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POLEN II. 2

Katowice. Allein schon das Nennen dieses Namens ruft Wegwollen in mir hervor. Hier wohne ich in einem Kloster etwas ausserhalb des Zentrums. Gegen Mittag komme ich an. Im Sommer 1987 begleite ich andere Zaltbommeler, die Ferienkinder zurück ins Waisenhaus des Klosters bringen. Immer sind wir willkommen. Als mein Taxi gegenüber dem Eingang auf der Einfahrt zur Kirche hält, kommt Schwester Oberin aus der Tür: "Nu, bitte! Solange Sie wollen."
Sie führt mich durch die kühlen hohen unten hellbraun verschalten und oben weiss gestrichenen Korridore, die jetzt offen stehenden Gittertüren, über den russigen Hof, noch eine Treppe, durch noch einen Korridor. Ab und zu huscht eine andere Nonne vorbei. Es riecht nach Lysol. Ich bekomme das Tageszimmer der Krankenabteilung, verfüge über ein eigenes Bad mit sechs niedrigen Waschbecken und einem Klo. Die Krankenschwester räumt fürs nächste Jahr das Behandlungszimmer auf, tüncht, was zu tünchen ist. Der Schlafsaal ist unbelegt. Auf jedem der zwanzig Betten sitzt eine Puppe. Woityla hängt an der Wand und glücklich strahlende Kinderchen auf Fotos und Postkarten. "Wir bringen Ihnen das Essen aufs Zimmer. Wenn Sie abends später als 10 Uhr kommen..." "Ich bin immer vor 10 Uhr wieder da."
"Die Kinder sind bei Familien, manche in Sommerlagern, nur wenige sind jetzt hier. Nein, nicht in Zaltbommel, die Zeiten haben sich geändert. Das Bett machen wir noch. Um 8 Uhr Frühstück?" Nach einer Viertelstunde bringt sie das Mittagessen. Die Dollarnote, die ich ihr gebe, küsst sie und drückt sie lachend an ihre gewaltige Brust. Ihr Deutsch kommt träge im Sang der polnischen Sprache. Sie ist aus Poznan. "Sie können einen ganzen Monat bleiben, bitteschön. Der Kirchgang geht wieder zurück und ins Kloster wollen die Mädchen nicht mehr. Sich aufopfern für den anderen. Wer will, wer tut das schon noch. Sie wollen haben, wollen nicht dafür arbeiten. Das Kloster ist wieder Eigentum des Ordens. Für die Kinder bekommen wir Geld vom Staat."

Wie kann eine Stadt nur so dreckig sein. Anthraziter Belag glänzt auf zerfressenen Fassaden. Der deutsche Einfluss lässt sich nicht leugnen. Ich wähne mich im Pfaffengrund, diesem Stadtteil von Heidelberg, wo ich sieben Jahre gewohnt habe, bis ich 1961, verheiratet, nach Holland komme. Meine Mutter wohnt noch immer im Pfaffengrund.
Der Atem, der mir hier entgegenschlägt, hat die gleiche, jedoch ungleich massivere Beschaffenheit. Ihr Hauptbestandteil ist Klage, kriecherische beinahe glitschige fleischgewordene Klage. Monoton frömmelnde Stimmen ohne Tief. Wann fangen sie an die Köpfe so schief zu halten: beiss zu! Oh Jesus, meine Zuversicht. Namen überfallen mich. Gerüche. Stimmen. Gebärden.
Hier ist die bunte Reklame nicht einmal mehr surrealistisch, ein böser Witz, hier ist sie obszön.
Morgen fahre ich nach Chorzow und Bytom. Das sollen die dreckigsten Städte der Welt sein. In Zaleze, der ersten Station westlich von Katowice, gibt es einen Russenmarkt. Von Lemberg nach Przemysl sitze ich mit Katowice-Händlern im gleichen Waggon.

Im Dreck prangen die Barbies. Nach den monströsen Siegermalen geilt die Welt nach dem glänzenden Püppchen, lauter kleinen glänzenden Püppchen. Aufziehbaren Püppchen. Kreischenden Püppchen.
Zusehends geben wir den Begierden klein bei, die wir in denen, in deren Schutz wir stehen oder uns stellen, entfachen. Schon von ihrem sie ankündigenden Schatten an die Wand geknallt, kommen wir diesen verlangenden, dann fordernden und schliesslich ihr Recht an uns ausübenden Beschützern zuvor: nicht an die Wand knallen!
"Im Kloster lernt man die Klappe halten", sagt Schwester Oberin.

Ich gehe zu Fuss in die Stadt. Es ist heiss. Und zurück. Kaufe unterwegs eine Flasche Wein. Heute Abend, wenn sie wieder abgedeckt haben, betäube ich mir das mahlende Gehirn, lasse die Hand zeichnen. Liege auf dem Rücken, das Glas in der Hand, unter ihrem Papst, den strahlenden Kinderchen, dem Kreuz.

