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ISRAEL 2

Durch die Schwarzgekleideten mit Hüten - Sabbat geht zur Neige -, den Kontrollposten. Ich musste zur Mauer. Ein weisser Rabbi, ein schwarzer, umschwärmt von Schwärmen. Das raus Tragen und Ausrollen der Thorarollen, Schweben des Klangs, rhythmische Nicken aus den Hüften. "Das bringt sie in Trance", höre ich flüstern. Sie schlagen mit der Hand auf die Mauer, legen die Stirn an sie, stecken Bitten in ihre Fugen. Entziehen sich rückwärts gehend ihrem Bann. Stehen vor Pulten mit Büchern, nickend aus den Hüften.
Ich will diesen Tanz von oben sehen, gehe durch den Kontrollposten wieder hoch in die Stadt. Der weisse Rabbi, der schwarze, die sie umschwärmenden Schwärme, das Raustragen von Thorarollen, Wegtragen, Nicken.

"Nein." "Ich bin Polizist" Er, zeigt mir seine Plastikkarte: " Ich zeige Ihnen die Stadt." Auch Polizisten haben Gelüste, auch in Jerusalem. Er schlägt mich sicher nicht zusammen, vergewaltigt mich nicht, aber bleibt mir auf den Fersen, bis er kapiert, dass ich nicht mit ihm gehe.
Er zeigt mir den Abendmahlssaal. Das Grab von König David,
- es ist unwichtig, wessen Knochen da liegen, über gewaltigen Siegen oder Niederlagen errichten wir Denkmäler -
Grüfte Palästen gleich,
- lauschen Worten, immer wieder wiederholten Worten, wiederholen die Worte, essen das Fleisch des Toten, trinken sein Blut, nehmen ihn in uns auf -
Dächer, Gassen, Winkel, ein Stück Bazar im arabischen Viertel, die Al-Aqsa-Moschee aus der Ferne, das armenische Viertel, die Kirche des heiligen Stephan. Wir gehen runter ins neue Jerusalem. Essen noch irgendwo. "Nein, ich gehe nicht mit Ihnen." Er gibt mir die Telefonnummer seines Reviers. "Fragen Sie nach mir. Ich bringe Sie sicher zum Ölberg."

 

Die Verschiedenheit zeigt sich schon vom neuen Tor an. Zunächst nur auf der gegenüberliegenden Strassenseite. Das ist noch da. Vom Damaskustor an betrittst du eine andere Welt. Verhüllte Frauen in Gruppen, Kleinkinder auf Armen. Die weicheren Schriftzeichen der Aufschriften, weicheren Klänge, schärferen Gerüche der Marktstände, älteren Busse. Ein anderes Beruhigtsein und -werden der Leiber kommt auf dich zu. Bewegungen der Sonne gemäss. Geschmeidiger. Behäbiger. Nicht dass es weniger hektisch wäre. "Haltestelle Damaskustor", frage ich den Popen. "Ölberg", frage ich den Fahrer des Busses. "Der da fährt erst." "Ölberg?" Alles ist hier verlebter, die Busse kahler, die Fahrscheine um die Hälfte billiger. Neben dem Fahrer steht ein Eimer. In den schmeisst er den gerade verkauften und gleich von ihm zerrissenen Fahrschein. Der Fahrgast bekommt ihn nicht. Die bodenlangen Hüllen der Frauen, auch von Männern. Die Fremde hier bin ich. Frauen mit Kopftüchern, Taschen, Körben, neben Frauen mit Kopftüchern, Taschen, Körben. Kinder. Männer neben Männern. Der Platz neben mir bleibt frei. Die Frauen, die ich hier zu Gesicht bekomme, sind vom Frausein an nur noch Frau. Stramm. Dick und dicker werdend. Ununterbrochen stecken sie Zuckerzeug in ihre Münder und die der Kinder.

Jerusalem liegt hinter uns. Den Hang hoch. Zwischen den Häusern die offene Erde, Steine. Ich begreife die Natürlichkeit der Steinigung. Überall liegt diese Waffe griffbereit. Der andere reizt dich, du krümmst, bückst dich, hast den Stein in der Hand. Holst aus. Schmeisst. Frauen mit Essen steigen bei einem Krankenhaus aus. Menschen mit Verbänden bei einem zweiten. Der Alte stützt sich auf den Knaben. Oberhalb des Ortes, beim israelischen Friedhof steige ich aus. Irgendwo da ist das Grab von Else Lasker-Schüler, der Liebesfähigen, der Schwärmerin. Hinter diesem Baum beginnt die Wüste. Das ist das Irrste hier. Die Bewegungen der Menschen sind noch Wüste, nicht weit ab vom Sand, den Steinen, der Hitze, Kälte, ihr dich Ausdorren. Mein Wasser ist alle. Am liebsten liefe ich durch den Ort und weiter durch die Steine auf der Strecke, die Hitze hinunter zur Stadt. An einem Kiosk kaufe ich Wasser. Es ist teuer. Die Strassen, Klöster. Ich klopfe nicht an. Knaben mit Palmzweigen. Sechs Männer tragen unter Klagen einen Toten auf offener Bahre auf ihren Schultern, bis an die Tür der Moschee und zurück durch die Strassen. Ich stehe am Rande zwischen den andern am Rande, bin ohne Sprache, den Schutz der Haut aus Sprache, hätte nichts als meinen Schrei, lächele, wie Fremde tun. Der Bus zum Damaskustor. Ich steige ein. Gehe dann runter in die neue Stadt. Der Opernsänger kommt noch immer nicht über den Strassenlärm hinaus, steht da, nicht weniger starr ergeben als auf der Bühne. Das Quartett. Richtung Busbahnhof finde ich den Markt.

