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ISRAEL 1

Tel Aviv. Leute mit Pappschildern mit Namen drauf. Vom Flughafen aus buche ich ein Hotelzimmer für die ersten zwei Nächte. Es ist mir zu teuer, liegt auch nicht im Zentrum.
Sommerabend im November. Südliche Gebärden. Männer in Schwarz. Frauen mit Haarnetzen über Perücken, wenig schmeichelhaften Röcken bis über die Knie und Wägelchen voller Kinder. Ich warte auf den Bus. Einer, der auch da steht, lebt in New York, geboren ist er in Deutschland. Der Junge neben mir im Bus muss zum Militär. Der Portier des Hotels kommt aus Russland.
Zusammen mit einem Ägypter und dem Sohn seiner niederländischen Frau, die auch hier übernachten - "Sie sassen im selben Flugzeug", sagt er -, gehe ich noch essen. Im Restaurant habe ich das Gefühl, dass es darauf ankommt, dass man eben isst. Ich wollte ja nur raus aus dem Hotel. "Seit Sadat brauchen wir kein Visum mehr. Sadat ist ein Mensch."
Er wollte seiner Familie seine Tochter und seine Frau zeigen, und ihren Sohn. Die Tochter ist noch zu klein für solch eine Reise.

Klondike, denke ich beim Betreten des Frühstücksraums. Die Alte mit den schnoddrigen Gebärden, der glänzenden Haut der Hitze hier, den Falten der Jahre, die den Laden hier schmeisst, berlinert mit dem Alten, der ihr hilft.

Menschen wie in Polen, Russland, Deutschland, sicher die älteren. Was sie anhaben, zeugt noch von da, auch Gang und Haltung. Es könnte jede osteuropäische Stadt sein, mit Sommer im November und Palmen und einer grossen Zahl dunklerer Gesichter und Gebärden und vollen Läden.

Immer wieder treffen mich Anzeichen eines dauerhaften Provisoriums, sogar im Goethe Institut. Der Direktor ist Deutscher. Als haben sie noch nicht alle Koffer ausgepackt. "Nie wieder fahre ich nach Polen", sagt der Mann, mit dem ich da spreche. Wir sprechen Niederländisch. Geboren ist er hier. Seine Eltern gehen dann mit ihm zurück. Sein Land jedoch ist Israel. "Südlich Krakaus treffe ich den alten Juden, gehe mit ihm nach Hause. Er holt Thora und Gebetsriemen, rollt die Thora aus. 'Kaufen?' Sabine, so weit ist es gekommen, das ist übrig geblieben: die Thora verkaufen!"
"Der ist ein guter Dichter", sagt er, "er spricht sich für unseren Krieg hier aus."

Gegen Abend gehe ich zu einem russischen Maler, dessen Adresse ich von einer in Riga geborenen, in Brüssel wohnenden Freundin meiner Schwester habe. Er wohnt mitten in der Stadt, unweit vom Strand. In der Nes Ziona Strasse, um die Ecke bei ihm, finde ich das Nes Ziona Hotel. Es ist billig. Es ist sauber. Morgen früh kann ich einziehen. Ich schreibe diesem Maler noch von Zaltbommel aus. Ich konnte ja nicht mehr davon ausgehen erwartet zu sein. Wunder treffen dich wie Blitze, reissen, katapultieren dich aus herrschenden Kräfteverhältnissen heraus. Aufgeklafft schaffst du dich weg, wie eine Katze, die ihre Todesstarre aufkommen fühlt, ihren Korb verlässt, ein Krebskranker, der nach der letzten Chemostation sein Skelett noch einmal über seine Grenzen hinausreisen lässt. Suchst Bestätigung und Unterkommen bei dem, durch den der Schlag dich getroffen hat.

"Tee?" Der Maler faltet seine Hände im Nacken, streckt sich zurück. Seine Frau arbeitet für eine russischsprachige Zeitung. Sein Englisch ist schlecht. Das ihre etwas besser. Ich spreche weder Russisch noch Iwrith. Es ist nicht nur die Unkenntnis einanders Sprachen, die die Verständigung so schwierig macht. Es springt kein Funke über. Ich denke an die Wärme bei W's Freund in der Diaspora Moskau; auch wenn diese Wärme verduselt, die Augen trübt, den Abstand unwesentlich erscheinen lässt, wärmt sie, lässt Funken wenigstens aufkommen. Einer kommt, knallt eine Druckfahne auf den Tisch: "Sollen sie gleich die volle Hoffnungslosigkeit ihrer Situation in ihrem Zion bestätigt bekommen, so wie sie kommen und woher."
Immer wieder blättern sie meine Fotobüchlein durch, weist der Maler mit dem Finger auf die Gesichter, die Menschen darin; unter dem hier herrschenden magischen Realismus, der Feinmalerei im Regal, der dazugehörigen erklärenden Philosophie. Er ballt die Faust, beisst die Zähne schräg aufeinander, ruft an, ruft noch einen an. "Geh zu dem, der schreibt fürs Theater."
Moskauer Freunde kommen. Anderthalb Jahre sind sie jetzt hier. Ein Kind. Zwölf. In einem Kibbuz zwischen Tel Aviv und Haifa. "Moskau ist Gefängnis. In Moskau denken wir nur immer an Gehen. Nicht wegen des Geldes. Ich fange an zu atmen. Es kann nicht auf der Stelle gut sein. Wir sehen die vollen Läden. Wir haben kein Geld. Ich lerne Iwrith."
Ich gehe fremder als ich komme.

"Krieg ist geil", quakt der Amerikaner in dem türkischen Restaurant. Er wirft Bomben. Seit zwanzig Jahren. "Wirklich geil. Nichts ist geiler als das Abwerfen von Bomben."
Die Rücken der Menschen hier sind gewaltsam geradegezogen. Der Knick sitzt oberhalb des Gesässes. Sie essen viel und schnell. Sind rastlos in dieser Hitze sogar. Mancher sitzt eben im Schatten. Manche schlurfen. Immer sind sie angriffsbereit.
Der Angreifer geht nicht davon aus, dass ihm gegönnt ist, was er braucht oder will, geschweige denn, dass er erwünscht ist, geht auf Abstand, auch wenn er dabei Hand an jemanden legt.

Auf meinem Papier zeigt sich ein Gesicht ohne Nase, ohne Mund, ohne Augen, offenen Kinns. Damals, anhand der Texte von Bruno Schulz, stosse ich nach Jahren des immer von neuem Nachziehens und Aufdeckens von Spuren auf eben solch Gesicht.

Ich ziehe um. Bei der Rezeption sitzt ein Alter, schreibt in Hefte, auf Zettel, die Nase beinahe auf dem Papier. Schaut auf. Mein Zimmer ist im dritten Stock. Fliesenfussboden mit Brücken. Die Wände sind kahl, die drei Betten: nicht mehr als das. Ein Schrank, ein Waschbecken, in der Ecke eine Dusche, ein Stuhl, drei Nachttische. Auf einem der Nachttische steht eine Vase mit frischen Blümchen. Ein Balkon zur Strasse raus. Die Balkontür schliesst nicht. Das Klo ist auf dem Flur. Eine Klingel, für den Fall, dass jemand mich am Telefon verlangt oder beim Empfang nach mir fragt. Es sieht nicht so aus, als habe dieses Hotel im Anfang gloriosere Zeiten gekannt. Es ist sauber. "Seit sieben Generationen wohnt meine Familie hier. Was Sie von Israel auch denken mögen", sagt der Alte, "unser Klima ist herrlich."

Die Instanz, an deren Postfach ich meine Briefe an M adressiert hatte, ist nicht mehr hier. "In Jerusalem können sie Ihnen weiterhelfen." Was mich ihn suchen lässt? Jene zwei Stunden. Das Auge-in-Auge-Sein. Weder liess sich der Verlauf meiner Reise voraussagen noch, ob beide von uns die vereinbarte Station schaffen würden. Und hätten wir einander dann wieder erkannt? Ich musste diese Reise unternehmen, es gibt keinen anderen Grund. Keiner meiner Briefe an ihn ist zurückgekommen.

