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DEUTSCHLAND 1Görlitz. Keine Kontrolle, keine Roma, keine herumlungernden Menschen. Überhaupt keine Menschen. Eine Anlage mit geharkten Pfaden. Auf der gegenüberliegenden Strassenseite stehen Wohnblöcke, ist der Grenzkontrollposten für die, die nach Polen wollen, geradeaus kreuzt eine grosse Strasse. Ich gehe durch die Anlage. Deutschland fängt ohne Menschen an. Entweder mein Gepäck wird immer leichter oder es fällt mir leichter. Doch zwei Menschen. Sie sind zu weit weg, schauen auch nicht, nur auf den Boden direkt vor ihren Füssen. Das beugt die Köpfe, setzt die Kinne fest, muss die Kehlen, die Stimmen quetschen.Zwei ältere Damen, die robustere mit Stock. Sie laufen hier sogar mit diesen gekanteten Becken. Das Kanten des Beckens seitwärts nach oben sorgt für ein Spiel- oder Freibein neben einem Standbein. Irgendwann können sie das Becken nicht mehr in die ursprüngliche Lage kriegen, scheint ihre Bewegung der Kantung zu entspringen. Den Stock steif in der Hand der Seite des durchgestreckten oder schon versteiften Beins, des Standbeins, halten sie die Oberkörper schräg nach vorn oder ziehen sie straff nach hinten. "Bitte", frage ich. Im zweiten Fall sind die Kreuze hohler als im ersten. Der Fluss ihrer Bewegungen erfährt also immer an mehr als einer - ursprünglich zum optimalen Anschwung genutzten - Stelle einen scharfen Knick, muss sich da stauen. "Bitte", frage ich, "gibt es hier ein Hotel?" "Ja, das gibt es", sagt die mit Stock. Das fest aufgesteckte graue Haar, die laschen Oberarme aus den kurzärmeligen Blusen. "Das ist aber teuer." Sie schauen einander lächelnd an. Wissenden Lächelns. Weisen mir den Weg. Schauen auf meinen Karren: "Die Strassen sind holprig. Solche holprigen Strassen gibt es in Westdeutschland nicht." Ich frage den Weg noch einmal. In dieser Stadt, die für uns bis zum Fall der Mauer nicht mehr als ein weisser Flecken in einem nicht ohne weiteres zu erreichenden Gebiet war, leben Menschen. Sie verstehen meine Worte. Ich probiere so zu laufen wie sie. Das ist nicht leicht. Ich habe keinen Stock. 1980 schreibe ich über meine Bewegungen gemäss denen in den Niederlanden: "Jahrelang bewegte ich mich wie sie. Das dachte ich. Alles schmerzte." "Nur noch ein Dreibettzimmer für eine Nacht", sagt die Dame beim Empfang. Ich will zwei Nächte bleiben. Sie ruft in einem anderen Hotel an. Die haben ein Zimmer. "Das Telefonat kostet 60 Pfennige." Es gibt kaum Hotelzimmer, und die sind zum Grossteil permanent reserviert für die aus dem Westen, die hier aufbauen helfen, von montags bis freitags. Nach 12 Uhr kann ich auf mein Zimmer. Das Bad ist auf dem Flur, das Klo eine Etage tiefer. Es kostet dreimal so viel wie das mit Klo und Bad jenseits der Neisse. Es riecht nicht nach Lysol. "GUT EINKAUFEN! SCHÖNER LEBEN!" Ich gehe in eine Bäckerei. "Eine Quarktasche, bitte." "30 Pfennige."
Ich rufe von hier aus an. Noch brauche ich für die Verbindung zum Westen das Amt. Der Anrufbeantworter sagt: "... wenn Sie zurückgerufen werden wollen..."