Auf der Strasse sehe ich den Produzenten vom Broadway wieder, schwitzend schleppt er seine Aktentasche wie ein Vertreter.

 

"Heute Abend kommt ein alter Freund", sagt meine Gastgeberin. Heute Abend bin ich in dem arabischen Haus. Der Fotograf, der wollte, dass Hanna die Büste machte, kommt.

"Eins der vier Mädchen, die Schulz' Beschützer auf dem Friedhof erschiesst, ist meine Kusine", sagt der Fotograf. "Ich sehe, wie sie erschossen werden. Von meinem Fenster aus. Ich bin zwölf. Schulz ist unser Nachbar. Mein Vater ist Fotograf. Schulz holt sich die verpatzten Fotoplatten. Das ist sein Material. Sein Mörder hat Freude am Töten. Sein Mörder ist ein liebenswürdiger höflicher hilfsbereiter Mann. Er kommt oft zu uns. Wir haben eine deutsche Bibliothek. Unsere Vorfahren kommen aus Deutschland. Er holt sich Bücher und bringt sie zurück. 'Gnädige Frau', sagt er zu meiner Mutter, die die Böden schrubbt, 'Sie sollten die Eimer nicht schleppen.' Nimmt die Eimer, bringt sie raus, bringt frisches Wasser. Sie holen die Eltern. Meine Schwester, ich - unter der Treppe. 1942. September. Dann kommt ein Brief. Aus dem Zug geschmissen. Ein polnischer Streckenarbeiter. Wir lesen den Brief. Sie müssen schon tot sein. Ja. Am 19. November - 29.? - ach - erschiesst dieser Mensch Schulz. Am 3. Dezember 1942 verlasse ich Drohobycz. Sie sind tot, als wir den Brief lesen."
"Der Mörder lebt."
"Der Mörder lebt?"
Er spricht seine Sätze kaum zu Ende. Manches endet in Klängen, die irgendwo in ihm zerbröseln, die offene Hand hebt sich und dann wieder Worte. Seine Frau kommt aus Paris, davor aus Polen. Ihre Kinder sind zwölf und dreizehn. "Die Geschichte wirft dich hier aus, da aus. Ich hege keinen Hass. Noch eine Weile, dann schreibe ich es auf." Sein Lachen, seine Augen. Die Landschaft seines Mundes liegt verschanzt hinter dem Bart.

Meine Fotos, meine Texte, mein Notizbuch. "Hinsehen, hinsehen, nicht den Blick abwenden! Sabina! Die grossen Zeichnungen?" "Nach Akko." "Ich will dir meine Arbeiten zeigen", sagt er. "Ich will ein Album von Jerusalem machen. Ohne Menschen." "Freitag komme ich wieder her, wohne dann hier. Freitag." Die Schulz-Büste macht ein russischer Emigrant. Der Auftraggeber ist ein Mann aus Drohobycz. Er lebt in Paris, ist alt. Es sind drei Abgüsse vorgesehen. Einer für Jerusalem, einer für Paris, einer für da. Das beendet meine Suche nach Geld.

Es ist spät. Der alte Freund meiner Gastgeberin ist noch auf. Sie schläft schon. Wir trinken noch Tee. "Menschele", sagt er, nimmt mein Gesicht zwischen seine Hände. Morgen muss er weiter, Dienstag kommt er wieder her. Am Mittwoch fahren wir zusammen nach Akko. Er muss nach Hause, nach nord-östlich von Naharia. Akko liegt auf der Strecke.
"1913. Dresden. Schneider. Ich bin auf der Walz. 1936 komme ich her. Von Dänemark aus. Die Hagana. Der Kibbuz. Sie (meine Gastgeberin) kommt vor zwanzig Jahren da leben, seitdem sind wir Freunde. Ich zeige ihr das Land, sie führt mich, der ich bisher nur mit den Händen gearbeitet habe, in die Welt der Bücher, der Philosophie ein. Ich fange an Vorträge zu besuchen, an Seminaren teilzunehmen. Meine Frau und ich haben den Kibbuz verlassen. Jetzt wohnen wir in einer neuen Siedlung im Gebiet der Drusen, zehn Kilometer südlich des Libanons. Unsere Töchter sind erwachsen. Die Zeiten haben sich geändert."

 

"Hier?" Der Mann neben mir im Bus nickt, lächelt mich an. Die hellbraune kurze Lederjacke. Sein Haar wird grau. Er ist noch nicht von hier.
Das Yad Vashem. Die Skulpturen, die von Hanna, die Bäume. Das Kinderhaus. "Es ist Kitsch", sagen die einen, "unglaublich, ein Wunder", die andern. Unzählige Lichtpunkte, soweit und wohin du schaust, in tiefem und noch tieferem dunklem Raum. Von da hallen die Namen der Kinder, alphabetisch, nach Ländern; ihr Alter. Dauernde Litanei, abwechselnd gesprochen von einem Mann, einer Frau. Wenn du die Kraft hast, dich in die Tiefen der Spiegelungen der Tiefen fallen lässt, der immer weiterreichenden funkelnden Punkte, hinter funkelnden Punkten, in die Namen von da, die Träume von Kindern, die Nacht für Nacht in ihre Sterne starren.