Die Figuren vieler hier sind gedrungen, die Hälse nicht so lang. Sie kauen, stecken in ihre Münder, lesen kauend in Zeitungen. Der Nussverkäufer kommt aus dem Irak. Ich denke an dahingestellt Sein. Wieder taucht das Wort Figur in meinen Notizen auf wie in Berlin und in Moskau. Die Moschee Richtung Jaffa ist mit Metallplatten umstellt. Grund und Boden drum rum liegen brach, mit Halden Unrat, Brocken von Wänden, von Fliesen. Dahinter erhebt sich ein modernes Betonhotel, ein ganzer Betonkomplex.
Diese scharfen Knicke zwischen Rücken und Gesässen. Ihre Arme schwingen wie Gehänge oder sind fest an den Leib gepresst.

Von diesem Umbruchfeld der Stadt aus lande ich im Geschrei und Rausch der Gerüche des Carmelmarktes. Kürbisse, Avocados, "Sheqel! Sheqel!", Riesenmangos, Minze, das Schlachten von Hühnern, von Lämmern, ihr Blut in der Gosse, Fische, Brot, Kleidung. Ich kaufe eine Avocado, eine Melone. "Was verlangt er? Passen Sie gut auf, er bescheisst jeden." Ich kann nicht feilschen. Manche kommen erst gegen Abend, wenn die Händler die Stände wieder abräumen, ans Verschleudern gehen.

Frühstück im Stehcafé an der Ecke. Der Frau hinter dem Tresen quellen die Lippen, die Augen hervor; darunter die dunklen tiefen Ränder. Der von irgendwann an dann hängen gelassene Schoss unter dem hängen gelassenen Bauch, den hängen gelassenen Brüsten, dem hängen gelassenen Gesicht. Sie beginnt mit dem täglichen Kampf gegen den Schmutz.

Theater bis zur Vergasung. Der Mann, der mir öffnet, weist still mit der Hand, ringt die Hände, zieht sich zurück in sein Kontor. Für mich müssen die Fotos entlang den Wänden alles sagen. Manchmal ein Brief in lateinischer Schrift. Ich stelle dem Mann mit den ringenden Händen eine Frage. Er zuckt mit den Achseln, hebt die Hände an, sie öffnen sich. Er schüttelt den Kopf.

Der Kopf des Mannes, der mir öffnet, ist gross. "Was möchten Sie trinken?" "Wasser." Die Wohnung ist angenehm kühl. "Auch Kaffee? Ich koche auch Kaffee. Siebente Generation." Er ist der, der fürs Theater schreibt.
Er bättert in den Fotobüchlein, den Texten, wir schauen die sechs Minuten Video meines 'Karnevals' an. Er schliesst die Augen, öffnet sie wieder: "Essenz. Kein Entkommen. Zucker? Sabina, auch ich rühre an die Essenz. Eine Klimax! Ich führe das Publikum mit den nötigen Ups und Downs dahin. Ein Plot. Ich besorge ihnen einen guten Abend. Sprache ist dazu da um auf Abstand zu gehen."
Klänge hallen aus meinem Leib, Hauche, Schreie.
"Ich schreibe ein Stück über gute und böse Menschen. Das Wesen des Bösen darzulegen fällt leicht. Lange weiss ich nicht, wie ich das Gute zeigen soll. Dann weiss ich es. Ein Maler entkommt allen Schrecken der Vernichtung. Man bittet ihn seine Erfahrungen zu malen, den Bildern in sich Form zu geben. Da stehen schliesslich nur Wälder, blühende Blumen, Wiesen auf seiner Leinwand. In ihm ist kein Hauch von Bösem!"
"Vor den Augen wie vieler, die morden, vergewaltigen, aus ihrer Macht heraus vernichtend zuschlagen, ziehen nicht blühende Rosengärten auf. Die Villen wie vieler, die morden, vergewaltigen, zuschlagen, sind nicht von duftenden Gärten und Parks umgeben."
"Du solltest Hanna anrufen, wenn du in Jerusalem bist."

Morgens sehe ich ihn federnden Schrittes und gesenkten Kopfes mit seinem Hund zum Strand gehen, und zurück.

 

Ich fahre zum Busbahnhof. Ich will riechen, dass ich die Stadt verlassen kann. Städte sind Ellipsen, Anhäufungen von Ellipsen. Mit dem als Zentrum anerkanntem Brennpunkt und jenen, wo du ankommst, von wo du weg kannst.

Tel Aviv hat keinen Zentrums-Brennpunkt, flattert herum. Sein wahres Zentrum ist dieses Von/Nach/Her/Hin. Jerusalem, Haifa, Tiberias, Be'er-Sheva, Eilat. Die Namen schon!
"Die Fahrpläne, bitte." "Sie sollten..." In diesem Zimmer, mit vor der Tür starr dasitzenden Weissäugigen, die Telefonmünzen, Nüsse, Lose ausschreien, Bettlern, Frauen in Tüchern, Soldaten - Männer, Frauen - mit Gewehren, Chassiden, Beduinen, den Herrenklos hier, den Damenklos da, dem Verschlingen von Essen, dröhnenden, stinkenden An und Ab der Busse, höre ich mich ganz leise sagen: "Ich mag keine Gruppenfahrten." Bin wieder zwischen den Bussen, den Menschen in westlicher Kleidung, Männern in Kaftanen. Da steht der Mann, der "Sie sollten" sagte vor mir. "Kommen Sie." Er gibt mir Prospekte. "Dies. Dies. Allein können Sie da nicht mehr hin. Die Gruppen sind klein." Einer ohne Beine schiebt sich runter von seinem Brett mit Rädern. Pinkelt. Schiebt sich wieder rauf auf das Brett. Shoarma. Falafels. Ich möchte Kaffee. Wie teuer der ist. Ich handle nicht runter. Ich könnte zum letzten Mal hier sein, warum sollte er mich für diesen Genuss nicht zur Ader lassen. Durch das Flimmern der von Abgasen geschwängerten Luft, entlang schwarzen und weissen Schaufensterpuppen, schleppenden Menschen. Nach, ich weiss nicht wie langer Zeit, stehe ich vor einem Betonengel mit Betonflügeln neben einem Betonlöwen. Ich muss sie wiederfinden. Muss meinen Fotoapparat mitnehmen. Niemand glaubte mir diesen Engel. Ich habe immer eine Flasche Wasser bei mir. Die Hitze dorrt die Leiber aus. Entlang Werkstätten, Wohnblocks, Lastwagen mit Kisten mit russischen Buchstaben.
Durch Strassen, wo Werkstätten, Häuser, Lager reihenweise verfallen,
- links liegt das Betonzentrum -,
an einer Kirche vorbei
- links liegt die Moschee mit dem Unrat davor, das Umbruchfeld -,
an Läden. Die alte Eingefallene auf dem Stuhl stopft, die Linke um den Bauch, mit der Rechten Brot in den zahnlosen Mund. Kaut mit den Kiefern. Manchmal nimmt sie die Linke vom Bauch ab, schiebt nach, legt sie zurück um den Bauch. Ich bin im Rausch der Früchte, Schreie, befühlenden wiegenden Hände des Marktes.

 

"Das Nes Ziona war meiner Familie erste Bleibe hier", sagt sie. Ich weiss nicht, zu wie vielen in einem seiner Zimmer mit Balkon sie damals, erschlagen von der Zeit hinter sich, dem Weg hierher, hausen. Auch der, der mir in Amsterdam ihre Adresse gab, wohnte vorübergehend da bei ihnen auf dem Balkon, einem Balkon nach hinten raus. Sie sind aus derselben polnischen Stadt. Vor einem Jahr sieht, sehen sie diese Stadt seitdem zum ersten Mal wieder.
Wir treffen uns vorm Theater. Auch die alte Schauspielerin, die heute Abend auftritt, steht auf meiner Liste. Sie kennen einander. In Israel kennt jeder jeden, auf alle Fälle weiss jeder von jedem, oder eine Bekannte, oder eine Bekannte einer Bekannten.