 

Zaleze, das ist nicht nur das Verramschen Polens und Russlands. Entlang dem Bahndamm verkümmert die Welt zum Bazar des Abschaums des Ramsches in schwarzem Staub neben stinkenden Pfützen. Papiernasen schützen Fleischnasen vor der Sonne. Jeder kennt diese Strecken entlang den Bahndämmen, wo die Müllhalden zuhause sind, die Schlehe, die Klette, der Weissdorn, der Holunder mit seinem pissigen Aroma. Kartenspiel, Roulette - in diesem Gestank. Kein Kulturpalast mit vierzehn Etagen mit Klos. Warschau, geliebtes Warschau, dein Charme! Der Geruch, Geschmack von Auswurf. In Amsterdam liegt dieser Ramsch in Geschäften, auf dem Rummel, ist geruchlos.
Männer mit entblössten Oberkörpern hängen aus Fenstern in vor Dreck glänzenden Fronten. Manchmal ein Kind. Morgens weisse Federbetten.
Morgens um 10 Uhr schon gehen die ersten lallend mit Fäusten aufeinander los.

Dieser fette anthrazite Glitsch beisst sich in Fleisch und Hirn. Sich das noch einmal leibhaftig bewusst machen, vor Augen geführt kriegen, seinen Extrakt schmecken, darüber nachdenken? Es strömt durch ihre Adern, zerfrisst ihre Substanz, pigmentiert ihre Haut. Die Haut bricht. Gib ihnen ihren täglichen Rausch. Himmel um auf den Knien rutschend in Verzückung zu geraten, anzubeten, zu vergessen, sich zu vergessen, die offene Haut zu vergessen, nur weit genug von dieser Hölle entfernt. Sie davon abhalten, weil nichts stärker bindet als Armut unter versprochen, nie erreichbaren Himmeln und verabreichten Fusstritten? Wer hier die Chance hat raus zukommen, wie auch immer, und es nicht tut - es gibt kein Entkommen, als das Gehen. Nach zwei Stunden ist der Rotz in meiner Nase durchzogen von schwarzen Schlieren. Wer seine Kinder hier nicht zur Sauberkeit anhält, wenn's sein muss unter Drohung von Schlägen, mit Schlägen, gibt sie verloren. Ich bin weder für Drohungen noch für Schläge, auch wenn ich es verstehe. Verstehe auch, dass Menschen Drohungen dann doch nicht ausführen, die vorliegenden Verhältnisse so untermauern.
Die Treppe zum Bahnhof ist halbseitig gesperrt, die andere Seite zerfällt.

Das Tagebuch hinter dem Tagebuch, das ich nicht in schwarze Worte fassen will, von der Überwucherung durch mein mich Gehenlassen, mein dem Heisshunger Nachgeben, meinem Nachschieben und Runterschlucken, mich Erbrechen.

Der Mann, der auf der Treppe im Chorzower Bahnhof liegt, ist besoffen.

Für manchmal "Tak, Tak" und ab und zu "Dobrze" erzählt der Mann im Zug immer weiter, spricht mit Händen und Augen und Worten auf mich ein. "Tak". Klopft mir auf die Schulter. Schreit aus. Auch er ist besoffen. Manchmal zieht er seine Augenbrauen hoch, dann krächzt er, beisst sich auf die Unterlippe.

Ich will noch nicht zurück in die gleich wieder gebrachte Mahlzeit, den gleich wieder gebrachten Kaffee, die Erdbeeren, den Kuchen - was soll ich mit soviel Kuchen -, die Suppe, den Kohl. Ich besuche eine Ausstellung. In den Bildern ist ein Gesamtrhythmus anwesend, im Einzelnen jedoch keine Bewegung aufzuspüren.

 

"In Gliwice fängt das grüne Schlesien an", sagt Schwester Oberin. Morgens setzen die Roma ihre Kinder in Pappkartons in die Bahnhofshalle: "Bettelt!"
"Früher hielten sie die Klappe, jetzt sagen sie alles", sagt Schwester Oberin.