'Leiser', der gute Schuh, ist schon da. Morgen eröffnet 'Blokker', diese niederländische Warenhauskette für Haushaltsartikel. Am Bahnhof lungern Penner. Der Bahnhof ist alt, ist heruntergekommen. Bier. Bockwurst. Zeitungskioske. Süssigkeiten. Direkt am Bahnhof sind zwei grosse Hotels geschlossen. Die müssen renoviert werden. Wenn die dann neu eröffnet werden, können die, die jetzt noch funktionieren, renoviert werden. Danach sind die Preise vollkommen angeglichen. Görlitz ist schön, mit viel unverpfuschtem Fachwerk am Rande endgültigen Verfalls. Baugerüst neben Baugerüst. Der Innenstadt ist als Ganzes der Status Baudenkmal zuerkannt. Auf einer frisch verputzten Wand steht ein frischer Judenstern. "Nicht so gut. Ich bin 75." "Gar nicht?" "Es ist nicht zu fassen. Die wirklich guten Zeiten mache ich nicht mehr mit. Ich lebe keine zehn Jahre mehr. DM 1 000,-. Das reicht. Ich kenne den Westen. Mein Sohn wohnt im Westen. Zitrusfrüchte können wir damals gar nicht bekommen." "Die freie Meinungsäusserung?" Er zuckt mit den Achseln. Ein alter HO-Laden mit darunter der noch älteren Aufschrift 'Kolonialwaren'. Hinter Kindern mit grossen bunten Schultüten watscheln dicke Mütter. "Wenn ihr nicht ordentlich lauft, nehmen wir euch die Schultüten wieder weg, dann essen wir sie alle", nörgeln die dicken Mütter. Aus einem Plattenbaublock am Rande einer Brache kommt eine Frau mit Mülleimer, geht zu den Mülltonnen. Öffnet eine. Schliesst sie wieder. Öffnet die andere. Quetscht ihren Abfall oben drauf. Ich gehe zu ihr: "Sie sind Polin?" "Ich habe einen Deutschen geheiratet. Meine Mutter wohnt in Zgorzelec." Sie öffnet die erste Tonne. Da liegt eine tote Taube. Sie schliesst die Tonne. Lächelt. Nimmt ihren Eimer. Geht ins Haus. Ich ziehe mich auf mein Zimmer zurück. Über mir quietschen Sprungfedern, immer eiliger, stöhnt eine Frau, ein Mann. Ich bringe die Gesichter hier kaum aufs Papier. Als lasse mich etwas nicht in ihre Linien ein. Was vor mir liegt, zeigt noch keinen Zusammenhang, zeigt Streifen Niemandsland, Pufferzonen, diesseits und jenseits der Linien. Welche Mühe es sie kostet so geglättet auszusehen. Ich bin schon einen Tag und eine Nacht in 'Überalles', wie du Deutschland immer nennst. Nur der Fluss liegt zwischen gestern und heute. Hier schwimmen sie rüber, binden sich unter Lastwagen. Gestern Abend während eines Gesprächs mit beinahe fertigen Architekturstudenten aus Düsseldorf - wir sassen bis Mitternacht auf einer Terrasse, assen, tranken Wein; sie hatten sich zu mir an den Tisch gesetzt -, sagte eine: "Du liebst Warschau." Ich liebe auch Krakau, da kann ich schlendern. Als ich mit Wieska durch Krakau lief, sagte sie: "Krakau ist deine Stadt, es ist schön dich hier laufen zu sehen." Warschau, als schleuse sich da ein bestimmtes Gift in deinen Leib. Warschaus Kampf ist härter als der Krakaus. Warschau kann sich nicht wirklich an seinen alten Gebäuden ergötzen, sich nicht von ihnen berauschen lassen, weiss nur allzu gut, dass seine Alterskulisse, seine Tradition aus Schutt und Asche und verwesten, zermahlten Opfern in Schutt und Asche wieder hochgezogen ist. Wer von da aus nie in Krakau war, weiss nichts von der schlaftrunkenen Ruhe des Schlenderns, nicht, nicht wirklich, dass die kulissenhaften Fassaden anders sind als solche, die schon immer stehen. Und die, die das noch wissen, sterben.Mit dem Bus fahre ich nach Zittau. Das liegt auf selber Höhe wie Bogatynia in Polen und ganz in der Nähe. Zittau ist schön. "DIE KINDER SIND UNSERE RICHTER VON MORGEN!", mahnt es von den Wänden. Wir sind unsere Richter von heute, sollte da stehen. "Mein Thema", sagt die Künstlerin, die sich an meinen Tisch setzt, "ist das des Eingeschlossenseins. Freunde von uns schwimmen durch den Fluss in die Freiheit, via Warschau. Es war, es ist..." Wie es war, ist, können sie nicht sagen. Die Linien, die Furchen der Gesichter hier sind für das, was sich in ihnen abgespielt haben und abspielen muss, zu straff. Wo denn spielte und spielt es sich ab? Ausverkauf. Gesprächsfetzen. Bockwurst. Currywurst. Strammer Max. Polen sprechen sicher über die gleichen unwichtigen Dinge. Nur verstehe ich ihre Worte nicht. "Wissen Sie, es ist ja so..." Mit dem Bummelzug zurück, er ruckelt kaum. Da liegt Polen. Ich könnte ohne weiteres über die Brücke gehen, noch einmal an jenem Ufer entlang laufen. Wieder sitze ich abends auf dem Platz von gestern. Heute bleibe ich allein. Jede Stunde leuchtet das Gesicht der Turmuhr von innen her auf, schnellt die Zunge heraus. "Meinen Schlüssel, bitte, und den vom Bad." Ein Bad und danach noch kurz unten sitzen, unter Menschen. Da steht der Pole mit den zwei Bengeln. Sie sprechen Deutsch. Die Bengel zappeln aufgekratzt. Es zerrt an etwas in mir. Ihre Stimmen hauen. Dann sehe ich die Frau, seine Frau, ihre Mutter: Haut über Knochen: Krebs im letzten Stadium. Sie schlafen auf derselben Etage wie ich. "Wenn Sie nach dieser Reise erst ins Bad wollen?" "Wir müssen noch essen", sagt der Mann. "Morgen nach dem Frühstück gehen wir gleich rüber."