"Sie ist unwahrscheinlich! grossartig!", zerschlägt jede wesentliche Bestandaufnahme des angekündeten Geschehens und unserer Teilname im Voraus. Als Grossmutter haut sie, ein Derwisch mit deutschem Akzent und deutschen Brocken, auf die zu ihr gebrachten Enkelkinder ein. Verhältnisse rechts und links. Kommt alles wieder in Ordnung. Der Saal ist voll. Keiner hat die Kraft aufzustehen. Keiner verlässt Saal oder Bühne dieser Farce, für die er 50 Sheqel hingeblättert hat, in der er für Geld und Applaus auftritt.
Freundinnen. Jene kommt aus Breslau, ihr Mann aus Berlin, jene auch aus Berlin.

Sie und ihr Mann sind nicht so weit voneinander entfernt aufgewachsen, ihr Mann gerade in Deutschland. Sie kennen sich seit frühester Kindheit. Ihre Kindermädchen kannten sich, vielleicht waren es auch die Eltern. 1936 geht er von Deutschland aus nach Israel, sie, später, von Polen aus auf Transport nach Samarkand in ein Internierungslager. In Israel treffen sie sich wieder, heiraten. "Es ist schon viel", sagt sie, "dass die Schauspieler nicht wie aufgescheuchte Hühner auf der Bühne hin- und herflattern. Sie müssen nämlich wissen, wir sind immer ein bisschen zu - zu liebenswürdig, zu gefühlvoll, zu, zu. Und dann müssen wir uns straff in Zaum halten. Kommen Sie Freitag essen? Ich lade Gäste ein."

 

Vor der Cinemathek, da müsse sie auf die Organisatoren des Jüdischen Festivals aus Krakau warten. Ich setze mich auf eine der Bänke, schaue. Ihren Namen und ihre Adresse habe ich von dem Mann aus Warschau, dessen Bescheidenheit an Erliegen grenzt. Ich sehe sie kommen, sich vor den Eingang stellen. "Wie können Sie wissen, dass ich es bin?" Sie zieht den Ärmel hoch. Zieht ihn wieder runter. "Ja, Hass ist sinnlos. Ich schreibe es mir ab. Die Nummer geht nicht ab." Dann kommen die aus Krakau, der, der die Hände im Nacken gefaltet sich zurückstreckte. "Um 17 Uhr im Café?" Im Café liegt ein Brief für mich: Leider...

Mit Blumen gehe ich zum Sabbatmahl, das morgen erst ist. Meine Zeit ist durcheinander geraten. Ihre Wohnung schaut aufs Meer. Die Einrichtung könnte in Deutschland, Polen, den Niederlanden stehen. Sie müssen weg. Sie klingelt bei einer Nachbarin: "Kümmere dich um sie."
Salate. 'Humus'. Eierpflanzenpuree. Dieser kalt servierte Brei hat etwas penetrant Angebranntes. Es gibt Grade Angebranntseins. Dieser übersteigt das Mass des für meinen Gaumen Zulässigen. "Schmeckt es Ihnen?" "Es ist neu für mich." "Wir essen sie hier immer so."
"Hinter ihrer Arbeit steckt eine Philosophie." "Nein, Hören und Sehen." "All das Schwarz in den Gesichtern."

"Haben Sie Aids? Nehmen Sie Drogen?" Klebrige Zudringlichkeit der Hurenläufer.

 

Im Café gegenüber dem Theater warte ich auf die alte Schauspielerin. Sie kommt mit ihrem Mann. Geblähte Nasenflügel, gerümpfte Nase, extrem gespannte Augenbrauenbogen, setzt sie sich mir gegenüber, er setzt sich an die Bar. Als demonstriere sie, dass sie den Augen mehr und der Stirn weniger Raum zukommen lasse. Das sich den Blick, die Wahrnehmung erweitern geht vom Grund deines Schosses aus. Jede Haltung, die nicht von da ausgeht, dahin rückgekoppelt wird, erzeugt schliesslich Rückzug, endet in Abwehr, in Resignation. Sie weiss das und weiss, dass ich das weiss. "Habe ich Sie erschreckt mit dieser Grossmutter?" Muss der feuchte Film auf ihr die Hitze wehren? Dämpfen? Der Kopf ist zwischen die Schultern und nach hinten gedrückt, das Kinn nach vorn. Die Mundwinkel zieht sie scharf runter, als müsse sie mit ihnen das Kinn herausschneiden. Der Rumpf ist ein einziger Block. Sie ist Deutsche. Sie und er treffen sich nach dem Krieg. Sie geht mit ihm, konvertiert. Wasser tritt in ihre Augen, wenn sie spricht. Dieses Wasser, das wir vor uns ausschütten, das uns die Augen wäscht oder den Blick verschwimmen lässt. Etwas stülpt sie vor, wenn sie spricht, hält anderes verspannt unter Kontrolle. Weder Arme noch Beine scheinen im Rumpfblock verankert. Es muss schwer Wuchten sein, eisernen Willens. Der Kopf sitzt fest. Jetzt hat sie nur diese halbe Stunde für mich. "Später", sagt sie. Dies Später gibt es nicht.

Ich gehe mit zur Verleihung des jährlichen Theaterpreises. Der Bürgermeister von Tel Aviv. Der jüdische Produzent vom Broadway mit der demonstrativ um seinen Hals gekräuselten jungen Schauspielerin. "Ich bewundere euer Spiel, euren Mut unter Intifada und Raketen zu spielen. New York! Aber erst kommen wir von da in dieses wunderbare Land mit diesen wunderbaren Menschen. Solidarität!"
Die alte Dame umarmt die Preisgekrönten mit ausgestreckten Armen und nassen Augen. Da stehe ich zwischen all den Leuten. Wir nehmen wieder Häppchen und Wein. "Wenn Sie die Chemie zum Kontakte Knüpfen haben", sagt ihr Mann. Chemie! Ich gehe auf Menschen zu. Mit manchen habe ich Kontakt, mit manchen entsteht eine Verbindung, mit manchen doch nicht. So wie ich Preise nicht runterhandeln kann, kann ich auch nicht einfach etwas sagen. Manchmal lastet die Spannung in Schweigen so arg, ist jedes Wort eines.

Beim Betreten von Warenhäusern und Supermärkten werden die Taschen kontrolliert.

 

Wieder kaufe ich Blumen. Gehe mit meinem Strauss runter zum Meer. Sitze da auf einem Stuhl, den Kopf an einen Pfahl gelehnt, das Gesicht der späten Sonne hingehalten. Noch zwei sitzen da. Eine graue Krähe. Sabbat rückt näher.