"Fieber", sagt er, "ich habe Fieber." Im Ramada Renaissance warte ich auf ihn. Auch seinen Namen gab mir der aus Warschau, dessen Bescheidenheit an Erliegen grenzt. "Letztes Jahr hielt ich in Krakau an der Universität eine Lesung. Mein Vater konnte die seine da nicht mehr halten. Ich bin hier geboren. 1948. Von wo bin ich? Meine Grosseltern. Ich habe keine Grosseltern. Der Brandfleck der Geschichte gönnt mir kein Woher. Wir können gegen die wuchtige Wand der Ausstrahlung ihres Leides nichts ausrichten. Unser Leid?" "Ich bin 1940 in Berlin geboren. Ich bin keine Jüdin." "Und dies?" "Das ist jetzt, heute. Menschen heute, hier." "Sie haben keine Haut." "Manchmal, zerrissen."
Eine dreiviertel Stunde, Schlag auf Schlag. Eine Begegnung am Ufer der Tränen. "Das Recht auf eigenes Leiden." "Das Leben des eigenen Lebens. So wie wir geboren sind, wann und wo, unter welchen Umständen und Brandzeichen auch immer, setzt unser persönliches Bewusstsein ein, fassen wir persönlich jetzigen Entschluss nach jetzigem Entschluss." Er windet sich an den Wänden in sich hoch. Wand aus Verzweiflung der Generation danach? "Das Symposium der Generation danach, im nächsten Jahr...", sagt er. Wir sagen Ade. Verlassen das Hotel, er so herum, ich so. Er verfängt sich in den Zierbäumchen der Hotelhalle, schlägt die Zweiglein aus seinem Gesicht. Sieht, dass ich es sehe, lächelt. Ich lächele zurück. Auf der Strasse sehe ich die Bordsteinkante nicht, falle.
Abends sitze ich mit Hanna in einem kurdischen Restaurant.

 

Auf dem Weg zum Markt, dem zwischen Zentrum und Busbahnhof, begegne ich dem Mann mit der hellbraunen Lederjacke. Er strahlt mich an, reicht mir die Hand. Wir haben ja keine Worte. Auf der Ben Jehuda begegnen wir uns noch einmal. Wieder reicht er mir die Hand, wieder lächeln wir uns an. Die Ein-Mann-Oper, das Lied zum Zimbal, das Quartett spielt einen Russen.

"Wieder 9000 russische Emigranten."
"Wieder 9000 Gerettete."

Ich denke, dass der Mann mit der hellbraunen Lederjacke jeden Tag nach dem Frühstück in die Stadt fährt, als müsse er zu festgesetzter Zeit irgendwo sein. Nichts an seinen Bewegungen spricht von erwartet Sein, von irgendwo Hinmüssen. Ich muss für ihn eine Verbündete sein.

Sie kaufen automatische Spielzeuggewehre für ihre Kinder. Ratatata.

Hände betasten Früchte, Gemüse. Der pellt gierig eine Orange, bricht sie auf, beisst sie aus der Schale.

Das Auto knallt auf die Frau. Die Frau knallt auf das Auto, schleudert durch die Luft. Da liegt sie - der Schrei - einem Embryo gleich. Ein Mann hebt sie auf, trägt sie auf den Bürgersteig. Der Aufprall. Das durch die Luft Schleudern. Der dumpfe Aufschlag auf den Asphalt. Der Schrei. Der Embryo.
 

Akko. Mit dem alten Freund mit dem Bus nach Tel Aviv, dem Zug nach Haifa. Es fängt an zu regnen. Mit dem Bus nach Akko. Unser Hotel liegt ausserhalb der Stadt, am Strand. Mit dem Bus nach Naharia, einem Taxi zu der neuen Siedlung in den Bergen, wo sein Haus steht. Vom Küchenfenster aus sehe ich Drusen - uralte Gebärden - im peitschenden Regen ihr Feld bestellen. Der Lagergeruch dieses Hauses. Dass die Möbel Hausmöbel sind... Mit einem Taxi runter zur Strasse, dem Bus bis irgendwo in den Bergen, einem Drusen im Auto nach Safet, der Malerkolonie. 'Kunst macht frei'. In Safet erstickte ich.

Zurück nach Akko. Durch die dunklen Strassen, die noch dunkleren überdachten jetzt nahezu leeren Gassen des Bazars. Schritte hallen. Stimmen von irgendwo. Allein wagte ich mich zu dieser Stunde nicht her. Die Stadt hat etwas Magisches. Am Hafen essen wir Fisch, trinken noch ein Gläschen Wein. Sein geschürztes Lächeln, seine glatte Haut, zielenden Augen. Mit diesen Augen saugt er sich fest. Viele saugen sich hier mit ihren Augen fest. Aus Mündern um Münder, gepresst auf die Zähne, kommen Worte: "Hast du, brauchst du nicht, ich sagte da, mich interessierte, ich meine ja nur. Was ist deine Meinung." "Es stimmt doch, was ich sage, oder ist es doch nur dumm? Deine Zeichnungen sind wie die Fresken von Michelangelo - oder ist es Daumier", das sagte ein anderer. Ich lächele gegen diese Penetranz besorgt zuordnenden Ergriffenseins an.
Ich zeichne ihn. Das Schwarz tritt überall an. Die Münder blättern ab.