Ja, in Gliwice bist du raus aus dem Gebiet der Hochöfen, dem Stinkloch der Welt. Es könnte jede deutsche Provinzstadt sein, noch mit den Schatten des Nichthabens, des "Nie ma" behaftet. Gliwice ist Polen. Die typischen Regime-Läden, grau, funktionell, jetzt mit Ware. Frauen in Kitteln schleppen lustlos Kisten. Hinter der Kirche, bei den Abfallcontainern, lungern Besoffene. Auf dem Markt kreuzt ein Spalier geschniegelter Offiziere und schön gemachter Damen Klinge und Blumen über einem Brautpaar und den die Schleppe tragenden Kindern. Man singt. Das Trommelfeuerspiel! Du musst durch das Spalier der Kameraden mit ihren über dir zusammengehaltenen Händen durch und während du durchrennst, geduckt, prasseln ihre Fäuste auf dich, kreischen ihre Gesichter dich an. Mir ist übel. Es fängt an zu nieseln. Auf brachliegendem Grund zwischen schon renovierten weissen Häusern und noch nicht renovierten Löchern steht der reguläre Wochenendmarkt. Heimische Ecken und Dreck wechseln abrupt.
Samstags ist mehr Zeit zum Saufen.
Müdigkeit neben emsigem Renovieren und Suff.
Sie wankt. So fein gemacht. Hält sich fest an der Mauer. Das Gesicht wendet sie ab. Stöckelschuhe, luftiger Rock, blau, bis über die Knie. Ist sie dreissig? Vierzig? Fünfzig? Die Tasche schlenkert. Knickt durch die Fessel. Sitzt. Kommt hoch. Landet auf der Bordsteinkante. Fuchtelt. Lacht. Schlägt mit den Händen aufs Pflaster. Spricht. Spricht. Einer tritt aus seinem Laden, schaut auf sie, geht wieder rein.
Irgendwo esse ich. Das ist jetzt in jeder Stadt in Polen möglich. Es tut Polen gut wieder in Cafés, in Restaurants gehen zu können, an Tischen mit Tischdecken zu sitzen. Es regnet. Hier in der Provinz falle ich mehr auf. Sie starren. Ein Café. Ich gehe in kein Café mehr, treibe mich noch in der Nähe des Bahnhofs, bei den Bussen herum. Im Zug schlafe ich ein. Schlafe. Wie lange? Einer starrt mich an. Ich bin hier die Fremde. Döse weg. Der Mann starrt mich an. In Katowice folgt er mir. Seine Augen strahlen.
"Ukraine."
"Drohobycz." "Drohobycz!"
"Lesko."
"Boze, Lesko."
"Sanok."
"Sanok."
"Kawa?"
"Ja."
"Cognac?"
"Nein."
Er bestellt einen Cognac für mich. Strahlt mich an. Sein Hemd zeigt die typischen grünlich schwarzen Schweissringe der Hemden hier. "Eis?" Ich schüttele den Kopf. Er bestellt ein Eis für mich und für sich noch einen Cognac. Ich trinke meinen Cognac nicht ganz aus, esse mein Eis nicht ganz auf. Ein Besoffener am Tisch gegenüber macht obszöne Gebärden. Hier sitzen zu dieser späten Samstagnachmittagsstunde vornehmlich Besoffene und solche, die schon ein gut Stück Wegs sind. Die elende Woche ist vorbei, der öde Sonntag steht vor der Tür. An der Bar sitzen Huren, in den Sesseln an den Tischen müde Frauen. Es dauert, bis das Grau aus den Gesichtern verschwindet. Sie leisten sich schon ein Eis, einen Kaffee, bevor sie nachhause müssen. "Dieses Gesicht", sagt der Mann, "dieser Kopf." Er streichelt meinen Kopf, strahlt. "Schauen", sagt er, "nur schauen." Er ist unterwegs nach Chestochowa, zu seinem Sohn. Die Sonntage. Die Frau ist tot. "Ich muss gehen", sage ich. Wir verlassen das Café. Er reicht mir die Hand. Im Kloster bringen sie mir Essen.

Victor ruft an.

"Wann ist Morgen früh Messe?" "Wenn Sie lieber nicht wollen." "Ich komme." "Ich hole sie ab."

 

Schwester Oberin kommt mir entgegen. Ich folge ihr durch die Korridore des Waisenhauses - Mädchen in Sonntagskleidern kommen aus Türen -, durch die Korridore des Schwesterntrakts. In dieser Dreckstadt, diesem, in aller Knappheit, peinlich sauber gehaltenem Komplex betreten wir auf der obersten Etage einen Raum mit spiegelndem Parkett, hellen Wänden, grossen klaren Fenstern. Hinten kniet eine Reihe von Nonnen, vorn steht der Priester. Der Messdiener ist eine Nonne. Auch in der ersten Reihe knien Nonnen, dahinter die Kinder, die jetzt nicht bei Familien sind. Nur ein Junge unter lauter Mädchen. Der Priester breitet die Arme aus, umschreitet den Altar. Sein Gesicht ist rot, gesetzt. Die Nonne huscht. Die Nonne liest die Epistel, der Priester das Evangelium. Dann predigt er. Schlägt ein Kreuz über der grossen Hostie und den kleinen Hostien, dem Wein und dem Wasser, dem Wein mit dem Wasser. Bricht die grosse Hostie. Steckt ein Stück in den Mund. Trinkt den Wein mit dem Wasser. Reicht jedem, der kommt, eine Hostie. Sie klebt am Gaumen wie einst. Er reinigt den Kelch, trocknet ihn ab. Richtet Arme und Augen gen Himmel, schlägt ein Kreuz über uns Kniende. Nach dem Frühstück umstehen die Nonnen ihn kichernd im Hof. Er muss noch zu einem anderen Kloster.

Röcke mit langen Seitenschlitzen, Plisseeröcke, Stöckelschuhe, Handtaschen. Ich bin in der Stadt. Die Röcke spannen. Sonntags auf dem Bahnhof kommen die Alkoholisierten auf dich zu wie Fliegen auf Fleisch. Heute wollte ich, ich wäre ein Mann. Auf dem heileren Stück Treppe verkauft ein Krüppel Heiligenbildchen. Roma liegen auf der Grünfläche rechts, neben ihrer Habe. Einer schläft seinen Rausch auf dem Damm einer Bushaltestelle aus.