Gepresst vor Aufgedunsensein, Schritt für Schritt, rudernder Arme... "Darf ich", fragt er in meine gerade dunkle Ruhe. "Bitte." Er rückt einen Stuhl ran: "Störe ich Sie auch nicht?" "Nein." Er ist irr, beissend einsam. Alles prallt an diesem Gesicht, dem Posten dieses Leibes ab. Seine Sätze sind knapp, die Lippen Striche. "Ich wettere an Strassenecken gegen Korruption; der Regierung, der Opposition. Menschenschweine. Du kannst Menschen so martern, dass sie es nicht mehr spüren. Vollkommen gefühllos alles tun. Alles mit sich geschehen lassen. Marter, Mord befehlen, ausüben. Der Sechs-Tage-Krieg. Krieg ist Zynismus. Gebiert Zynismus. Du lechzt nach Marter. Immer ärgerer. Ihrer Ausübung: du hast Macht über die Martyrer; ihrem Empfang: du spürst noch."
Er lässt mich rein. Gleich links ist das Arbeitszimmer, rechts ein Zimmer mit grosser Couch, grossem Couchtisch, grossen Sesseln, grossem Bett, Fernseher, zwei Radios. Im Flur hängt eine Gitarre. Die Küche, die Katze, draussen hinter der Küche steht ein Topf mit Nana (Minze). "Es ist besser nicht geboren zu sein." An den Wänden mit der sicher noch nie erneuerten billigen ersten Tapete hängen kitschige Bildchen. Er schaltet den Fernseher ein, und die zwei Radios.
"Abknallen. Schweine. Tee? Kaffee? Nana?"
Packt Kuchen auf Teller:
"Iss, du bist zu mager." Nimmt die Rute vom Tisch. Schlägt durch die Luft in seine offene Hand:
"Alle Frauen schlagen. Züchtigen. Hexen. Alle. Ich stille meine Bedürfnisse. Essen, Trinken, Sex. Iss!"
"Du bist fähig zu töten."
"Ich treibe andere so weit, dass sie Selbstmord begehen."
Ich nehme einen Bissen von diesem übersüssen Kuchen, den Rest lege ich nicht wieder auf, sondern neben den Teller:
"Das ist indirekte Tötung."
"Sie sind zu schwach, sowieso."
Tiere mit offenen Wunden können sich dem Tötungswillen, dem Fluchtbefehl des Stärkeren nicht widersetzen, Menschen auch nicht? Die Flucht kann alles sein, sogar Hingabe, zu Willen sein. Dem Willen zuvorkommen, sich versteinern.
"Nur das Tote ist wirklich. Bis an den Rand des Todes ist nichts wirklich."
"Ist nichts was lebt leblos, setzt Zeichen."
"Nichts in Nichts."
Steckend zwischen den erkalteten Lippen seiner Geburt, besteigt der Menschensohn Menschentöchter, die ihre Geburt nicht weiter schafften als zwischen die erkalteten Lippen ihrer Geburt.
"Wenn du gehen willst geh."
Er schreibt mir seine Telefonnummer in die Hand:
"Rufst du mich morgen an?"
Ich nehme meine Blumen.
Noch zwei Mal gehe zu ihm, öffnet er, ein Schatten auf die Wand geworfen.
"Tee? Kaffee?"
"Nana."
"Du wirst süchtig."
Wieder ist der Fernseher, sind beide Radios an, packt er Kuchen auf Teller. Das zweite Mal gehe ich nach einer Viertelstunde Schweigen. Das dritte Mal ist ein paar Tage, bevor ich Israel wieder verlasse. Dann nimmt er ein Buch, singt Gedichte, erst auf Hebräisch, dann auf Englisch. Über die Tränen des Jordans, die Felsen, den Sand der Wüste, die Vergänglichkeit all dessen, was lebt, des Bewusstseins Schmerz.

 

All die Gäste, die diese Menschen, die ich vor zwei Tagen zum ersten Mal anrufe, für mich eingeladen haben.
"Schau", sagt der Gastgeber, "Sabine, so klein ist Israel und die Welt redet sich den Mund fusselig über uns."
Die Fotos, die Texte, die sechs Minuten 'Karneval'.
"Ich verstehe nichts von Kunst", sagt die Gastgeberin, "sehe nur, dass Schulz' Zeichnungen geschlossen, deine offen sind."
Wir setzen uns, tafeln.
"Sie kontrollieren sich", sagt die alte Dame, "Sie kontrollieren sich sowieso."
"Es gibt kein Tun, kein Nichttun und also kein Leben und also keine Kunst im Konjunktiv."
Sie überlebt, studiert hier Psychologie, gründet zusammen mit ihrem Mann ein Institut für hochintelligente Kinder. Jetzt ist ihr Mann tot.
Ich sage: "Wir erwarten Makellosigkeit von unseren Wissenschaftlern, unseren Medizinern, für unsere Künstler - uns selbst - setzen wir diese Grundbedingung Wissen schaffenden Tuns wissentlich und willens ausser Kraft, drücken ein Augen zu."
Sie antwortet: "In Bezug auf Makellosigkeit ist Kunst nicht nur ebenso streng zu prüfen wie Medizin oder exakte Wissenschaften, sondern wesentlich gnadenloser. Die Verantwortung, die der Künstler trägt,"
"und die jene tragen, die die Macht haben Kunst zu fördern und unter das Publikum zu bringen,"
"ist wesentlich anders, ist erheblicher. Kunst greift tiefer ein."
"Meine Enkelkinder essen immer auf. Ich bin stolz auf die Kinder. Ich kann kein Essen wegschmeissen", sagt die Gastgeberin.
"Damals essen Sie den Hunger bis zur Neige."
"Ja."
"Immer isst jene Zeit mit."
"Ja."
"Ich bringe meinen Kindern bei auf die Signale ihres Leibes zu horchen, auch wenn der Bissen schon im Munde steckt."
"Ich lasse mich einfach gehen, esse, esse", sagt die alte Dame.
"Das überessene, also negierte Halte-Signal setzt mit dem Bissen, mit dem ich es negiere, aus."
"Und das Essen auf dem Teller?"

 

Am Sabbat bist du ohne eigenes Fahrzeug eine Gefangene der Stadt, des Stadtteils sogar. Ich gehe runter zum Strand. Schlafe in der Sonne. Ziehe mich auf mein Zimmer zurück. Gegen Abend laufe ich über den Strand nach Jaffa, durch die alte Stadt und in der Dunkelheit über den Strand wieder her. Die Huren, die in der Hitze des Mittags schon anschaffen stehen, stehen noch immer anschaffen. Zwischen Strand und Hotel laufen Männer hinter jeder Frau her, die unbemannt und nicht wirklich alt ist.

 

Der Busbahnhof wimmelt von Militär. In allen Bussen sitzen sie mit ihren Gewehren.
Auch in Be'er-Sheva wimmelt es von Militär, vor allen Bussen.
"Heute ist doch kein Markt", sagt jemand in Tel Aviv. Ich will diesen Namen sehen.
Al die Gebärden, die 2000 Jahre, vielleicht viel länger schon, nicht mehr Sonne und Sand gehorchten. Erst beim Anblick der in Schwarz gehüllten arabischen Frauen - es sind keine Hüllen, die dem Leib schmeicheln, den Wind die Tücher um Hüften und Brüste flattern lassen -, der Beduinen, ahne ich die Wüste. Irgendwo steht eine Alte in der Tür, ruft ihre Hühner, streut Körner.

Zurück nach Tel Aviv. Gegen Abend fahre ich mit dem Bus ins Gewerbe- und Handelszentrum weit im Süden der Städteballung. In einer ihrer Hallen stellen sie frische russische Emigrantenmaler aus. Sie stellen sie aus, versorgen die Verpflegung mit eigenen Fabrikaten: Keksen, Kuchen, Gebäck, Brötchen, Pasteten, alle nur denkbaren Naschereien, die der Mensch nicht nötig hat und doch in sich hineinstopft, zwischendurch, bei Gelegenheiten, vorm Fernseher. "Nehmen sie den Bus", sagt der Abendportier, "passen Sie gut auf sich auf." Sich fein gemacht habende Menschen strömen her. Im Fabrikshof stehen unter Sonnenabschirmungen lange Tische mit eben diesen Keksen, Kuchen, Brötchen, Pasteten und Limonade, Papptellern, Pappbechern, Servietten. Neben der Tür zur Halle steht ein Podium mit Mikrofon, Miniband und Sängerin. Alle Stühle sind schon besetzt. Wer jetzt noch kommt, muss stehen. Ich gehe in die Halle und wieder raus. Macht das ihr Leben aus? Sind sie dafür hergekommen? Eine Ansprache. Und dann stürzen sich alle unter live Musik auf die Tische, als sei zack! ein Vakuum in ihnen eingeschaltet. Ein, zwei, drei, vier Stücken Kuchen landen auf einem Pappteller. Hände voller Kekse. Süsse Pasteten. Sie umkreisen die Tische. Noch ein Becher Limonade. Gehen wieder hin, kauend noch, sich die Finger ableckend. Tabletts mit Kroketten. Ich gehe wieder in die Halle. Ich weiss, dass so gemalt wird, überall auf der ganzen Welt. Lechzen sie da nach dieser Hänsel-und-Gretel-Freiheit, dieser Nachahm-Chagall-Welt, diesen hingehauenen Abklatschen. "Welche Chance sie verspielen!" "Essen Sie wenigstens etwas." Wieder gehe ich raus in das Bunkern des Verzehrs in Leiber. Nach vier Stücken Kuchen ist es nur noch in Hälse stopfen, schlucken. Es muss die Schlunde aufreissen, kein Mund ist fähig die dafür nötigen Mengen Speichel zu erzeugen. Limonade. Huriges Reinstopfen. Süsses Löschen. Ich gehe noch einmal in die Halle. Stehe lange noch am Rande dieser billigen Orgie nie zu stillenden Hungers. Keiner ist dünn. Ich will Wein kaufen, will mich besaufen. Ich kaufe keinen Wein. Morgen laufe ich mit einer Gruppe fünf Stunden durch die Wüste Judäas.
Kultur ist, wie ich esse, schlafe, meine Notdurft verrichte, mit meinem Leib und Verstand umgehe, den Leibern, dem Verstand anderer, die verrichtete Notdurft wegspüle, mit Sand bedecke.