 

Um 16 Uhr 30 sollen wir uns, die zwanzig für heute zugelassenen Zuschauer des Theaters 'Arbeit macht frei', versammeln. Fünf Stunden sind wir Zeugen dieses Geschehens, jetzt hier, nicht damals da. Ich stelle meinen Rucksack ab. Uns bleiben noch fünf Stunden bis dahin.
Der alte Mann und ich streifen durch die Strassen. Akkos Magie hält auch dem Tage stand. Der Rausch des Bazars. Arabische Mädchen in Jeans. Anmut. Alte auf Stühlen. Einblicke in weite Reiche beschnitten dasitzender Frauen. Die Moschee. Auf dem Hof sitzen Männer beieinander. Die unterirdische Zisterne. Irgendwo essen wir. Laufen noch einmal um die Stadt, über den Bazar. Sitzen noch, trinken Kaffee, bis unsere Zeit um ist.
Es fängt wieder an zu regnen und hört nicht mehr auf. Wir, die zwanzig Zeugen, müssen in einen kleinen Bus. Und dann steigt auch der alte Mann ein. "Du hast doch nichts dagegen?" Wo ich jetzt bin, ist er nicht, auch wenn er sich neben mich setzt. Zwei Tage bevor ich Israel verlasse, treffen wir uns noch für zwei Stunden in Tel Aviv. "Kann ich nicht mit nach Massada", fragt er. "Nein."

Es ist das Beste, das ich je gesehen habe. Es sind nicht die dargestellten Geschehen an sich, die es ausmachen, es ist eine und noch eine Handbewegung, ein zur Seite Ziehen des Mundes, worin sich alles offenbart, auch ihre Hilflosigkeit. Die jetzt in die Haut des Armes der Frau tätowierte Auschwitznummer ihres Vaters...

Später antworte ich auf eine Kritik aus Berlin (im April bringen sie 'Arbeit macht frei' in Berlin; wieder bin ich dabei, will da dabei sein): Alles, was der Kritiker schreibt, stimmt und gar nicht. Selten habe ich Theater an all diesen Fronten zugleich spielen und geschehen sehen. Der Sohn, der uns seinen Mengele-Akt aufführt, hätte auch mit glatt gestrichenem gescheiteltem Haar, sauberem Hemd und kurzer Hose, die Hände an der halben Hosennaht schon, mit Diener davor und danach, ein Gedicht von Chamisso, von Goethe aufsagen können. Der grössere Raum, der ihnen hier zur Verfügung steht um den nötigen Kellerraum und die Kellergänge unter dem eingezogenen Erdgeschoss einzubauen - hier sehe ich gleich: Stiefel hängen im Kellergang, ordentlich. In Akko schlagen sie mir ins Gesicht. Grösserer Raum verführt zum Hinzuziehen auftrumpfender Attribute, die die Weite verzetteln und also die Nähe. Ich weiss nicht, was das Stück ausmacht. Die eine Handbewegung, die alles birgt? Der Araber, der beim Abdecken nach masslosem Rausch an Essen und Worten ganz leise sein leises Lied singt? Der sich, nachdem wir den Keller durch eine Luke verlassen haben, im rauchigen Erdgeschoss zu aufpeitschender Musik nackt, einen Luftballon um den Hals gebunden, auf dem Biertisch tanzend peitscht, uns Angezogene zu sich hoch zuzerren versucht, einem die Peitsche gibt: "Peitsch mich!"
Der Araber tanzt nackt auf dem Biertisch, den Ballon um den Hals. Er peitscht sich. Die Musik dröhnt. Hinten im Kunstrauch sitzt die fressend Kotzende/kotzend Fressende nackt im Trog, leckt die abgedeckten Teller unseres Sabbatgelages ab, erbricht, was sie in sich leckt, erhebt sich, sich erbrechend, tanzt in den Essensresten, dem Erbrochenen. "Nicht", sagt der alte Mann, giesst Wasser über ihr Gesicht. Die Frau des Hauses lässt sich, einen Windelschurz um, einen Fuss an einem Seil befestigt, immer wieder in die Tiefe fallen, klettert an dem Seil wieder hoch, lässt sich fallen. Der Sohn sitzt hoch oben auf Posten, Gewehr bei Fuss. Der Araber gibt mir die Peitsche, zerrt mich zu sich auf den Biertisch. Ich hole aus, zische die Peitsche entlang seinem Rücken nach unten. Wir stehen nahezu Leib an Leib. Ich weiss nicht, wie oft ich die Peitsche entlang diesem Rücken nach unten zische. "Schlag mich!" Die abgebremste Wucht. "Schlag mich!" Mein abgebremster Schlag, nein. Wieder zischt die Peitsche entlang diesem Rücken. Ich weiss, dass meine Augen funkeln. Ich gebe ihm die Peitsche zurück. Als wir raus gebeten werden, liegt der erschöpfte Mann im Schoss der erschöpften Frau. Ich lege meine Hand auf sein schweissüberströmtes Bein. Nur einmal zuschlagen und ich zerschlüge dich, der du um dieses Zuschlagen bittest, vor aller Augen. Meine Hand ist nass.
"Du bleibst", fragt der alte Mann. Diese Nacht bleibe ich bei ihnen. Morgen fahre ich wieder nach Jerusalem.
Sie waschen ab. Ich kann nicht mithelfen, sie müssen für sich aus den letzten fünf Stunden kommen.

Auch im Haus, in das wir fahren, spüre ich die ständige Kriegsnähe. Sie leben, als seien sie immer im Aufbruch. Während die Stätte, wo sie arbeiten - wieder ein Zentrum neben dem Zentrum - etwas schier Häusliches hat, verkümmert das Haus zu einer Feldlagerstatt.