Leipzig. Da wohne ich bei meiner Tante, der Witwe des jüngeren Bruders meines toten Vaters. In Dresden steige ich um. Auf dem Bahnsteig steht eine Einheit sowjetischer Soldaten. Mein Vetter, ihr älterer Sohn, wird in den letzten Jahren der DDR, nach sieben Monaten Haft, in den Westen abgeschoben. Damals weiss noch niemand, dass das die letzten Jahre sind. Sohn und Hund kommen drei Tage später. Seine Frau kehrt von der Silberhochzeit ihres Bruders im Westen nicht zurück. Er kann wählen zwischen Scheidung und Gefängnis. Er kann seinen Beruf da ausüben bleiben. Er ist Arzt.
"Nein, der andere Sohn will nicht rüber. Angebote, ja. Die Schwiegertochter wird dann, wegen der Auflösung der Leipziger Sporthochschule, arbeitslos. Na ja.
Die Kriminalität wächst. Bis an die Tür kommen sie, die Roma, die polnischen Hausierer. Ich jage sie weg. Sie können gar nicht so schnell weglaufen, wie ich sie wegjagen kann." Wieder zieht sie die Oberlippe an, den Kopf: "Das kann ich dir sagen!" Sie zeigt mir die Stadt. Die Sandsteinlöwen und -menschen bröckeln ab. Schiller steht nackt in der Anlage, Beine und Hüften umschlungen von Musen; voller Grünspan.
Beim Anblick der Schönheit mancher Frauen hier begreifst du, dass jeder Kratzer, jeder Verfall so schmerzhaft empfunden wird. Die grossen vollen kirschroten Münder, die haselnuss- bis dunkelbraunen Augen, das schwarze Haar, die porzellane Haut. Jeder Kratzer fällt sofort ins Auge, stört. Anders als auf zerfurchten Gesichtern, die ich so liebe, wären Kratzer hier unverzeihlich.
Ich kaufe Blumen für meine Tante. Vom Bahnhof aus rufe ich Barbara in Berlin an. "Sonntagmittag, Lichterfelde." Die Ankunftszeit habe ich vergessen. Sie stimmt auch nicht, sonntags fahren die Züge anders. Der Fluss, den ich Anfang der Woche überquert habe, scheidet Europa in zwei Hauptlager. Von Osten kommend scheint der Unterschied zwischen Deutschen und Deutschen nicht relevant, du bist in Deutschland. Strassen und Menschen sind grauer als wir vom Westen her gewohnt sind, ihre Beklemmung noch beklemmender. Dumpfe Zerschlagenheit umgibt sie wie ein unsichtbarer Kokon. Wie sie atmen und laufen zeigt, wie tief die Ereignisse sie eingerissen haben, an ihnen frassen und noch weiterfressen. Vielleicht wissen sie nur nicht, dass man auch anders laufen, anders atmen kann. Die Einrichtungen sind noch nicht ausgewechselt. Weiter und weiter dringe ich in die hiesigen Gesichter und Haltungen vor. Ihre Treue gegenüber Programmen, vorgeschriebener von vornherein schon verausgabter Zeit, gewährt ihnen keine Zwischenräume, keine Möglichkeit für unvorhergesehene Wendungen. Wer zu anderen Wendungen neigt, wird für vogelfrei, für irr erklärt. Jeder Programmpunkt folgt festgelegten Regeln. Programmpunkt folgt Programmpunkt, Programm, Programm. Das gilt für Ost wie für West. Hektik und Krampf herrscht an allen Übergängen: nur nicht den Anschluss verpassen. Freizeit ist oder wird eingeordnet, verbracht."Und, was hast du Schönes getan?" Ich begebe mich auf meiner Reise immer wieder in die Zeitordnung anderer. Es ist mir nicht möglich meine Einordnung in Ordnungen anderer zu umgehen. Dass ich überhaupt gehen kann!"... er begibt sich in die Fangarme der Seeanemone. Die sind eigentlich sehr giftig. Sie können ihm nichts anhaben", sagt die Stimme aus dem Fernseher. Ich muss lachen. "Warum lachst du?"
