

Es tut mir gut durch die Stadt zu laufen, Sachen zu kaufen, auf dem Kudamm auf einer Terrasse zu sitzen.

Münder werden verzogen, als kauten sie. Dieses entschuldigende abwertende, den Mund runter zerrende Lächeln, bei den Jungen schon. Das Nawartemallächeln, das wissende. Zwischen Kinn und Mund, rechts und links innerhalb der Linien der runter gezogenen Mundwinkel, kräuselt sich die Haut.
"Bleib sitzen!
Das macht man nicht!
Lass das!"

Unterstütze ich den Schmuggel oder helfe ich dem alten Polen, wenn ich seinen Karren mit Paketen die Treppe mit runterschleppe?

Die Gesichter im Ostteil sind noch grau. Viele steigen im Ostteil aus, natürlich. Ihr Sprechen hört sich an wie qualhervorrufende Eruption. Es sind ganz normale Menschen. Dann auf einmal hält einer, ohne dass ein Schaffner da ist, seine Sichtkarte lange hoch.
Die Untertänige mit ihrer Zwillingsschwester der Bestimmenden. Ihre Müdigkeit ist eine andere als in Polen, ist westlich der Müdigkeit der Tundren, westlich, abends von Auschwitz, mit dem Umsichschlagen aus versteifender Agonie und runter geschlucktem Wegsehen. In ihrer Tragik schmeckt Bitterkeit durch.

Umschulungskurse für Beamte, Angestellte, Lehrer.
Die Kotze im Bahnhof Zoo.
Horden Touristen.
Auf Punk getrimmte im Ostteil.
Skinheads.

Im Bahnhof Friedrichstrasse suche ich die ehemaligen Gänge und Räume der Erniedrigung. Vor mir der Mann ohne Kehlkopf mit knarrender Stimme. Ich gehöre zum westlichen Ausland. Mir ist schlecht. Keiner lacht. Abends muss ich wieder hier durch. Die Zeitung brauche ich nicht mehr in der S-Bahn zurückzulassen. Wo sind die Hunde?
Krätzige Strassenzeilen im Osten, normaler Glanz im Westen.
Bahnhof Zoo dämmern sie im, vor dem Bahnhof, halten, schlagen sich. Sprechen verworren. Bieten sich an.
Singt, tanzt, die Bierbüchse in der Hand, drückt sich schluchzend, sabbernd an'n Hals vom Pennbruder. Der tätschelt ihr den Rücken.
Roma.
Diese taillierten Kleider, anständigen Röcke. Das so gepflegte Haar.
Krokodilledertaschen fest unter Achseln geklemmt.

 

Heute lädt Barbara mich zum Chinesischen Nationalzirkus ein. Irgendetwas in mir ist irrsinnig müde. Wie stümperhaft unsere Bewegungen sind, unsere Hingabe ist. Wie sie den Körper beherrschen, fliegen, sich fallen lassen, in den Tod stürzen, sich abfangen.
Ich liebe Zirkus. Kann mich nicht satt an ihm sehen und riechen.
Die unten schreien sich aus.

 

Zwischen den U-Bahn-Stationen Warschauer Strasse, im Osten, und Schlesisches Tor in Kreuzberg, im Westen, ist die Bahnverbindung über die Spree auf östlicher Seite zertrümmert. Für die DDR war die Scheidung zwischen Ost und West ja absolut. Die Brücke, die Oberbaumbrücke, hatten sie nicht gesprengt, nur abgeschlossen. Fussgänger können schon rüber. Hier schese ich hinter Barbara her über die Strasse, sie stockt, läuft weiter. Da liege ich längelang auf dem Fahrdamm, bin auf, renne schon wieder. Die Autos. "Mama!" Die Hose ist heil, das Knie geschürft. So weit ich mich erinnern kann, falle ich über nichts und wieder nichts, komme mit aufgeschlagenen Knien nach Hause, überwuchert die zerdepperte Nase blau mein Gesicht, steckt mein erster neuer Zahn in der Oberlippe, beisse ich in die Bordsteinkante.