"Das Problem Mittlerer Osten", sagt der Mann, der im Stück der Sohn ist, der die Mengelenummer aufdröhnt, der uns, ein Mann dann, an seinen Sabbattisch bittet, Gewehr bei Fuss auf Posten sitzt, "lösen wir nie, können wir nie lösen. Was ist überhaupt - noch - wichtig, was zählt noch. Die ganze Regierung, die Opposition, welche Partei auch immer: alle verlogen. Bis vor zwei Jahren noch glaubte ich, dass das Rückerstatten von Gebieten eine Lösung sei. Sollen wir jene Stadt zurückgeben? Jene? Jene? Diese? Und dann? Dann kommen die, die da wohnen, die Araber, für ihre Autonomie auf. Jetzt ist der Araber mein Freund." "Auf dem Biertisch schlägst du mich nicht, warum schlägst du mich nicht! Ich liebe es, wenn mich die Zuschauer, in Wut, in Trance geraten, schlagen", sagt der Araber.

"Wir zerstören alle fundamentalen Lebenszusammenhänge, der Staat unterstützt das, rühren wir jedoch die nicht fundamentale Koppelung von Staat und Religion und die Macht, die Menschen sich in ihrem Namen herausnehmen, auch nur an, ist der Teufel los." "Der Mensch kann keinen der fundamentalen Zusammenhänge des Lebens, allen voran den von Leben und Tod, zerstören, er verhöhnt sie." "Wir liefern uns inszeniertem Sterben, inszenierten Prunkbegräbnissen aus, sehen uns ihnen ausgeliefert." "Rufen mit unserem Gott: Lasset die Kindlein zu mir kommen und wehret sie nicht, denn ihrer ist das Himmelreich, und schicken sie auf unserer Ehre Felder." "Wir geilen nach kleinen Toden. Bis! Bis! Bis!" "Es gibt keine kleinen Tode, der Tod ist eine absolute Zäsur." "Trifft eine Rakete das israelische Nachbarhaus, tanzen wir Araber auf unseren Dächern." "Auch sie bekommen Gasmasken, natürlich später." "Die Raketen machen uns fertig. Eine Erniedrigung." "Das Irr-Surrealistische der Gasmasken. Überall diese Gasmasken." "Fickst du mich?" "Soll ich dich ficken?" "Zack." "In diesem Krieg fressen wir uns dick. Versitzen die Zeit vor dem Fernseher." "Eine Banane? Tee?" Auf dem Bildschirm erscheint Theresienstadt, die Vorzeigestadt, das starre Lächeln der Überlebenden. "Wir haben Glück gehabt", sagen sie.
Nach dem Frühstück gehe ich. Es regnet. Sie geben mir ihren Regenschirm.

 

Jerusalem. Schulz' Nachbarjunge hat sich in einer der neuen Siedlungen östlich Jerusalems ein Heim geschaffen. Es schaut auf die Wüste.

In seinen Fotografien nimmt mir immer etwas die Weite und somit die Nähe. Grosse Wärme herrscht zwischen ihm und mir. Sie bringen uns nach Hause. Die grossen Zeichnungen!
"Sabina, Du schaust nicht weg, ich schaue nicht weg." "Der Tod ist immer in Reichweite. Auge in Auge mit ihm besteht kein Wenn und Aber, keine Entschuldigung, keine Reue." Er nimmt mein Gesicht fest zwischen seine Hände: "Sabina, ich liebe dich!" In aller Gesichter steigt Röte.
Es sind die Machtinhaber von Systemen, die auswählen; die Beamteten ihrer Apparate auswählen lassen. Der Künstler hat keine Wahl. Stätten können ihm verwehrt bleiben, man kann sein Zeugnis von der Hand weisen - Wissen ist immer Allgemeingut -, ihn zurückschlagen, hinhalten, abhalten, einlochen, für verrückt erklären, unrein im Namen des herrschenden Vaters und Sohnes und Heiligen Geistes, ihm alles Papier, jeden Stift nehmen, jeden Kontakt unterbinden. Dann kratzt er seine Spur in den Staub des Bodens, seine Haut, schleudert, winselt seine Worte an die Wände des ihn abschliessenden Raums, raus in die Wüste, krümmt sich, rennt zum Fenster, sucht eine Wand, paart sich mit Leere. Im roten Feucht seiner Hände ballt sich der Staub.

Ich schlafe im Zimmer des Sohnes. Die Tür bleibt offen. Das tut mir gut. Ich mag keine geschlossenen Türen. Es ist ein Haus der Ruhe. Hanna ist ein Mensch der Ruhe, entwaffnender Ruhe. Die paar doch so irrigen Hoffnungsschimmer? Sie lacht.
Ganz früh stehe ich auf, mache mich fertig, gehe wieder auf mein Zimmer, zeichne. Am Nachmittag holt Isaak uns ab. Eine Ausstellung und noch eine. Es giesst. Es ist mehr, dass man sich sieht und gesehen wird. Isaak hat einen Kuchen gebacken. Wir holen den Kuchen. Ich suche drei äthiopische Tonfigürchen aus. Er kommt mit. Wir sitzen, essen, sprechen. Sehen die Zeichnungen durch. Sind nur still. "Sabina, du hast einen Freund in Jerusalem und mein Herz." Hanna und ich fahren nach Tel Aviv. Sie fährt zu ihrem Sohn, ihrem Enkel, der Schwiegertochter aus den Niederlanden. Heute Abend wird in allen Häusern die erste der acht Kerzen des Einweihungsfestes angezündet, gibt man sich kleine Geschenke. Heute Abend gehöre ich zu ihnen.