Berlin Jetzt sitze ich in Berlin-Lichterfelde, warte. Eine ganze Stunde. Es ist heiss. Der Zug, den ich ausgesucht hatte, fährt sonntags nicht. Barbara wohnt in Ostberlin. Da ist ein Telefon noch eine Seltenheit.Überall in der DDR hatten sie die gleichen Wohnblöcke hingeknallt. Plattenbau. Irgendwo im achten Stock eines dieser Blöcke hat Barbara eine Einzimmerwohnung. "Mama, du bist grau!" Ich schmiere mir Henna ins Haar. Bade. Wir liegen Seite an Seite auf dem Boden, sprechen. Gegen Abend fahren wir in die Stadt. Essen, trinken Wein. Die Stadt, das ist Westberlin, Bahnhof Zoo, der Kudamm. Das dauert solange wie von Zaltbommel nach Amsterdam. Mit der Strassenbahn bis S-Bahn-Bahnhof Marx-Engels-Platz (jetzt Hacketscher Markt.) und dann mit der S-Bahn bis Bahnhof Zoo. 1979 und 1980 komme ich hier auch durch. Damals suche ich meine Kusine Maria auf. Das zweite Mal, nur wenige Wochen vor ihrem Tod. Die Mauer, die zwischen ihnen errichtet wurde, rieb erst den Geliebten im Westen auf - sobald es erlaubt war, kam er jeden zweiten Tag durch die Mauer - und dann sie. Obwohl Barbara schon beinahe ein Jahr hier wohnt, Deutsch meine Muttersprache ist, sprechen wir niederländisch miteinander. Ich spreche mit den Kindern von Anfang an nur niederländisch, lerne zusammen mit Barbara von Anastasia, die dann schon zur Schule geht, auch die Kindersprache, niederländische Kinderlieder. Mit Anastasia weiss ich mir anfangs in Bezug auf die Sprache keinen Rat. Ich summe Melodien für sie. Sobald sie einen Stift festhalten kann, zeichnen wir - Hundekönige -, spielen Puppentheater mit Stock- und Handpuppen, machen endlose Spaziergänge. Die Lautschwalle aus ihrem Mund haben zunächst nur für sie eine Bedeutung. Ich zeige ihr Vogelnester, den Weg zu Eichhörnchenhöhlen, Sauerampfer, wie man auf einem Grashalm pfeift und abends die Kauze. Ich kenne keine deutsche Kleinkindersprache und auch keine niederländische. Wir lächeln uns an, lachen, pieksen dem anderen in die Seite. Das ist so ungefähr alles, und es ist so geblieben. Abends erfindet Victor Märchen für sie. Anastasia beherrscht das Kinderdeutsch. Immer ist sie für drei Wochen allein bei ihren Grosseltern in Heidelberg, muss deutsch sprechen, die Melodie beherrschen. Immer dauert es, bis sie von diesem hohen erzwingenden Quengelton wieder ablässt. Als Barbara dann mitgeht, sprechen die beiden untereinander niederländisch. "Ik reiss dir die Beine auseinander." "Du bist ja kein Mann." "Dat kannste mir doch nich antun." "Nun komm doch schon." "Nun hör doch mal auf, sa ik dir." Die Leute eine Etage tiefer jaulen sich in ihrem Dauersuff stundenlang an. Abends, nachts, morgens.