Träge doch fahrig ballen sich graue Gesichter, schwarze Schlieren im Rotz, fleischige Brüste, Rockschlitze, schief gehaltene Köpfe, Frühstück, Mittag, Kohl, Kaffee, Kuchen, Milch, Früchte, Saft, Abendbrot: "Müssen essen!" zu einem einzigen zähklebrigen unenthedderbaren Knäuel. Oh, glänzende Reinheit der Kapelle, ausgebreitete Arme des Priesters, kropfige Verankerung seines roten Gesichts, erhobene Hostie. Pissiger Gestank des Holunders, Papiernasen, braune Kuhlen, abblätternde Farbe, Lysol. Besoffene auf Treppen, Barbies neben wuchtigen Denkmälern, verrostete Rohre unter, über, neben den Strassen, 'Casino', Kinder in Pappkartons mit ausgestreckten Händen, mit Kreuze schlagenden Händen. Dreck. Eine weisse Fassade. Schimpfende Roma. Jammernde Roma. Körper aus Fenstern, Federbetten aus Fenstern, Paradekissen. Das Kreuz.

Missmut steht morgens schon in den Leibern an der Bushaltestelle, im Bus, im Bahnhof. Die elende Woche hat wieder angefangen. Romnija mit Kindern machen sich an alle ran, die vor den Schaltern stehen. Die Fahne der Armut hängt grau und schwer, lässt sich nicht schwingen. Das Aroma der Armut ist Schweiss ohne genügend Seife. Auf dem Bahnsteig schläft einer in seinem Urin, wartet einer mit Trauerflor. Zaleze im Regen. Sie schleppen Taschen über die Schienen in den schwarzen Schlick. Ich steige nicht aus. Ich fahre nach Opole. In Gliwice kommen die Romnija, Kinder an Händen und Brüsten, in den Zug. Frauen im Frühomastadium geben immer.

 

Opole wird restauriert. Ich höre viel deutsch sprechen. Sie laufen durch ihre alten Strassen, gehen auf den Friedhof. Sie kommen, brauchen ja kein Visum mehr.

Sie ist Senatorin für Schlesien. Ich traf sie im Goethe Institut in Krakau. Sie kam wegen Studienbüchern für den Deutschunterricht. Ihr Spezialgebiet sind die Minderheiten. Sie ist Professor für Ethnologie, ist eine jener bemerkenswerten Schwarzharigen, die hier im Süden zuhause sind, eine seltsame Mischung aus Schönheit, Intelligenz, Durchsetzungsvermögen und Eleganz. Ihr Mann ist Ingenieur, Schlesier. Der Sohn wohnt nicht mehr zuhause.
76 Gemeinden.
26 mit deutscher Minderheit.
8 deutschstämmige Bürgermeister.
Vor ein paar Jahren fangen die hiergebliebenen Deutschen an sich als Deutsche in die Minderheitenlisten einzutragen. Das macht ihre Besuche an Deutschland einfacher und sie brauchen da nicht schwarz zu arbeiten. Manche haben zwei Pässe. Das ist nicht erlaubt. Sie haben sie. Es gibt Polen, die aus anderen Teilen des Landes herkommen um Mädchen aus der deutschen Minderheitenliste zu heiraten, nur wegen der Arbeit in Deutschland. Diese Minderheit steht sich finanziell besser als Polen mit gleicher Ausbildung und Arbeit, die nicht ab und zu raus können (konnten, denn jetzt kann ja jeder raus). Es ist mehr das leichter Rauskönnen (da leichter arbeiten zu können) als das Deutschtum an sich.
Die polnische Minderheit von damals werde die deutsche Minderheit von jetzt, sagt ihr Mann später. Jetzt, wo kein Visumszwang mehr herrscht, normalisiere sich das wieder, sagt sie.
Deutschtum aus der Tiefkühltruhe. Was Deutschtum nach dem Heil-Hitlergruss ist, wissen sie nicht, nicht aus eigener Erfahrung. Ihres stecken sie 1945 in die Tiefkühltruhe. Hinter deutscher Grenze schlagen Deutsche Polen. Das Minderheitenproblem ist nicht das eigentliche Problem, das geht vorüber. Das eigentliche ist die Armut und, als Folge der Armut, der soziale Absturz. Sie spricht mit den deutschstämmigen Bürgermeistern: Sie sind Bürgermeister in und für Polen, nicht für und in Deutschland, nicht für die Minderheit, Sie müssen den ganzen Komplex meistern. Es kommt Geld aus Deutschland, auch privates. Sie setzt sich dafür ein dieses Geld dem Gesamtgebiet zugute kommen zu lassen. "Es kommt mit darauf an, wie gross die Minderheit ist und welchen Anspruch sie erhebt", sagt sie. "Vier Deutschstämmige im Parlament ist zu verkraften, sogar zu befürworten. Bei spätestens acht geht's schief."
Ich bin Zaungast bei einem Interview eines deutschen Journalisten. Seine Frau ist aus einer Stadt nicht weit von hier, südöstlich von hier. Als sie einundzwanzig ist, siedeln die Eltern um in den Westen, nehmen die Kinder mit. Damals und noch immer kann sie es nicht begreifen. Gut zehn Jahre wohnt sie jetzt im Westen. In jene Stadt fahren sie jetzt nicht.