 

Tel Aviv. Es giesst. Ich habe wieder mein Zimmer mit Balkon zur Strasse. Ein Eilbrief von dem alten Mann: "... die Betonung war doch etwas, das ich ... nicht für (geistig) gesund halte. ... Nochmals zurückblendend, um den Anschluss an vorher erwähnten Endteil der Szene - der Rolle des Nacktseinmüssens, um etwas zum Ausdruck zu bringen - zu finden. Wenn man solch starke Sehnsucht hat, solch starkes Gefühl, so ist das schon Beweis, in welcher Reihenfolge die KRÄFTE Körper-Geist (in 'Geist' lies alles hinein, was mit Gefühl zu tun hat) stehen. Bei denen spürte ich doch sehr (wie überhaupt bei Schauspielern), dass 'Körper' sehr dominiert..."

Mein Zimmer ist feucht. Ich kriege die Balkontür nicht zu. Es tropft von der Decke. Die Aussenwände sind nass. Ein elektrisches Öfchen. Frische Blümchen. Das Papier nimmt den Bleistift anders auf. Es hat seit vierzig und dann steht fest seit sechzig Jahren nicht mehr so geregnet. Dem Zerfall durch Trockenheit folgt die Verrottung durch Feuchtigkeit.
Es gibt eine Hierarchie des Leides.

"Jeder hat das Recht hier zu sein, sein Kampf ist seiner und er kämpft ihn mit seinen Mitteln."
Kunst ist hier nicht besser, gehaltvoller, geladener als sonst wo, wie immer und überall schafft man sich Abstand vom Leben, überspielt es.

Es ist frisch, nass. Ich setze mich in ein Café, schreibe. Lange bin ich die einzige Frau. Eine Tasse Kaffee. Und noch eine. Am Nachmittag sitze ich in einem anderen Café. "Soll ich Ihnen etwas erzählen", sagt der alte Mann, zu dem ich mich an den Tisch setze, "1936 komme ich her, aus Wien. Ich bin Sänger. Ich gehe zur Oper. 'So gut, wie ich bin, ist keiner', sage ich. Ich singe vor. Werde angenommen. Natürlich, es gibt bessere, es gibt schlechtere: so gut wie ich bin, ist keiner. Ich lüge nicht, hebe mich nicht hervor. Ich sitze nur noch da, schaue. Ich bin pensioniert."
Noch einmal zu dem russischen Maler. Ein Freund, der sehen soll, was ich tue, ist auch da. "Er kann Deutsch." Er stösst den anderen an: "Sag etwas."

 

Magen. Den Bus um 8 Uhr 30 würde er nehmen, hatte er gesagt. Ich räume mein Zimmer, gebe das grosse Gepäck bei dem Alten in Bewahrung. "Warum wollen Sie das Zimmer bezahlen, wenn Sie nicht da sind." "Ob die Busse fahren?" "Regen dauert hier nicht so lange", sagt er. Der Mann, der nicht mehr in Berlin geboren ist, ist nicht am Bus. Ich steige ein. Der Regen dauert, überflutet die Strassen. Ashkelon ist von hier aus schon durch die Fluten abgeschnitten. Der Fahrer wendet im Wasser, nimmt eine andere Route. Wo und wann du hier mit dem Bus unterwegs bist, an allen Haltestellen stehen Soldaten. Rechts liegt Gaza.

In Magen steige ich aus. "Bitte, wo finde ich ihn?" "Schauen Sie im Gemeinschaftsraum. Es ist Essenszeit." Fahrbare Gestelle voller Essen. Kantinentische. Gruppen von Menschen hinter vollen Tellern. Salate, Vorspeisen, Humus, Suppe, Brot, Kartoffeln, Fleisch, Fisch, Gemüse, Obst, Joghurt, heisses Wasser, Kaffee - Nescafé, gewöhnlicher Kaffee -, Tee, kaltes Wasser, Limonade, Teller, Messer, Gabeln, Löffel, Servietten, Tabletts. Jeder stellt sich seine Mahlzeit selbst zusammen. Die meisten Portionen sind gross. Viele gehen noch einmal. Sie essen, wie man in Kantinen isst, in Kinderheimen, in Räumen, die von keinem persönlich sind.

Ich werde die zwei Nächte in der Wohneinheit der jüngeren Tochter im Jugendtrakt untergebracht. Jeder Jugendliche, der den verschiedenen Kinderhäusern entwachsen ist, verfügt über ein eigenes Wohn- und Schlafzimmer mit Veranda, Vorraum, Kochnische und Dusche mit Klo. Frühstück, Mittagessen und Abendbrot ist Gemeinschaftssache im Gemeinschaftsraum. In diesem Trakt wohnen die, die beim Militär sind, zum Studium in Jerusalem, Tel Aviv oder sonst wo. Der Sohn, das jüngste Kind, wohnt bei den Eltern. "Das Leben hier hat sich geändert." Die älteste Tochter wohnt in Jerusalem.

"Die gelebte ideelle kommunistische Gesellschaft, das ist reine Erziehungssache. Die Leute werden träge. Die Frauen können nicht mehr kochen. Kochen ist für sie wie das Besticken von Paradekissen. Die Kette: Hunger, Anpflanzen und Ernten oder Einkaufen, Kochen, Hungerstillen ist für den einzelnen, die einzelnen Haushalte hier ausser Kraft gesetzt, bedeutungslos geworden. Vor ein paar Jahren fangen wir an Essen nicht mehr ausschliesslich im Gemeinschaftsraum zu den festgesetzten Zeiten essen zu müssen. Wir können uns das Abendbrot holen, zuhause essen, wir können auch Grundstoffe holen, selbst etwas zubereiten, morgens zuhause frühstücken."
Die Wäscherei. "Du bringst deine Wäsche und holst sie schrankfertig und ausgebessert wieder ab."
Die Schneiderei. "Es ist keine Haute Couture, hat keinen Chic. Dann fahre ich mit meiner Frau nach Tel Aviv. Nein, nicht nach Be'er-Sheva.
Im Kleinkinderhaus wohnen die ganz Kleinen. Nicht mehr alle wie früher. Wir wissen jetzt, dass es gut ist, wenn diese Kleinen zuhause aufwachsen." Ein paar Kinder schlafen noch hier, eins kriecht rum. Die Aufsicht sitzt am Tisch, liest, isst Süsses. Ist dick.
Die grossen Kinder. Die Schulräume. Die Schlafräume. Der Computerraum. Der Spielraum.