An der Spree in Kreuzberg steht auch auf Türkisch "WARNUNG! beim Betreten der Uferböschung Lebensgefahr!" Eine Erinnerung an den alltäglichen Wahnsinn an deutsch/deutscher Grenze, bleibt diese Tafel stehen. Von hier aus schaute und schaut man auf die Mauer hinter der gegenüberliegenden Böschung. Auch das Stück Mauer da lässt man. Künstler aus aller Welt durften sich darauf über Freiheit auslassen. Es lebe die Freiheit! Nichts ist fordernder als sie. Auf Postkarten sieht das schöner aus. Manches wird von Vandalen übermalt. Die Leute regen sich darüber auf. Die Wand soll doch leben!

Ich habe auf die, sei es nicht direkte, Frage des Schülers von Schulz - in jenen Regionen stellt man keine direkten Fragen -, ob ich im Westen nicht einen Geldgeber für die Schulz-Büste auftreiben könnte, nicht nein gesagt. Wenn das Geld aus dem Westen kommen muss, müssten meines Erachtens deutsche Instanzen, deutsche Schriftsteller das Geld aufbringen. Ich habe versprochen in diesem Zusammenhang mit jemandem vom ZDF Kontakt aufzunehmen. Dieser jemand hat einen Film über Drohobycz gedreht. Auch auf die Frage des jüdischen Oberst in Moskau, ob ich die Emigration nicht zur Sprache bringen könnte, habe ich nicht nein gesagt, habe seine Karte angenommen. Ich kenne hier niemanden, bin für die Menschen hier niemand.

Im Telefonbuch finde ich die Nummer irgendeiner deutsch-jüdischen Organisation. "Da müssen sie zur jüdischen Gemeinde", sagt eine weibliche Stimme. Vor dem Gebäude der jüdischen Gemeinde stehen Wachtposten. Gleich hinter der Tür kommt einer auf mich zu. "Bitte." "Nein, es ist niemand da." Menschen gehen aus und ein. "Wann?" "Im September." "Die Angelegenheit Moskau, wem kann ich das wenigstens sagen." Der Mann hält die Arme vor der Brust verschränkt, schiebt die Unterlippe nach vorn, bläht die Nasenflügel. Das hellblaue kurzärmelige Polohemd. "Moskau", er zuckt mit den Achseln, "unsere eigenen Probleme sind gross genug." "Wer dann?" Er zuckt mit den Achseln. Ich rufe noch einmal bei der weiblichen Stimme an. "Eine andere Adresse weiss ich nicht", sagt sie.

Ich gehe zum Goethe Institut. Wenigstens den Namen eines Menschen, einer Instanz, wo ich wegen des Geldes weiterbohren kann. Bitte. Danke. Bitte. Zwei Stockwerke höher. Eine schliesst ihre Tür von aussen ab, vielleicht ist sie die unten genannte Dame. "Bitte, sind Sie?" "Ja, aber." "Bitte, wer dann?" "Ich muss..." "Wann?" "Wir sind kein Kulturinstitut, wir sind ein Sprachinstitut." "Der?" Sie schüttelt den Kopf. "Der? Deutsche haben keine Zwischenräume", höre ich mich sagen. "Sie haben recht", sagt sie. Schliesst die Tür wieder auf. Schreibt einen Namen auf einen Zettel. "Gehen Sie zum Informationszentrum, fragen sie nach diesem Mann. Verzeihen Sie, sind Sie Jüdin?" "Nein." "Ich hatte gedacht."

Der Mann, dessen Name auf meinem Papier steht, ist nicht da. "Bitte, wer dann." Der Mann beim Empfang telefoniert. Schickt mich zwei Etagen höher. "Sie sprechen gut Deutsch", sagt der Mann, der sich mein Anliegen anhört. "Ich bin hier geboren." Er schaut mich gross an: "Wie haben Sie das hier überlebt? Sie können übrigens für einen Aufenthalt hier in Frage kommen... das Programm für ehemalige verfolgte und vertriebene Berliner..." "Ich bin keine Jüdin." Ich werde öfter gefragt, wie ich das hier überlebt habe, und ob ich Jüdin sei; in den Niederlanden, in Polen, jetzt hier und auch in Israel. Dann schauen sie mich betreten an.