 

Das Zerreissen des Tempels Vorhangs, Brechen des Brotes, Steinigen von Sündern, gemeinsame Stippen des gebrochenen Brotes in die rote Tunke: "Mein Gott, warum hast du mich verlassen!", Benetzen der Lippen des am Kreuz Sterbenden mit Essig, Öffnen der Seite des Toten. In meinen Zeichnungen des Haltens der Abgenommenen hält immer der Mann den Leichnam der Frau. Das Gewimmel auf den Strassen. Männer in schwarzen Mänteln mit Hüten, Kippas, Gebetsriemen; auch Kinder schon. Ein Blick auf diese und jene Sehenswürdigkeit, entlang den Ausgrabungen der Stadt König Davids, dem Haus, wo ehedem die Grenze verlief. Unser Ziel ist der biblische Fluchtweg im Bett des Wadis Quelt zwischen Jerusalem und Jericho entlang dem Aquädukt, das Wasser aus dem Jordan hierher schaffte. Die immensen Mengen jetzt benötigten Wassers werden via Rohrleitungen übergepumpt.

Indischgelbe verbrannte Landschaften mit indischgelben Menschen. Sand rast über alles, frisst aus, schmirgelt. Gelbe Gesichter, Häuser kaum zu unterscheiden vom zerklüfteten Land, erdiges Gelb durchsetzt mit Rot. Immer wieder stosse ich in meinen Texten, meinen Bildern auf Wüsten, muss sie durchqueren. Ich weiss nicht, woher in mir sie stammen. Nur wenige Schritte östlich des Ölbergs ist es so.

Wir halten Pause bei der Herberge zum Barmherzigen Samariter. Auf dem Parkplatz steht ein Beduinenzelt mit Tee trinkenden Männern in Kaftanen, steht ein angebundenes Kamel. Hier noch und schon zeichnen sich die östlich Jerusalems viereckig aus der Wüste Stein hochgezogenen israelischen Siedlungen ab. Dann werden wir in der Wüste abgesetzt. Wir sind ungefähr fünfundzwanzig. Zur gleichen Zeit werden noch zwei grosse Busse entladen. Der Massentourismus schlägt erbarmungslos zu. Die Route ist gut angegeben. Ich winde mir den Schal um den Kopf, kremple die Ärmel runter. Männer und Frauen krempeln sich die Ärmel hoch, ziehen Shorts an.
Kindergruppen werden von je zwei Soldaten begleitet. Seit der Intifada gehen sogar die nicht mehr allein, die von hier sind und immer schon durch die Wüste streifen. Auf dem Dach eines Hauses, auf der anderen Seite des Aquädukts, zwei Armlängen von uns entfernt, steht ein Mann in Kaftan mit Turban, unbeweglich, schaut auf uns. "Das ist ein Hotel. Du schläfst wie alle hier auf dem Dach. Und dauernd bekommst du Tee serviert. Es gibt viele solcher Hotels in Judäa." Eben hinter der Gruppe ist es still. In biblischen Zeiten verlassen Weise die rührigen Städte westlich der Scheide um, etliche Tagereisen von da, hier Klarheit in ihren mahlenden Gehirnen zu schaffen. Im trockenen Flussbett haben Beduinen ihr Lager aufgeschlagen. Unweit des Lagers schlägt uns pestilenter Gestank entgegen. Ich habe noch nie Kadaver gerochen. Dies ist Kadaver. Ist Angriff auf alle deine Sinne. Immer höher reichen die Wände der Schlucht. Unter undichten Stellen im Aquädukt sind die Felsen grün. "Früchte und Wasser müssen Sie zu sich nehmen", sagt mir der Mann. Geboren ist er nicht mehr in Berlin. In Tel Aviv. Sein Bruder hat Volkswirtschaft studiert. Er ist in die Negev gegangen. Direkt am Gazastreifen hat er mit eigenen Händen den Kibbuz Magen mit aufgebaut. Die Eltern gehen 1953, nach der Wiedergutmachung, wieder nach Berlin. "Sie haben mich wieder einberufen. Du bist immer Reservist. Ich gehe nicht mehr. Nicht mehr Soldat sein. Schon gar nicht im Gazastreifen. Sie drohen mit Gefängnis. Lieber Gefängnis.
Aus dem Treibhausklima der Kibbuze kommen die Kinder zum Militär. Hier, essen Sie, trinken Sie." "Ich habe Wasser." "Bitte." Er zeigt mir hoch oben in den Felswänden die Vogelkolonien. Und die Stille, eben hinter der Gruppe. "Immer schon laufe ich durch die Judea, allein. Das ist jetzt zu gefährlich", sagt er. Nach mehr als drei Stunden fängt die Schlucht an saftig zu grünen. Das Aquädukt überbrückt die Schlucht. Der üppige Wildwuchs geht über in einen kultivierten Garten. Wir sind im Bereich des Klosters zum heiligen Georg. Links oben in der Felswand heben seine Schatten es schon ab. Ein Mönch schaut über die Balustrade auf die sovielte heut anrückende Besuchergruppe.
Wer durch diese Pforte will, muss Beine und Arme bedecken, einen Rock tragen. Hier können wir Frauen austreten. Noch vier Mönche leben hier, jung noch, mit Kutte und Kopfputz. Der Letztangekommene ist aus Russland. Sie wollen hier sterben. Alles dürfen wir sehen. Die vollkommen ausgemalte Kapelle, die Kirche, die Ikonen, die Klausen der selbst auferlegten Einzelhaft. Es hat etwas von Dostojewski, der Fanatismus Hand in Hand mit Ruhe, was lodernden Auges die Wangen aushöhlt. Für jeden ein Tässchen Kaffee und ein Bonbon. Wieder runter zum Flussbett, über die Brücke. Auf der anderen Seite des Tals ziehen wir hoch zur Strasse, zum Bus. In die Felswand rechts des Klosters sind Höhlen gehackt. Wer sich dahin zurückzieht, ist nur mit einem Flaschenzug zu erreichen. Nach der ersten Biegung ist nichts vom Wunder dieses Grüns auch nur mehr zu ahnen. Zu viert, fünft klettern wir noch höher. Der Himmel wird blutig über dem Gelb, versengten Gelb der Wüste. Im Westen liegt Jerusalem, im Norden das Kloster, im Süden, unter dem blauen Nebel da, das Tote Meer, im Osten, von jenseits des Jordans an, ist weiter nur Wüste.
Gleich herrscht Nacht. Die Menschen wollen zurück. "Bitte", frage ich den, der gerade nicht mehr in Berlin geboren ist, "kann ich Magen sehen?" Er schreibt mir seine Telefonnummer auf, sagt mir, welchen Bus ich von Tel Aviv aus nehmen muss.