Dreimal verschicken sie mich. Einmal in ein Kindererholungsheim in der Nähe von Göttingen, zusammen mit meiner Schwester, und zweimal auf die Insel Langeoog, allein. Fünf-, sieben-, dreizehnjährig. Der grüne Lebertran auf nüchternen Magen, die süssen Nudelsuppen. Kellen voll Essen auf die Teller geschlagen. Die gelben festen Puddings mit rotem Saft. Der Mittagsschlaf. Das gemeinsame Singen. Ich komme um vor Heimweh oder Rauskommen. "Iss. Du musst ansetzen." Die Strafe, die ich bekomme, weil ich - ich weiss nicht - oft. Ich gehe wie selbstverständlich hoch in das Zimmer mit den zwanzig leeren weissen Betten - "Ist es wieder so weit", fragt die Putzfrau. "Ja." -, lege mich auf mein Bett, singe. Begreife nicht, warum. Martere mir das Gehirn. Wut presst mir Tränen aus den Augen. Ich schreie nicht. "Du musst. Du sollst. Es ist gut für dich. Wir meinen es nur gut mit dir. Du darfst." Das eine Mal, das unsere Eltern kommen, liege ich auch da oben. Meine Schwester spricht mit ihnen. 'Unmög' nennen sie mich, das kommt von unmöglich. Zehnmal gehe ich mit meinem Teller nach vorn, hole mir zehn Schläge Bohnen. Mein Gehirn weiss nur noch: "Bohnen." Mein Leib weiss nur noch: "Bohnen!" Dann kotze ich alles wieder aus. Sie wissen es nicht. Ich freunde mich mit den Fliegen auf meiner Hand an. Grüne Dicke, kleine Graue. Jage sie nicht weg. Jagte ich sie weg, wüsste die Aufsicht, dass ich nicht schlafe. Das sind die Bilder, die beim Gang durch die Kinderhäuser in mir hochkommen.

Der Tiergarten, den die Kinder selbst versorgen, der botanische Garten. "Man isst zuviel", sagt er, "und der Magen verarbeitet, was die Hand unter den zusehenden Augen aufschöpft, in den Mund steckt, was die Kehle runterschluckt.

Damals haben wir Nettozeit für die Kinder. Bis 14 Uhr 30 arbeiten wir auf dem Feld. Dann duschen wir uns, schlafen. Nach 15 Uhr 30 holen wir die Kinder oder bringt man sie. Bis zum gemeinsamen Abendessen im Gemeinschaftsraum bleiben sie bei uns. Diese Nettozeit ist ohne kochen Müssen, Plätten, Schularbeiten. Nur Eltern/Kinder. Nach Abschluss der Schule müssen sie zum Militär. Nur Mädchen aus streng religiösen Milieus sind freigestellt."
Der Erste-Hilfe-Posten. Die Poliklinik. Der Zahnarzt. Die Schreinerei.
"Gebrauchsmöbel. Sie deckt nicht nur den eigenen Bedarf. Unsere Möbel sind aus Tel Aviv.
Unser Bildhauer. Er kann mehr und mehr seiner Zeit seiner Holzschnitzerei widmen. Wir haben zwei Musiker in Philharmonischen Orchestern; einen Tag pro Woche arbeiten sie im Kibbuz im Kuhstall, auf den Feldern, in der Küche. Das Geld, das sie verdienen, fliesst in die Kasse des Kibbuz. Wir haben kein eigenes Geld. Natürlich haben wir das. Ein festgesetzter Freibetrag für Dinge, die nicht lebensnotwendig sind. Ich studiere Gartenbauarchitektur in Tel Aviv. Das Studium bezahlt der Kibbuz. Eine feste Anzahl Tage pro Woche arbeite ich im Kibbuz. Die Altersversorgung im Kibbuz ist gut und du bleibst in der Gemeinschaft, isst im Gemeinschaftsraum."
Das Grab des Beduinenscheichs: eine Totenburg.
"Damals flohen die Araber und wir zeigten ihnen ganz schön, wohin. "Hier ist nichts, als wir kommen, gar nichts."

Gegen Abend gehe ich zu ihnen. Die Baracken der ersten Phasen haben sie hinter sich. Das Fernsehen bringt Bilder von der Überschwemmung. Fluten in Tel Aviv. Ashkelon ist vollkommen abgeschnitten. "Früher schnitten uns die Fluten im Winter immer für drei Tage ab", sagt er. Die Strecke Jerusalem/Tel Aviv ist unbefahrbar. Militär räumt auf. Die Wüste grünt. Noch einen Film über Magen, die künstliche Oase, das grünende Wunder in der Negev; hat sein Onkel gemacht. Sein Onkel wohnt in München.