Um jemanden anrufen zu können, muss ich eine Telefonzelle aufsuchen. Bahnhof Zoo sind die Chancen am besten. Ich gehe noch nirgends wirklich hin. Es ist ziemlich dicht in mir geworden. Streune nur, schaue. Ich fahre nicht noch einmal nach Spandau. Bis auf die Tatsache, dass ich da, mit zwei Unterbrechungen wegen Evakuierung im Osten, meine ersten Jahre verbracht habe, ist da nichts für mich. Der Himmel ist nicht mehr rot, es kracht nicht und heult keine Sirene mehr. Der Luftschutzkeller, ein Jahr vor Kriegsausbruch serienmässig eingebaut, ist jetzt Hausdisco. Da polke ich mit meinen Fingerchen Löcher in die Wände, sitze bei Opa Schubert auf dem Schoss, bis es für diesmal wieder vorbei ist. Auch wenn sie kein Kölnisch Wasser benutzen, sticht beim Anblick der meisten Frauen hier der Geruch von Kölnisch Wasser, über dem verklemmter Körper, in meiner Nase. Ergebenheit strahlt schon von den taillierten Kleidern mit Gürtel ab, oben straff und bis über den Brustansatz zugeknöpft. Es tut mir gut durch die Stadt zu laufen, Sachen zu kaufen, auf dem Kudamm auf einer Terrasse zu sitzen. Münder werden verzogen, als kauten sie. Dieses entschuldigende abwertende, den Mund runter zerrende Lächeln, bei den Jungen schon. Das Nawartemallächeln, das wissende. Zwischen Kinn und Mund, rechts und links innerhalb der Linien der runter gezogenen Mundwinkel, kräuselt sich die Haut. Unterstütze ich den Schmuggel oder helfe ich dem alten Polen, wenn ich seinen Karren mit Paketen die Treppe mit runterschleppe? Die Gesichter im Ostteil sind noch grau. Viele steigen im Ostteil aus, natürlich. Ihr Sprechen hört sich an wie qualhervorrufende Eruption. Es sind ganz normale Menschen. Dann auf einmal hält einer, ohne dass ein Schaffner da ist, seine Sichtkarte lange hoch. Umschulungskurse für Beamte, Angestellte, Lehrer. Im Bahnhof Friedrichstrasse suche ich die ehemaligen Gänge und Räume der Erniedrigung. Vor mir der Mann ohne Kehlkopf mit knarrender Stimme. Ich gehöre zum westlichen Ausland. Mir ist schlecht. Keiner lacht. Abends muss ich wieder hier durch. Die Zeitung brauche ich nicht mehr in der S-Bahn zurückzulassen. Wo sind die Hunde?
Heute lädt Barbara mich zum Chinesischen Nationalzirkus ein. Irgendetwas in mir ist irrsinnig müde. Wie stümperhaft unsere Bewegungen sind, unsere Hingabe ist. Wie sie den Körper beherrschen, fliegen, sich fallen lassen, in den Tod stürzen, sich abfangen.
Zwischen den U-Bahn-Stationen Warschauer Strasse, im Osten, und Schlesisches Tor in Kreuzberg, im Westen, ist die Bahnverbindung über die Spree auf östlicher Seite zertrümmert. Für die DDR war die Scheidung zwischen Ost und West ja absolut. Die Brücke, die Oberbaumbrücke, hatten sie nicht gesprengt, nur abgeschlossen. Fussgänger können schon rüber. Hier schese ich hinter Barbara her über die Strasse, sie stockt, läuft weiter. Da liege ich längelang auf dem Fahrdamm, bin auf, renne schon wieder. Die Autos. "Mama!" Die Hose ist heil, das Knie geschürft. So weit ich mich erinnern kann, falle ich über nichts und wieder nichts, komme mit aufgeschlagenen Knien nach Hause, überwuchert die zerdepperte Nase blau mein Gesicht, steckt mein erster neuer Zahn in der Oberlippe, beisse ich in die Bordsteinkante. An der Spree in Kreuzberg steht auch auf Türkisch "WARNUNG! beim Betreten der Uferböschung Lebensgefahr!" Eine Erinnerung an den alltäglichen Wahnsinn an deutsch/deutscher Grenze, bleibt diese Tafel stehen. Von hier aus schaute und schaut man auf die Mauer hinter der gegenüberliegenden Böschung. Auch das Stück Mauer da lässt man. Künstler aus aller Welt durften sich darauf über Freiheit