Nachts kommen die Bilder, bewegen.

 

"Kann ich Sie noch treffen", fragt die Stimme am Telefon. Ihr Name fällt beim Sabbatmahl.
Die Wohnung ist - nicht kahl. Es ist vielmehr ihr Doch-nicht-Hiersein. Doch, sie ist hier, arg, das Gesäss schwer, kaum beweglich. Wenn sie nicht weiter will, drückt sie sich ein Doppelkinn. Sie kann einen aussaugen mit diesen Augen. Sie könnte meine Tochter sein. "Tee? Kuchen? Mein Nest ist orthodox. Die Wohnung mein Eigentum. Sehr jung noch heirate ich einen Orthodoxen. Studiere. Nach sieben Jahren gehe ich. Theater, ich will Theater machen, jeden Tag fahre ich von Tel Aviv nach Akko nur um Theater zu machen. Da machen sie Theater! Da steige ich aus, mit meinem grossen Hut, dem Kleid.
Du musst!
Du sollst!
Ich kenne!
Du solltest!
Du solltest nach Akko fahren.
Während der Raketenangriffe kleben wir uns von innen ein. Dann greife ich in Leben ein. Ich entscheide mich für mein Leben. Dies ist mein Leben!" Das schreit auch der, der vom Züchtigen der Frauen, dieser Hexen, spricht, der sagt, dass es besser sei nicht geboren zu sein, denn so stehe geschrieben, ins Telefon, als ich bei ihm sitze.

Ich bin so alt wie sie, als das Kind, das ich gebäre, stirbt. Das zweite. Sie ist schön, bewegt sich und dann nicht mehr. Zwölf Stunden. Von da an ist mir bewusst, dass jeder Augenblick immer der erste, der letzte, alles ist.
Vorbeigang des Erwarteten, seines Schattens,
Kommen in Schatten vorbeier Geschehen;
manchmal lege ich mich auf den Boden,
bis ich Ruhe erlange,
das Taubsein vor Schmerz verrauscht,
der Anflug von Klage mit dem Korn Mauer, das sie birgt,
verebbt.
Es gibt kein Anrecht.
Bittere Brunnen saugen an meinen Lippen.
Wie oft sind Öffnungen gar nicht da, wo wir uns in Schweiss hacken, wirbeln Felder der Ruhe sich nicht mörderisch zusammen. Ein Sandkorn aus der Sahara kann in China einen Sturm verursachen.
In acht Tagen bin ich in Akko.

Meine Zeichnungen von hier sind anders.

Im Museum sehe ich das durch den Verstand nicht beeinflussbare Hintergrundbild in einem Picasso. Ein milchiger Hauch nur.

 

Jerusalem. Soldaten, Orthodoxe, Ankömmlinge, Abreisende. Wieder durch Jerusalems wirre Strassen. Am King David Hotel vorbei, einer Windmühle, dem Bahnhof.
Abu Tor. Hier wohne ich eine Woche lang bei der Frau, die mir im Bus in Berlin ihre Adresse gibt. In Abu Tor explodiert diese Woche ein Auto.
Der Block, in dem sie wohnt, ist noch nicht so alt. Zwei Häuser davor steht ein Araberhaus. Jenseits der Anlage vor dem Haus ist Grund und Boden arabisch.
Gleich hinter der Tür ist ein grosser Wohnraum mit rechts dem Küchen- und Essteil und links einer den Raum füllenden Sitzecke. Von hier aus geht es raus auf den Balkon. Die Wohnung schaut auf die Bergkette südlich des Ölbergs. Gleich hinter diesem Raum ist links ihr persönliches Reich, geradeaus das Gästezimmer und rechts das Gästeklo mit Dusche. An die Küche schliesst ein vergitterter offener Raum für die Wäsche und die Technik des Hauses. Sie portraitiert. Das Atelier ist im Keller.

Vor zwanzig Jahren kommt sie für immer nach Israel. Verlässt das Leben in der Schweiz, die sie immer nachdrücklicher und beklemmender vereinnahmende Sicherheit. Der Sohn ist erwachsen. Die Schweiz ist noch immer spürbar anwesend. In kleinen Dingen, in der Einrichtung, dem Akzent.
Das Auffanglager. Die Arbeit im Kibbuz. Sie widmet sich da jahrelang der Eingliederung marokkanischer Jugendlicher. Die tiefen Augenränder strahlen dunkel. "Weisst du, es sind die Kleinigkeiten. Von innen sind die marokkanischen Wohnungen sauber gehalten. Ausserhalb des Hauses - existiert für sie nicht. Unrat kippen die Frauen einfach aus dem Fenster. Es dauert, bis sie begreifen, dass die Strasse allen, auch ihnen gehört und dass auch sie für die Sauberkeit der Strasse mitverantwortlich sind, dass sie sie so sauber halten müssen wie ihr Haus."
Ich bekomme eine Lektion im Umgang mit Wasser und Energie. Wasser ist knapp. Für das Erwärmen des Wassers sorgt die Sonne. Die Tonnen auf den Dächern sind Sonnenboiler.

"Israelis schreiben nicht", sagt sie.

Von der Instanz in Jerusalem bekomme ich eine Telefonnummer. Von da aus probieren sie die Verbindung mit dem Sinai herzustellen. Das gelingt nicht. Das zweite Mal auch nicht. Das dritte Mal auch nicht. Ich weiss nicht einmal, ob M da ist.
Einheit um Einheit spendet sie ihre Zeit. Gewährt keinen Einblick in ihr Leben. "Du führst hier dein Leben", sagt sie.

Gegen Abend bin ich in der Stadt, im Strom der Orthodoxen, Russen, Polen, Deutschen: Israelis. Auf dem Bürgersteig kauert eine Bettlerin. Mit Einbruch der Dunkelheit ist es kühl. Im Tumult der Ben Yehuda singt ein Opernsänger, spielt ein Geigenvirtuose, ein Quartett, singt eine Frau ungarische Lieder zum Zimbal. Ich bleibe stehen, gehe weiter, esse irgendwo wie alle hier ein aufgeschnittenes mit Fleisch und Salaten und Humus - Kichererbsentunke - gefülltes Fladenbrot, laufe durch Strassen und Gassen, komme aus stillen Gegenden wieder in die Strasse des Sängers, des Geigenvirtuosen, des Quartetts, der singenden Frau. Immer verlaufe ich mich leichter in Städten, auch in denen, die ich schon immer durchstreife, als in Wäldern, auf dem Lande. Ich gehe zu Fuss nach Abu Tor. Da oben liegt die Altstadt.

 

Ich wähle die Telefonnummer von Hanna. Ihr Englisch kommt mit starkem deutschem Akzent. "Jetzt sind die Ofensetzer da", sagt sie. "Nach zweiunddreissig Jahren leiste ich mir einen Ofen!" Um 18 Uhr. An der Ecke will sie mich abholen, das sei besser: Grund und Boden vorbei des Hauses und von der anderen Strassenseite an runter ins Tal sind arabisch.