Um 15 Uhr 30 hole ich die Senatorin in ihrem Büro ab. Unterwegs kauft sie Fischsticks. "Wir können jetzt, von der Arbeit kommend, einfach unterwegs kaufen, was wir brauchen oder wollen. Kaufen, wann es etwas gibt und was es gerade gibt, ist vorbei. Wir essen, was und wann wir wollen, legen keine endlosen Vorräte mehr an." Sie freut sich über jedes neue Firmenschild, über jede Fassade, vor der Baugerüste stehen. Sie hat das Essen schon vorbereitet. Suppe, für Polen ist ein Essen ohne Suppe kein Essen. Fischsticks, Kartoffeln, Salat. Während wir schon essen, kommt ihr Mann. Sie sprechen - ich spreche kein Polnisch - deutsch miteinander. Sie müssen gewohnt sein deutsch miteinander zu sprechen, sie suchen nicht nach Wörtern. Mit dem Sohn, der kurz vorbeikommt, sprechen sie polnisch. Ihr Mann ist sechzehn, als er sich damals für Polen entschliesst. Als sie vor ein paar Jahren für ein paar Monate an die Göttinger Universität eingeladen wird, fühlen sie sich da fremd.
Wir setzen uns in die tiefen Sessel, trinken Kaffee und einen Cognac. Sie möchte die Zeichnungen sehen. "Das ist ein persischer Schädel, das ein jüdischer, ein tatarischer, ein polnischer...", sagt sie.
"Für solch Unternehmen ist Zugang zu Menschen vonnöten, zur Fremde", sagt er, "muss man Geduld haben, allein und einsam sein können, warten können." Er schaut mich an. "Ich gehöre zu denen, die überall mehr oder weniger zuhause sind, oder eben nicht." "Zu den Glücklichen? Oder Unglücklichen?" "Es ist so. Zeichnen kann überall geschehen." "In Abgeschlossenheit?" "Wenn der Stift in meiner Hand das Papier berührt, ist es um mich geschehen. Für jede Zeichnung gibt es nur ein Blatt. Jeder Einbruch in dieses um mich Geschehensein, jedes Weglaufen davor, Ablenken von dem, was sich zeigt, steht da. Manchmal muss ich mir die Möglichkeit weglaufen zu können nehmen."
Ich packe die Zeichnungen wieder ein. Er erzählt einen Witz. Wie so oft, folgt nach dem Sehen der Zeichnungen Stille. Und dann irgendetwas. Etwas muss man doch sagen. "Am Anfang liegt der Abwässerteich der Hochöfen Chorzows mitten in der Stadt. Er schillert. Der ihn überziehende Film spiegelt das Sonnenlicht wider, das Abendrot, den Mond, die Sterne, die Morgendämmerung, verzaubert uns mit seiner Farbenpracht. Wir scheuen keinen Umweg um an seinem Ufer stehen zu können. Dann, das ist noch gar nicht so lange her, schütten sie ihn zu."
Ich gehe. Schlendere zum Bahnhof. Übermorgen bin ich wieder hier, bleibe zwei Nächte, fahre von dann an ohne Rückstiche weiter nach Berlin. Mit keiner Station bis dahin verbindet mich etwas.
Im Kloster bringen sie mir Essen.

 

Für ein paar Stunden steche ich zurück nach Krakau. Gehe kurz zum Goethe Institut, in die verwickelte Unantastbarkeit der Boten deutscher Kultur mit ihrer Abstand gebietenden gereichten Hand im Türrahmen und lächelnd angebotenem: "Wir tun, was wir können." Ich muss noch jemanden aufsuchen. Der ist nicht da. Die Bäckerei, wo ich vor zehn Tagen ein Stück Kuchen gekauft habe, ist weg. Der Laden wird renoviert. Ich trinke irgendwo Kaffee, und noch eine Tasse, sitze nur da. Sitze noch eine Stunde lang auf dem Bahnhof.

 

Opole. Ich wohne gleich gegenüber dem Bahnhof. Es nieselt. Ich habe kein Ziel. Es ist nichts als ein durch die Strassen Laufen, ein mich über den Fluss Wagen. Flüsse haben etwas Magisches für mich, als greife sie zu überqueren in meine Wahrnehmung ein, verlagere sich das, woher ich komme. Nie kann ich davon ausgehen in Vertrautes wiederzukehren.