auslassen. Es lebe die Freiheit! Nichts ist fordernder als sie. Auf Postkarten sieht das schöner aus. Manches wird von Vandalen übermalt. Die Leute regen sich darüber auf. Die Wand soll doch leben! Ich habe auf die, sei es nicht direkte, Frage des Schülers von Schulz - in jenen Regionen stellt man keine direkten Fragen -, ob ich im Westen nicht einen Geldgeber für die Schulz-Büste auftreiben könnte, nicht nein gesagt. Wenn das Geld aus dem Westen kommen muss, müssten meines Erachtens deutsche Instanzen, deutsche Schriftsteller das Geld aufbringen. Ich habe versprochen in diesem Zusammenhang mit jemandem vom ZDF Kontakt aufzunehmen. Dieser jemand hat einen Film über Drohobycz gedreht. Auch auf die Frage des jüdischen Oberst in Moskau, ob ich die Emigration nicht zur Sprache bringen könnte, habe ich nicht nein gesagt, habe seine Karte angenommen. Ich kenne hier niemanden, bin für die Menschen hier niemand. Im Telefonbuch finde ich die Nummer irgendeiner deutsch-jüdischen Organisation. "Da müssen sie zur jüdischen Gemeinde", sagt eine weibliche Stimme. Vor dem Gebäude der jüdischen Gemeinde stehen Wachtposten. Gleich hinter der Tür kommt einer auf mich zu. "Bitte." "Nein, es ist niemand da." Menschen gehen aus und ein. "Wann?" "Im September." "Die Angelegenheit Moskau, wem kann ich das wenigstens sagen." Der Mann hält die Arme vor der Brust verschränkt, schiebt die Unterlippe nach vorn, bläht die Nasenflügel. Das hellblaue kurzärmelige Polohemd. "Moskau", er zuckt mit den Achseln, "unsere eigenen Probleme sind gross genug." "Wer dann?" Er zuckt mit den Achseln. Ich rufe noch einmal bei der weiblichen Stimme an. "Eine andere Adresse weiss ich nicht", sagt sie. Ich gehe zum Goethe Institut. Wenigstens den Namen eines Menschen, einer Instanz, wo ich wegen des Geldes weiterbohren kann. Bitte. Danke. Bitte. Zwei Stockwerke höher. Eine schliesst ihre Tür von aussen ab, vielleicht ist sie die unten genannte Dame. "Bitte, sind Sie?" "Ja, aber." "Bitte, wer dann?" "Ich muss..." "Wann?" "Wir sind kein Kulturinstitut, wir sind ein Sprachinstitut." "Der?" Sie schüttelt den Kopf. "Der? Deutsche haben keine Zwischenräume", höre ich mich sagen. "Sie haben recht", sagt sie. Schliesst die Tür wieder auf. Schreibt einen Namen auf einen Zettel. "Gehen Sie zum Informationszentrum, fragen sie nach diesem Mann. Verzeihen Sie, sind Sie Jüdin?" "Nein." "Ich hatte gedacht." Der Mann, dessen Name auf meinem Papier steht, ist nicht da. "Bitte, wer dann." Der Mann beim Empfang telefoniert. Schickt mich zwei Etagen höher. "Sie sprechen gut Deutsch", sagt der Mann, der sich mein Anliegen anhört. "Ich bin hier geboren." Er schaut mich gross an: "Wie haben Sie das hier überlebt? Sie können übrigens für einen Aufenthalt hier in Frage kommen... das Programm für ehemalige verfolgte und vertriebene Berliner..." "Ich bin keine Jüdin." Ich werde öfter gefragt, wie ich das hier überlebt habe, und ob ich Jüdin sei; in den Niederlanden, in Polen, jetzt hier und auch in Israel. Dann schauen sie mich betreten an. Im Oktober 1940, nach drei Wochen, holt meine Mutter meinen Bruder und mich wieder aus dem Waisenhaus. Zehn Wochen bin ich, nur noch ein apathisches Bündel, mein Bruder ist beinahe sechs Jahre alt. Meine Schwester liegt noch im Krankenhaus. Ruhr. Meine Mutter legt mich an ihre schlaffen Brüste. Sie sind versiegt. So an ihrer Haut flösst sie mir Nahrung ein. Er weist mir den Weg zum Referat zur Betreuung ehemaliger verfolgter und vertriebener Berliner. Ob sie nur noch diese beruhigende Stimme hat? Dieser federnde Gang, als habe sie Angst zu zerbrechen. Um was in sich