Gleich hinter dem Jaffator kommen sie auf mich zu: "Führer? Durchs arabische Viertel?" Die Intifada hat die Strassen des Bazars nahezu leergefegt. Arabische Händler treten einen Schritt vor, strecken ihre Hand aus: "Bitteschön!" Schwere Ausdünstungen von Kräutern und Pulvern. Ein Gewölbe mit Gemüse, mit Säcken Bohnen, Erbsen, daneben sitzt ein Alter, reglos, still, nur die Gebetsperlen in der Hand bewegend. Teppiche, Schmuck, die von Kräutern scharfe Luft, Gläser. Der Bazar wird schummriger. Immer mehr Läden sind geschlossen. Es herrscht Streik. Lächeln! Ich spreche kein Iwrith. Natürlich komme ich aus dem Westen. Ich bin eine Frau. Allein. Ich kehre um.
"Bitte." Ich schüttele den Kopf. "Bitte." "Nein." "Sie brauchen keine Angst zu haben. Wir wollen Ihnen raten, zeigen, sind Freunde. Es geht nicht um Handel. Bitte, trinken Sie eine Tasse Kaffee mit mir. Versprechen binden uns Beduinen, koste es uns das Leben." Der Laden, in den ich mit ihm gehe, ist hell und übersichtlich.
"Die Wüste. Wir Beduinen sind anders. Sie könnten in der Wüste leben, Sie lieben die Wüste. Ich kann Sie zu Beduinen bringen, kann dafür sorgen. Kaffee? Mit Kardamom? Wir nehmen nur wenig Zucker." Er gibt dem Kaffeeträger seine Bestellung auf. Ich weiss, dass mich das Annehmen dieses Kaffees zwanzig, dreissig Minuten hier festhält. Der Sitz seiner braunen Augen ist nahezu im seitlichen Schädel, als lägen sie auf.
"Alter Beduinenschmuck. Die Stämme verkaufen diesen Schmuck nur, wenn sie müssen. Es geht nicht um Handel: ich möchte, dass sie etwas von meinem Volk haben." Wie immer er es verpackt, von jetzt an ist es für ihn Handel. Nicht für mich. Er bricht das gegebene Versprechen. Der Rest ist Spiel. "Kleine Schlückchen, wir nehmen kleine Schlückchen. Dies Stück." Ein Stück strahlt mehr als das andere. Und in der Hand noch mehr. "Legen Sie es an." Es bereitet mir Freude diese Schmuckstücke zu betrachten, in meinen Händen zu halten, auf der Haut zu fühlen. Sie sind schön. Er fängt an Ziffern aufzuschreiben, Preise zu nennen, die, bei einem Stück schon, trotz Rabatts, meine Tage hier um zwei Wochen kürzten. "Verstehen Sie mich richtig, ich möchte, dass Sie etwas von meinem Volk tragen." "Ich kann wählen zwischen Habenwollen und Erfahrengehen." "Ich möchte, dass Sie den Gesichtsschleier einer Braut anlegen." Er holt ihn aus einem der gegenüberliegenden Gewölbe. "Ein Museumsstück, unveräusserlich." Er bindet mir diesen Schleier vors Gesicht, der den Hauch der Trägerin irgend noch festhält. Die die erste Braut ist? Die zweite? Dritte? Vierte? Die die Hand auf sich spürt, die noch kein Stöhnen gefühlt, oder gebadet schon in dem wie vieler. Die die hingestreckte Hand küsst, die heute nicht ihrem Schoss gilt. "Sie sollten ein Foto davon haben." "Ich habe meinen Fotoapparat nicht bei mir." "Kommen Sie morgen, nach 12 Uhr. Sie können in Raten zahlen." Im Spiegel sehe ich meinen Körper ohne sein Gesicht. Und dann zu bedenken, wie sie die Schösse beschneiden, schon lange ehe ihnen ihr Gesicht vor anderen nicht mehr gestattet ist.
Noch ist der Kaffee nicht alle. Und dann weiss ich, dass ich morgen nicht hingehe um mich von ihm mit Gesichtsschleier fotografieren zu lassen. Er bittet mich später zu kommen, möchte mit mir essen. Und dann berührt er beim Anlegen einer weiteren Kette meine Haut.
Abseits des Bazars. Jeder Schritt, den du auffängst, jede Veränderung der scharfen Schatten dieser hellen heissen verlassenen Gassen könnte einen Hieb bedeuten.

 

18 Uhr. Es ist dunkel. Ich stehe an der Ecke. Ich weiss auch die Hausnummer nicht mehr. Sie kommt auf mich zu. Wir strahlen uns an. "Hanna!" "Sabine!" Ihre Hände wissen, wie sie Werkzeuge halten müssen. Es liegt Nachdruck in ihrem Daumen wie in einem Hammer. "Die Ofensetzer", sagt sie, "den ganzen Tag die Ofensetzer." Ihr Haus ist ein altes Araberhaus. Die Mauern sind bis zu 90 cm dick. Vor 1968 liegt die Front des Hauses direkt an der Sperre der Grenze, mit Tag und Nacht den Patrouillen und nur via den Hintergarten zu erreichen. "Wir lieben es sofort. Es ist nicht teuer."
Hinter der Tür die Treppe hoch, durch noch eine Tür. Da steht der neue schwarze Kanonenofen. Gleich rechts ist das Atelier mit Blick auf die Altstadt jenseits des Tales. "Bis vor zwei Jahren noch laufen wir durch das Tal, durch die arabischen Siedlungen hoch zum Ölberg." In den breiten Fensterbänken liegen Kissen und Decken. Das Zimmer neben dem Atelier war das des Sohnes. Der wohnt schon längst nicht mehr hier. Die Zimmer sind hoch. Das Bad. Der überdachte ehemalige Innenhof mit Kuppelfenster. Hier wird gekocht, gegessen und gesessen. Hinter diesem ehemaligen Hof liegt Hannas Reich. Alles ist geräumig, weiss getüncht oder nackter Stein. Das Atelier, der Raum daneben und das Bad haben Türen. Sonst ist alles offen. Und noch ein offenes Fenster zwischen ihrem Reich und dem ehemaligen Hof. Das Haus atmet, der erarbeitete Stein, das erarbeitete Holz atmen. "Diese Ofensetzer", sagt sie, "schau dir den Ofen an, Sabine, ist er nicht ein Wunder. Sie kommen zu zweit. Ein alter und ein junger, beide orthodox. Kaum drinnen, fängt der Junge an auf Kunst, auf Künstler zu schimpfen: 'Parasiten, schweinische.' Und immer schaut er Bestätigung suchend den Alten an. Der sagt nichts. Diese Skulptur schaffe ich vorher ins Atelier." "Sie steinigten mich, hielten sich rein durch die Steine der Entrüstung, den Sporn der Befleckung." Hanna lacht: "Und immer sagt der Junge: 'Eigentlich bin ich ja Thoraschüler.' Und nach dem Austreten kommt er aus dem Bad und sagt: 'Wo kann ich mir die Hände waschen.' 'Im Bad', sage ich. 'Nein', sagt er, 'da kann ich die vorgeschriebenen Gebete nicht sprechen.' Ich hatte Bier für sie gekauft. Ich biete ihnen das Bier nicht an.
Vor ein paar Monaten fragt mich ein Fotograf, ob ich eine Büste von Schulz machen könnte. Drei Abgüsse. Ich hätte es gern getan. Ich hätte es gekonnt, ich bin ganz sicher. Den Auftrag hat ein russischer Emigrant eingeheimst. Die sind billiger.
1939, mit dem letzten Kindertransport aus Danzig. Mit meiner Schwester. Sie ist dreizehn, ich bin elf. Erst mit dem Bus. Wir singen lustige Lieder. Ich spiele Ziehharmonika. Es soll aussehen wie ein Schulausflug. Die Eltern sollen nicht zum Bus kommen. Unsere Eltern kommen zum Bus. Dann mit dem Zug. Sagt jemand mitten in der Nacht: 'Der Reichstag!' Via Hoek van Holland nach England. In einer Familie. Wir lernen das Vaterunser. Dann mit dem Dampfer nach Palästina. Unsere Eltern und älteste Schwester empfangen uns; die ist schon länger hier."