"Nysa", sagte der Mann der Senatorin, "ein paar Reste zeugen noch immer von seiner Schönheit. Den Brand stiften sie nach dem Krieg."
Mit dem Bummelzug fahre ich hin, folge den Taschen schleppenden Menschen durch eine Anlage, entlang einem Kloster. Bin auf dem Markt. Streife weiter. An jeder Ecke bieten sie Kirschen und Beeren feil. Vor einem Kiosk beim Fluss sitzen Männer, feixen, trinken; und eine Frau. Ich gehe zur Brücke. Ich will in den Fluss spucken. Die Idee, dass meine Spucke irgendwann durch Stettin kommt! Auch wenn ich sie nicht höre, nicht sehe, weiss ich, dass sie mir folgen. Auf der Brücke stehen sie neben mir, zwei grinsende Visagen, umtanzen mich mit obszönen Gebärden. Ihr Atem auf meiner Haut. Die greifenden Hände. "Scheisse!", krakeelt der eine, fasst meine Brust. Sein Gesicht kommt noch näher. Der andere lacht. Ich drücke sie von mir ab. Sie sind viel stärker als ich, besoffen. "He! Schwesterchen!" Die gebleckten Zähne. Und es bricht diese Tirade aus mir heraus. Auf Niederländisch. Diese Kehllaute, die da aus mir herausbrechen, sind wie das Fauchen einer Katze. Es hört nicht auf. Mein Leib ist ein einziges Fauchen. "Nicht verstehe!", ruft der eine. Und wieder dieses "Godverdomme!" aus meinem Rachen. Sie kühlen ab: "Nicht verstehe!", zischen ab. Ich zittere. Spucke nicht mehr in den Fluss. Gehe zurück in die Stadt. Sie hätten mir etwas angetan und keiner der Passanten, der Vorbeifahrenden in ihren Autos hätte angehalten. Der Eindringling hier bin ich. Die, die herkommen, aus dem Westen - wie schäbig du dich auch anziehst, immer verrät sich der Westen an dir. "Reiche Scheisser, die jetzt zurückkommen, ihre Wohnung sehen wollen, die Strassen von früher, den Friedhof, die Polacken im Dreck!" Nur wenige Kilometer südlich liegt die Tschechoslowakei, Tschechien. Angriff an helllichtem Tag unter Menschen. Ich zittere noch immer. Diese Stimme aus mir, dieses Fauchen. Ich setze mich nirgends hin, gehe durch die Anlage, entlang dem Kloster zum Bahnhof. Da in einer Imbissbude kaufe ich ein belegtes Brötchen, eine Salzgurke. Nehme den Bus, eine andere Strecke. Das wogende Grün der Weiden und Felder. Der Brand, der Zorn nach der Wende.

Ich lasse mir in Zgorzelec ein Zimmer reservieren. Drei Nächte will ich diesseits, direkt an der Grenze verbringen. Breslau (Wroclaw ) lasse ich aus. Noch eine Stadt nur, Plätze, Strassen voller Gesichter. Ich werde schwer von Gesichtern, von trägen Leibern, fahriger Hast. Was tun sie mit all den Stunden, in denen sie früher anstanden? In einem Warenhaus kaufe ich Plastikbeutel aus Holland.

"Keine entspannten Gesichter", fragte der Mann der Senatorin noch. "Manchmal ein Anflug - weg." Entspannung? Es ist mehr aus immenser Übermüdung keinen Widerstand mehr leisten zu können, als sich tatsächlich zu entspannen. Ein sich Gehenlassen im Rausch von Schnaps, der Freiheit - dem 'Nichtsmehristunerlaubt!', wie sie denken. Hier tanzen Besoffene wie Engel.
Abends im Rotwein schwimmt Eis.
Auch unterwegs wachsen Nägel und Haare.
Morgens beim Frühstück schon klammern sich die westlichen Geschäftsleute an ihre Diplomatenkoffer.

"Was gedenken Sie hier zu finden?" "Eine Spur meiner Eltern, den Geschmack ihrer Stadt." "Das Grab ihrer Mutter", sagt das Zimmermädchen, "manche finden, manche nicht."
Ich stosse noch auf den Russenmarkt, ich bin süchtig nach diesen Märkten.

 

Auf dem Bahnsteig sitzt ein alter Deutscher. Er fährt wieder weg. Erschrecke dann vor der unerbittlichen Härte der Linien auf dem Papier. Ich radiere sie aus. Sogar der Hauch, der stehen bleibt, spricht von unerbittlicher Unantastbarkeit. Der kantige weisse Schädel, die erschlafften, ehedem so verspannten Sehnen des mageren Halses, der mageren Hände. Unantastbarkeit. Er ist freundlich, spricht angeregt mit seinen polnischen Verwandten. Wo fängt solche Unantastbarkeit an, die den anderen mit freundlich gereichter, manchmal doppelter Hand auf Abstand hält, auf seinen Platz verweist, mit exakt geöffnetem Mund, exakter Artikulation, die bitteren Schweiss in mir ausbrechen lässt.

"Kein einziger Deutscher lebt in diesem Leben, aber sein Körper ist pflichtbewusst und genau. (...) Der Kampf ist vom Marktplatz des Alltags voll und ganz auf die Höhen des Geistes verlegt. (...) Sie haben keine Barrikaden, aber sie haben philosophische Systeme, die die Welt sprengen, und Gedichte, sie zu erschaffen. (...) Deutschland, das ist: Schraubstöcke für den Körper und elysische Gefilde - für die Seele." (Marina Zwetajewa, Tagebuchnotizen 1919)
An Breslau vorbei. Der Mann mir gegenüber packt Stullen aus. "Bitte", sagt er, "greifen Sie zu. Essen Sie."

 

Zgorzelec. Ich habe mein eigenes Bad und Klo.
Ich gehe zur Grenze. Ich will die Grenze sehen. In der Hotelhalle sitzen Roma: Männer, Frauen, Kinder. Es sind keine Bettler.

"Der Fluss, die Rote Armee zerschneiden damals ganze Familien", sagt der Alte, "wer weiter vorn im Treck ist, ist in Deutschland. 'Nicht mehr über den Fluss! Du: Pole!', sagen sie auf einmal. In der Schule liegen wir. Da. Aus Königsberg. Ein Sohn ist später rüber gemacht. Dieser hier? Ach, er will ein Mädchen." Die Hand schlägt's runter. Der Sohn will eine Karte aus Amsterdam.