bewegt sie sich herum? Sie schaut Menschen mild und erbarmungslos durchdringend an. Hat Zeit für mich. Mein Leib will es kaum glauben. Ob sie brüllen kann? Schulz, die Büste, das nötige Geld. Ich gebe ihr, was ich von Schulz/Vess bei mir habe, stecke das alles heute früh ein. Brauchte ich es, müsste ich es holen. Das dauerte drei Stunden. Wer glaubt schon ohne Nachweis und wenn, wer glaubt dem dann ohne Nachweis. Ich gebe ihr das Notizbuch, das ich immer bei mir habe: "So bin ich unterwegs." Die Seiten nach dem S sind in allen Telefonbüchern rausgerissen. Vielleicht kann mir jemand der Fernsehanstalten hier helfen den Kontakt mit dem Mann vom ZDF in Mainz aufzunehmen. Ich bin nicht sicher, ob es das ZDF hier gibt. Der SFB. Der Portier wählt eine Nummer für mich. "Sicher", sagt eine weibliche Stimme. Stellt mich durch. "Wir sind ein Produktionsbetrieb", sagt eine hastige aggressive Männerstimme der Kulturabteilung, Ressort Ost, "kein Auskunftsbüro." "Bitte." Er gibt mir Adresse und Telefonnummer vom ZDF. "Nehmen sie den 174er (ich weiss nicht mehr, vielleicht ist es auch der 176er), sagt der Portier, da müssen Sie einsteigen, da um." "Danke." Zwei Besoffene steigen mit ein. "Dein Lippenstift is faschmiat", sagt der eine, "darf ik." Er wischt die rote Strieme weg. "Musst doch adrett aussehn." Strassenbahnhaltestelle Leninallee steigen zwei Besoffene mit einem Jungen im Kinderwagen aus. Draussen setzen sie die Flasche an die Hälse. Auch an den des Kindes. Das Kind streckt die Zunge raus bis an die Wurzel, als krempele es den Hals raus. Das Kinn auf der Brust, schüttelt das Kind den Kopf, das Leiblein, das so ja fest am Kopf sitzt, dass der Wagen rammelt, klammert sich ans Gestänge. Einer kramt die Limoflasche raus, legt die Limoflasche an den raus gekrempelten Hals. Das Kind schüttelt sich, kneift die Augen fest zu, ist nur noch raus gestreckte bebende Zunge. Sie lachen sich kaputt. Kippen den Schnaps in die eigenen Hälse. Schieben den Wagen über die Strasse. Die Bühnenpennerin sagt: "Die Leute gehn abends nach Hause: 'Das sind wir nicht, das ist die da.'" Die Frau des Journalisten, der in Opole die Senatorin interviewte, kommt sich die Zeichnungen anschauen. Sie wohnen hier. Ein Handzettel: "Affenaugen werden solange Laserstrahlen ausgesetzt, bis sie regelrecht kochen und die Flüssigkeit in den Augäpfeln der lebenden Tiere verdampft... Die Bundeswehr verbraucht 40 000 Tiere..." Schon hundert Meter vor der Strassenbahnhaltestelle höre ich dieses gekreischte sich überschlagende: "Nazischweine." Des alten Kreischers Kopf ist gross, wackelt. Seine Hände zittern. Er ist mager. Seine Knie sind eingeknickt. Der Schoss hängt vor. Die Arme mit den zittrigen Händen daran fuchteln. "Nazischweine! riechen nach Faschisten." Der Speichel schleudert ihm aus den Mundwinkeln. Das Gebiss sitzt nicht mehr so fest. "Juden... Kapitalismus..." Er geht ins Wartehäuschen, kreischt weiter. "Wer ist das", fragt einer seine Frau. "Ach", sagt die Frau, "das ist der Alte, der immer so schreit." Kreischt in der Strassenbahn weiter. Einen anderen Alten krampft es zusammen, er steigt an der nächsten Haltestelle aus: "Ik nehm die nächste", seine Hand schlägt's runter. In der Anlage hinter Bahnhof Friedrichstrasse geht ein Alter mit fuchtelnder Rechten und O-Beinen auf Franzosen zu, die da im Schatten sitzen. Morgen fahren sie weiter nach Polen. "Die Polacken haben mein Haus und meinen Hof, das sag ich Ihnen. Sagen sie mir, warum ist das Essen in Paris so teuer." Seine Frau zerrt ihn weg. "Is doch wahr", sagt er. |
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