Ein paar Monate später kommt sie nach Zaltbommel: "Neulich ruft jemand an, sagt: 'Ich komme aus Amerika. Ich bringe Ihnen Ihre Ziehharmonika.' Ich habe meine Ziehharmonika wieder."
"1948 umzäunen die ersten ihre Parzellen. Bis dahin ist keiner mehr oder weniger als der andere. Ich arbeite in einem Modeatelier als Näherin. Dann nebenher zur Akademie.
Mit einem Mitstudenten stehe ich oberhalb Jerusalems. Mit strahlendem Gesicht erzählt der die abscheulichsten Dinge. Theresienstadt. Auschwitz. Lacht. Wir lachen. Erst viel später dringt zu mir durch, dass es sich um leibhaftige Erfahrungen handelt.
Dann kann ich in Schweden studieren. Ich habe kein Geld, gerade soviel, dass ich hinkommen kann. Ich muss nebenher arbeiten. Der Direktor lässt mich kommen. Dann wählt er eine Nummer, sagt ins Telefon: 'Haben wir ein Stipendium?' Innerhalb von weniger als fünf Minuten, Sabine, habe ich ein Stipendium. Für drei Jahre. Drei Jahre ohne die Sorge um das leibliche Wohl! Immer, wenn ich denke: jetzt ist Schluss, wirklich, passiert etwas.
Ich will das Denkmal für die Mengelezwillinge fürs Yad Vashem machen. Muss es machen. Ich - alles geht schief - ich bekomme den Auftrag.
Vor fünf oder sechs Jahren bin ich in Berlin. Gehe sofort zum Reichstag. Ich will ihn sehen, wissen, dass er kein Phantom ist. Seit ich elf bin und im Zug dran vorbeikomme, spukt er mir durch den Kopf."

Sie hat noch zwei süsse Kartoffeln, Salat, Humus und Eierpflanzen (Auberginen). "Ich wollte noch einkaufen gehen - die Ofensetzer." Sie röstet die Auberginen, bis die Schale vollkommen verkohlt ist, schabt das so gegarte Fruchtfleisch aus. "Tut Ihr das alle so?" "Ja."
Mit Hanna kommt wesentliches Lachen in diese Reise.
"Als sie mir meinen Sohn zum ersten Mal bringen, sagt die Krankenschwester: 'Die meisten Kinder werden später erst hübsch.' Sabine, da liegt das schönste Kind der Welt, verstehst du, voller schwarzer Locken mit grosser Nase!"

Ob Niederländer tatsächlich so ihrer Gefühle beschnitten seien, fragt sie. Ich weiss nicht, wo in euch und was ihr fühlt, seit wann ihr euch eure Extreme so stutzt. Ihr tut es, ein jeder von selbst. "Am ausgestreckten Arm verhungerst du emotional in den Niederlanden gerade nicht", sagte mir ein in Amerika geborener Jude deutsch-jüdischer und niederländisch-jüdischer Eltern. In Amsterdam betreibt er Handel, dafür sei das Pflaster da gut.

Hanna mit dem schräg gehaltenen Kopf, grauen Haar, entwaffnenden breiten Lachen. Ihre Hände können halten. Der etwas grosse Hoffnungsschimmer: dass alles gut und ausgewogen sei. "Dann muss das Gezeigte dem Wunsch entsprechen." "Ja. Ja."

Es ist spät. Sie bringt mich bis hoch an die grosse Strasse. Morgen nach 11 Uhr gehen wir zusammen in die Stadt. "Du kannst bei mir wohnen", sagt sie. Es kalt kalt.

 

"Bitte, meine Damen! Bitte, meine Herren!", sagt der Mann in roter Weste, die Hände ausstreckend, sie sich trocken waschend. Direkt beim neuen Tor setzen wir uns in ein Wiener Café mit arabischem Hauch, bestellen Kaffee und irgendetwas entsetzlich Süsses.
Die schummrigen Gassen des Bazars, geschlossenen Läden, mit Bohlen verschlagenen Fenster. Der Streik. Die wenigen Schritte hallen. Manche Läden sind offen. Da liegt einer. Die Frau hält ihm die Hand. Sie tragen kurze Hosen, ärmellose Blusen. Die helle Haut ist verbrannt. "Ein Arzt!"
Die Auferstehungskirche. Das Grab Jesu. Golgatha. Nonnen werfen sich auf den Boden, küssen den Stein, werfen sich auf den Boden, küssen den Stein bis hin unter den Altar.

Wir gehen zu Isaak. Isaak ist Töpfer. Isaak isst liebend gern. Ist dick. Quirlig. Lacht. Sein Bart ist grau. "Kaffee? Kuchen?" Die Mütze setzt er nie ab. Siebente Generation. Er wohnt und arbeitet mitten im alten Jerusalem, im israelischen Viertel. "Es gibt Juden, die in Israel geboren sind", sagt er. Er arbeitet mit äthiopischen Juden, lehrt sie aus der ihnen eigenen Kreativität Geld zu schlagen. Noch sind die Tonfigürchen Kunst, ein Stück Leben. Irgendwann tastet die Unrast in Panik gespitzter Sinne, die hier herrscht, ihren tief in ihnen ruhenden Rhythmus und die Figürchen an. Der Kuchen ist entsetzlich süss. "Nachher kommen zwei Polen", sagt er. Ich lache, nenne die Namen der Organisatoren des Jüdischen Festivals aus Krakau. "Du kennst sie? Sabina, fühlst du dich hier in den Strassen schuldig?" "Nein." "Was empfindest du."
"Ich sehe, höre.
Gesichter, nicht da, wo sie sind,
Flecken von Aushöhlung,
zusammengebrochene Züge in scheinbar normalen Leibern, in angegessenen Schilden,
fahrige Gesten,
Sätze im prasselnden Rhythmus der Wüste, ihrer Stille, Hitze, Kälte, ihres wehen Bitters von Kadaver, des Rots der hereinbrechenden Nacht, die leeren Gassen des Bazars,
Opernsänger in der Ben Yehuda,
arabische Frauen zu viert in Taxis, verschleierte, nicht verschleierte,"
"Sabina!"
"Perücken mit Netzen darüber."

Der Kontrollposten. Die Klagemauer. Geschieden von einander, stehen rechts die Frauen, links die Männer. Der Frauentrakt ist nach hinten zu offen, der der Männer mit Seilen abgegrenzt. Der der Männer grenzt an die Tür des Tempels. Sie schlagen die Hand auf den Stein, stecken Briefchen in die Fugen. Die Männer nicken und nicken mit den Oberkörpern aus den Hüften, tragen Thorarollen. Fellmützen, schwarze Hüte, Kippas. Niemand kehrt dieser Mauer den Rücken zu. Rückwärts gehend entfernt man sich aus ihrem Bann. Hanna stösst mich an: "Spürst du es!" Ob die Menschen mit ihrem Herkommen, ihrem rhythmischen aus der Hüfte Nicken, ihren schwebenden Klängen, ihrem Fixiertsein durch/auf die Mauer dieses Etwas zuwege bringen? Ob der Ort so ist? Ich muss diesen Ort ohne Menschen sehen. "Hast du auch schon einmal dagestanden, ein Briefchen in eine Fuge gesteckt." "Ja." "Hat es geholfen?" "Ja."

Der Geldautomat schluckt ihre Karte. Spuckt sie nicht mehr aus und auch kein Geld. Von jetzt an herrscht Sabbat. Im armenischen Viertel kaufen wir noch Kohl. "Du hast nichts heute Abend?" Isaak und Hanna essen heute bei einer Bekannten. Sie ruft diese Bekannte an. Ich gehöre heute zu ihnen.

Der Fotograf, der sie für die Schulz-Büste vorgeschlagen hatte, ruft an. Er will mich sehen. Sonntagabend. "Ich hätte es gekonnt", sagt sie.
Lehmiger Ruf, gequetschte Kehle, Sang vor Zerriss und wieder der Ruf. Shlomo Bar. Ich spüre die Erde zittern und beben, fühle meine Haut.
Wo wir essen, gibt es Huhn. Die Zubereitung des Huhns verrät die Niederländerin.

 

Früh schon fährt meine Gastgeberin mit mir in die Pinienwälder westlich Jerusalems. Wir kommen durch Emmaus. Kein Ort hier, dessen Name ich nicht schon immer kennte.


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