Im Oktober 1940, nach drei Wochen, holt meine Mutter meinen Bruder und mich wieder aus dem Waisenhaus. Zehn Wochen bin ich, nur noch ein apathisches Bündel, mein Bruder ist beinahe sechs Jahre alt. Meine Schwester liegt noch im Krankenhaus. Ruhr. Meine Mutter legt mich an ihre schlaffen Brüste. Sie sind versiegt. So an ihrer Haut flösst sie mir Nahrung ein.
Dreimal schaut sie sich eine grössere Wohnung an. Dreimal ist die grössere Wohnung am Tag danach zerbombt. Sie schaut sich keine grössere Wohnung mehr an. Sie bricht noch einmal zusammen. Diesmal werden wir in Familien untergebracht. Das Leben der Frauen und Kinder damals in Berlin ist so. Uns geht es verhältnismässig gut.
Im Frühling 1944 ziehen wir in die Wälder zwischen Stettin und Stargard, in ein Behelfsheim. Im letzten Kriegsjahr erlebe ich da einen herrlichen Sommer. Von da aus gehen wir im Februar 1945 nach Stettin zu meiner Grossmutter und im März, vor den Russen weg, nach Göttingen, nach Westen. Lange steht der Zug in einer Waldschneise bei Potsdam. Bomben regnen auf Berlin.

Er weist mir den Weg zum Referat zur Betreuung ehemaliger verfolgter und vertriebener Berliner.

Ob sie nur noch diese beruhigende Stimme hat? Dieser federnde Gang, als habe sie Angst zu zerbrechen. Um was in sich bewegt sie sich herum? Sie schaut Menschen mild und erbarmungslos durchdringend an. Hat Zeit für mich. Mein Leib will es kaum glauben. Ob sie brüllen kann?

Schulz, die Büste, das nötige Geld. Ich gebe ihr, was ich von Schulz/Vess bei mir habe, stecke das alles heute früh ein. Brauchte ich es, müsste ich es holen. Das dauerte drei Stunden. Wer glaubt schon ohne Nachweis und wenn, wer glaubt dem dann ohne Nachweis. Ich gebe ihr das Notizbuch, das ich immer bei mir habe: "So bin ich unterwegs."
Im April bin ich wieder in Berlin, bin dann bei ihr zuhause. Spreche über meine erste Polenreise, über den Mann, der mir sagte: "Schreibe Deutsch, wenn du mir schreibst!" Er hatte Gross Rosen, Auschwitz und Bergen Belsen überlebt, knüpfte Kontakte für mich in Polen, berichtete da von meinen Schulz-Zeichnungen. Er ist Pole. "Das Wiedererlangen meiner Muttersprache, dieser Haut; sie ist zerfetzt." "Zerfetzt", sagt sie, "das ist das Erste, das mich durchfährt, als du mir gegenübersitzt, ich in deinem Tagebuch blättere."
Sie nennt die Namen zweier Menschen, die mir bei der Suche nach Geld vielleicht weiter helfen können. Beide kann ich erst in 10 Tagen erreichen.

Die Seiten nach dem S sind in allen Telefonbüchern rausgerissen. Vielleicht kann mir jemand der Fernsehanstalten hier helfen den Kontakt mit dem Mann vom ZDF in Mainz aufzunehmen. Ich bin nicht sicher, ob es das ZDF hier gibt. Der SFB. Der Portier wählt eine Nummer für mich. "Sicher", sagt eine weibliche Stimme. Stellt mich durch. "Wir sind ein Produktionsbetrieb", sagt eine hastige aggressive Männerstimme der Kulturabteilung, Ressort Ost, "kein Auskunftsbüro." "Bitte." Er gibt mir Adresse und Telefonnummer vom ZDF. "Nehmen sie den 174er (ich weiss nicht mehr, vielleicht ist es auch der 176er), sagt der Portier, da müssen Sie einsteigen, da um." "Danke." Zwei Besoffene steigen mit ein. "Dein Lippenstift is faschmiat", sagt der eine, "darf ik." Er wischt die rote Strieme weg. "Musst doch adrett aussehn."
Morgen um 12 Uhr hat da jemand, der den Mann von meiner Liste kennt, etwas Zeit für mich.