Natürlich ist die Stadt verkommen. Die Kneipen füllen sich. Überall Romnija mit Kindern.
Freitag- und Samstagabend ist das Restaurant des Hotels Disco. Live Musik. Bunte, sich drehende Scheinwerfer. Lautsprecher. Empfangsdame. Eintrittsgeld für Nicht-Hotelgäste. Westdeutsche, die in Görlitz arbeiten und sich hier amüsieren kommen. Einer setzt sich zu mir an den Tisch. Geht wieder. Die Mädchen in Mini. Das ist ihr Abend. Die ganze Woche haben sie nach diesem Abend verlangt, dem Zeigen der schönen Beine in Stöckelschuhen, dem Umschlingen von Hälsen, den Händen auf Hintern. In einer Ecke sitzt der Romaboss, allein. Die Musik zerreisst einem die Ohren. Sie tanzen, trinken, lachen. Immer mehr kommen. Tanzen. Trinken. Lachen. Sitzen einsam an der Bar. Ich gehe auf mein Zimmer. Gehe wieder runter. Nur die Glühbirne im Bad funktioniert. Der Portier bringt Glühbirnen. Ich trinke noch ein Glas Wein, zeichne. Die Musik dröhnt. Die Bässe brüllen durchs Haus. Das Zimmer neben meinem beherbergt die Wochenendhure. Sie verdient gut.

 

Wo gestern die Disco tobte, ist jetzt fürs Frühstück gedeckt. Eine Alte mit Kittel putzt an Türen und Täfelung rum. Abgerackert, müde, mit verschrobenem Rücken, hängendem Bauch, gichtigen Händen zockelt sie auf der Aussenseite der Schuhe durch den Raum. Ihr Haar ist spillerig, strähnig. Ab und zu fegt sie mit dem Handrücken über die Stirn, schiebt die Strähnen zurück.

Viele Deutsche wohnen in diesem Hotel. "Es ist dreimal so billig", höre ich sie sagen.
Ich gehe zur Grenze. "Samstags kommen die Deutschen in Scharen!" Sie kommen in Scharen. Sturen Schritts und Gesichts und nach vorn runterhängenden, im Gegenschritt rudernden Armen. Ich stehe auf der Seite, auf der sie nachher zurückströmen werden, heim. Da läuft noch niemand. Einer kommt auf mich zu, reicht mir die Hand, stellt sich vor. Ein paar Brocken Deutsch. Für ihn kommt die Öffnung zu spät. Man gibt ihm keinen Pass, er ist Säufer, Penner. Die deutsche Masse strömt durch die Stadt. Ich ströme mit. Preise sind in DM angegeben, auch die der Körbe mit Beeren an den Strassenecken. Auch die Romafrauen und -kinder betteln um DM. Eine Mark, das sind 6000 Zlotys. In Warschau und Krakau bekommen sie 100, vielleicht 500 in die Hand oder hingeworfen. Auf dem offenen Grasfeld vor Wohnblocks an der ehemaligen Peripherie lagern sie. Vor neueren Wohnblocks, ein Stück weiter noch, liegt rechts der Markt. Buden, Stände, Würstchen, Schaschlik, monströse Vasen, Lederwaren, Zigaretten, Obst, Gemüse. Die Mädchen von gestern in der Disco haben ihren Platz hier in den Buden, verkaufen den Handel. Roulette. Bier, Schaschlik, Bockwurst, Bratwurst, die Vasen. "Guckemal, nur siebzehn Märker!" Tschechen verkaufen hier, Roma, Rumänen, Russen. Seidenblusen, Seidesakkos, Kassettenrecorder, Kassetten, Zigaretten. Noch ist alles grauer, viel grauer als im Westen. Kaufgier braucht niemand zu lernen. Das Betasten mit den Augen, den Händen.

Kauende Kiefer. Die Vase zwischen sich, Körbe, das Paradekissen, Zigaretten, Gemüse, Kinder mit Puppen und Spielzeug. Zur Grenze. Heim. "Nun sei doch endlich!" Vaterhände rütteln straff. Kinder quengeln. Vom Kehlkopf an nach oben, da quengelt man. Auch das eine Kind in Masuren quengelte.
Sie gehen durch die Kontrolle, über die Brücke.
Vor dem ehemaligen Kulturpalast ist Kunsthandwerksmarkt. Laut dröhnt Discomusik. Im Park spielen Männer auf einem Riesensteinbrett Schach.

Ich will in der Stadt essen. Tue es nicht. Die Essgelegenheiten entlang der Kaufroute sind auf Massenbetrieb abgestimmt. Die Gesichter der Marktfrauen und kleinen Geschäftsfrauen hier sind nicht wesentlich anders als die der Marktfrauen und kleinen Geschäftsfrauen in Deutschland oder den Niederlanden. Wo immer sie zuhause sind, sie können es sich nicht leisten besoffen zu sein.