Strassenbahnhaltestelle Leninallee steigen zwei Besoffene mit einem Jungen im Kinderwagen aus. Draussen setzen sie die Flasche an die Hälse. Auch an den des Kindes. Das Kind streckt die Zunge raus bis an die Wurzel, als krempele es den Hals raus. Das Kinn auf der Brust, schüttelt das Kind den Kopf, das Leiblein, das so ja fest am Kopf sitzt, dass der Wagen rammelt, klammert sich ans Gestänge. Einer kramt die Limoflasche raus, legt die Limoflasche an den raus gekrempelten Hals. Das Kind schüttelt sich, kneift die Augen fest zu, ist nur noch raus gestreckte bebende Zunge. Sie lachen sich kaputt. Kippen den Schnaps in die eigenen Hälse. Schieben den Wagen über die Strasse.

Die Bühnenpennerin sagt: "Die Leute gehn abends nach Hause: 'Das sind wir nicht, das ist die da.'"

Die Frau des Journalisten, der in Opole die Senatorin interviewte, kommt sich die Zeichnungen anschauen. Sie wohnen hier.
"Hier fängt Deutschland an", sagt sie.
"Die Demokratie ist nicht besser", sagt sie.

Ein Handzettel: "Affenaugen werden solange Laserstrahlen ausgesetzt, bis sie regelrecht kochen und die Flüssigkeit in den Augäpfeln der lebenden Tiere verdampft... Die Bundeswehr verbraucht 40 000 Tiere..."

Schon hundert Meter vor der Strassenbahnhaltestelle höre ich dieses gekreischte sich überschlagende: "Nazischweine." Des alten Kreischers Kopf ist gross, wackelt. Seine Hände zittern. Er ist mager. Seine Knie sind eingeknickt. Der Schoss hängt vor. Die Arme mit den zittrigen Händen daran fuchteln. "Nazischweine! riechen nach Faschisten." Der Speichel schleudert ihm aus den Mundwinkeln. Das Gebiss sitzt nicht mehr so fest. "Juden... Kapitalismus..." Er geht ins Wartehäuschen, kreischt weiter. "Wer ist das", fragt einer seine Frau. "Ach", sagt die Frau, "das ist der Alte, der immer so schreit." Kreischt in der Strassenbahn weiter. Einen anderen Alten krampft es zusammen, er steigt an der nächsten Haltestelle aus: "Ik nehm die nächste", seine Hand schlägt's runter.

In der Anlage hinter Bahnhof Friedrichstrasse geht ein Alter mit fuchtelnder Rechten und O-Beinen auf Franzosen zu, die da im Schatten sitzen. Morgen fahren sie weiter nach Polen. "Die Polacken haben mein Haus und meinen Hof, das sag ich Ihnen. Sagen sie mir, warum ist das Essen in Paris so teuer." Seine Frau zerrt ihn weg. "Is doch wahr", sagt er.
"Es ist gut", sagt die Frau, die sich neben mich setzt, "unfassbar. Die Dämme hier drinnen? Sind noch nicht gebrochen."
Die Romnija mit dem dreckigen Kind auf der Hüfte schicke ich weg. Sie wird böse. Ich schiebe sie weg. Du gibst hier einem pro Tag, gegenüber allen weiteren Bettelgesängen stellst du dich taub.
Am späten Nachmittag sehe ich den Alten, der immer so schreit, wieder. Er steht zu den Sträuchern gekehrt an der Haltestelle, wo ich umsteigen muss, pinkelt, steigt mit mir ein. Er kreischt nicht mehr.


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