Sie ist müde. Ihr Deutsch fehlerfrei. "Bitte, wo treffen wir uns", fragt sie. "In Dresden." "Die Maschinen können wir liefern. Was kostet die Reise mit dem Zug." Ihre Hände waschen sich trocken, nervös: "Es ist Qualität! Sicher!" Seine Eltern sind damals da, ihre hier.
Wieder dröhnt in der Nacht die Disco, beben die Bässe, verdient die Wochenendhure gut.
Beim Sonntagsfrühstück sitzt die Polin allein. Die teigigen Züge des breiten Gesichts mit dem blonden strähnigen Haar. Vor dem Romaboss stehen zwei Eier im Glas. Die Frauen und Kinder der Sippe setzen sich zu ihm.

 

Aus der Kirche direkt am Busbahnhof hallt eine Messe. Ich warte auf den Bus nach Bogatynia. Das liegt in einer Schluppe Polens zwischen Tschechien und Deutschland.
Entweder ich fahre sofort wieder zurück oder bleibe zweieinhalb Stunden. Ich bleibe zweieinhalb Stunden. Fachwerkhäuser. Deutsche Namen. Ich gehe hoch zur Kirche. Auch hier hallt eine Messe aus der Kirche. Es ist beinahe 11 Uhr. Die Besucher der nächsten Messe versammeln sich. Die Frauen haben sich fein gemacht. Die Männer tragen ihre guten Anzüge, die Kinder ihre Sonntagskleider, Söckchen, Schleifchen im Haar, haben gewaschene Hände und gewienerte Gesichter. In diesen Orten, wo bis auf Verkommenheit und Elend nichts ist, übt der Sonntagsgottesdienst auch die Funktion des sich dem Publikum Zeigens aus. Die Ehe ist in Ordnung, die Kinder sind sauber, der Bauch der Frau ist wieder gefüllt. Man ist dick: hat zu essen.
Die Kirche wurde 1309 erbaut, im 17. Jahrhundert wiedererbaut.
Auf Grabsteinen steht: ... der hohen Hand des Herzogs..., Krause, Carl Max Lietscha, Carl Reinhold Schellschmidt, geb. Schwede, Burghard.
Der Friseur hat wieder Frisiersalon auf sein Schild geschrieben. Eine alte Möbelfabrik. Noch eine Fabrik. Verkommene Anlagen, Strassen. Wie wunderschön das Fachwerk gewesen sein muss. Auch um 13 Uhr füllt sich die Kirche. Wenn je auf eine Stadt Trostlosigkeit zutrifft, ist es diese. Der Strom der sich fein gemacht habenden Kirchgänger kann nicht darüber hinwegtäuschen, der Nieselregen das Bild nicht verschlimmern. Die Frauen tragen blaues Haar. Entweder Blau ist in oder es gibt nur Blau. Ein Besoffener tanzt auf der Strasse, prallt gegen einen Staketenzaun, tut einen Schritt. Ein Passant fängt ihn auf, klebt ihn wieder an den Zaun. Im Schalterraum frage ich noch einmal nach der Abfahrtzeit des Busses. Sie werden sich daran gewöhnen müssen, dass Touristen kommen und nach Abfahrtzeiten fragen. Ich setze mich nach draussen, warte auf den Bus. Sonntag ist hier Sonntag.

Ich gehe noch runter zur Grenze. Ich will morgen zu Fuss nach drüben, will sicher sein, dass ich das schaffen kann, mit dem Rucksack, dem Karren mit den Zeichnungen. Zwanzig, vielleicht dreissig Minuten? Ich weiss nicht, wie weit es auf der anderen Seite ist. Gibt es da bezahlbare Hotels? Ich wage niemanden zu fragen. Ich laufe am Fluss entlang und wieder zur Grenze. Die Autoschlange nach drüben ist lang. Wieder frage ich niemanden.
Jemand ruft meinen Namen. Der Säufer, der Penner von gestern, der mir die Hand reichte, sich vorstellte, mir seine Geschichte erzählte. Ich winke, gehe weiter, gehe zurück, reiche ihm die Hand. Ich setze mich ja auch neben Schauspieler, Scharlatane, neben weiss ich wen. Ich setze mich neben ihn auf die Stufe. "Sabina." "Morgen verlasse ich Polen." Wieder die Geschichte vom Pass. Trinker bekommen keinen Pass. Er bietet mir Brot an, hält mir die Flasche hin. Ich breche mir ein Stück Brot ab. "Nein, keinen Wein." Dann verabschiede ich mich, gehe.

Im Hotel fragt mich ein junger Deutscher, wo er Geld wechseln könne. Das ist morgen erst möglich. Ich lade ihn zum Essen ein. Danach laufen wir noch lange durch die Stadt und am Fluss entlang, weiter als ich mich zu dieser Stunde hier allein gewagt hätte.
Den Kopf festgesetzt zwischen den hochgezogenen Schultern, geht er neben mir her. Alle Kraft gebührt diesem Schulterjoch, in dem er festsitzt, an dem er hängt. Er läuft wippend, den Blick auf den Boden gerichtet. Die Arme und also was die Hände tun, scheint nicht im Leib verankert.
Ich bitte um meinen Schlüssel. "Der Mann, nein!" "Zeigen Sie ihr Ihren Zimmerschlüssel", sage ich.

 

Der Pole vor der Brücke schaut in meinen Pass, schaut mich an: "Sabine, Angela?" "Dobrze." Er gibt mir den Pass zurück. "Do widzenia." "Do widzenia." Wir lachen.


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