Für Auslandsreisen bekommen sie Devisenbonusse, können entweder alle zwei Jahre für drei Wochen nach Europa oder alle sechs Jahre, entsprechend länger, nach Amerika. Seine Frau arbeitet mit den Kindern. Heute Abend backt jede Familie ihre eigenen Kartoffelpuffer. Jede Familie geht mit Spirituskocher und Pfanne zum Gemeinschaftsraum. Geriebene Kartoffeln und Öl stehen bereit. Heute wird die dritte Kerze des Einweihungsfestes angezündet.
Danach bereiten sie im Theater des Kulturhauses den Neuankömmlingen aus Russland und Äthiopien der weiteren Umgebung mit einer Revue einen festlichen Empfang. Magen verfügt über ein Kulturhaus, in dem es an nichts gebricht. Bis auf manche zu teuren Produktionen wird hier alles angeboten, was es an Theater, Ballett und Konzerten gibt. Der Saal ist mehr als zur Hälfte mit schlafenden oder einschlafenden Soldaten besetzt; die Gewehre zwischen den Schenkeln. Ganze Einheiten werden zu solchen Veranstaltungen abgeordnet und hergeschafft. Die Äthiopier kommen in ihren traditionellen Gewändern.

Als meine Eltern dann mit uns das Haus im Pfaffengrund beziehen, gehören wir zu den Kleinsiedlern. Damals singen an unserem Empfangsabend ältere Damen schöne Lieder, singen Chöre, tritt ein Jodler auf, gibt es Kabarett: Herzlich Willkommen!

Das Frühstück ist so üppig wie alles. Für die aus Russland, aus Äthiopien muss dies das Land sein, in dem buchstäblich Milch und Honig fliessen.
Er zeigt mir den Kibbuz. "Das sind die Baracken der Russen, die hier an Sprachkursen teilnehmen. Ihre Duschbaracke steht auf der anderen Strassenseite. Dies ist der zweite Kern des Kibbuz'.
Am Anfang ist Wüste und der Wille dieses Land blühen zu sehen. Es soll uns an nichts mangeln und unsere Kinder sollen es gut haben. Orangenplantagen, fruchtbare Weiden, Vieh. Wir schaffen es. Mit dem, was ich jetzt weiss? Nein. Nie noch einmal. Anfangs kommt jeden Tag ein Wasserauto. Einen Tank Wasser bekommen wir pro Tag. Hier auf dieses Gerüst gehievt. Das ist auch unsere Dusche. Die erste Baracke. Der Tisch, die Stühle. Jeder hat seinen eigenen Löffel. An die Wände hängen wir Fotos von Lenin, Stalin - ja, er hängt noch immer da: dies ist ein Museum -, von Che Guevara. Wie naiv wir sind! Immer zwei bewaffnete Posten. Stacheldrahtumzäunung. Nichts als Stein. Diese Art Sozialismus ist nicht jedermanns Sache. Man muss schon Ideale haben." "Der doppelte Zaun jetzt?" "Ist nicht aus Angst vor der blutigen Rache der Araber, ist wegen Diebstahls. Araber, wahrscheinlich. Ersatzteile, Reifen, Maschinen.
Für die Frauen, sicher für die Schwangeren, ist jene Zeit furchtbar. Wenn wir Männer nachts pinkeln müssen, pinkeln wir in eine Konservendose. An der Konservendose ist ein Bindfaden befestigt. Wir schleudern die Konservendose in die Nacht. Ziehen sie am Bindfaden wieder ein. Die Frauen? Es ist deutlich, dass wir unsere Neugeborenen nicht diesem Leben aussetzen können. Das erste Kinderhaus entsteht. Wir stellen eine Krankenschwester ein. Sie muss nur diese menschlichen Pflanzen hüten. Raum, Ruhe, Wasser. So karg die Bedingungen der Erwachsenen, so wohltemperiert die der aufwachsenden Kinder. Dafür arbeiten wir." "Hier liegen Lust und Freiheit und von anderen oder einem selbst auferlegter Zwang dicht bei einander." "Niemand wird gezwungen, jeder tut, was er tut, freiwillig, fügt sich freiwillig ein. Nach dieser ersten Baracke kommt die, in der jetzt die Russen wohnen. Jetzt will jeder für sich haben.
Nein, wenn ich Europa besuche, dann High Life. Ausbruch.
Mein Grossvater war schwer deutsch-national. Meine Mutter, seine Tochter, heiratete einen Juden, alle seine Töchter heirateten Juden. Meine Mutter drängte meinen Vater nach Palästina zu gehen, nicht länger zu zögern.
Hier werden Orangen, Pampelmusen, Zitronen, Früchte aller Art, Radieschen, Kartoffeln sortiert, keimfrei gemacht und verpackt. Hier lagern wir unsere Erdnüsse. Unsere Silos sind gut. Wir brauchen nicht aus ins Haus stehender Not zu verkaufen. Wir bringen unsere Erdnüsse auf den Markt, wenn ihr Preis auf dem Weltmarkt anzieht. Heute arbeitet nur eine minimale Belegschaft. Streik. Das ist neu für uns." Wir fahren durch die Orangenplantagen, durch Siedlungen, die keine Kibbuze sind, doch angeschlossen an die verarbeitende, verpackende, einlagernde Industrie; an zahllosen Villen vorbei, an Plastikbahnen, Kanistern, Hausschrott. "Ausserhalb seines Kibbuz, ausserhalb der eigenen Besitzungen deponiert der Israeli seinen Dreck. Wir leben hier auf der Scheide Westen/Orient. Im Anfang stieg ich noch aus, räumte auf. Alles ist Erziehungssache, reine Erziehungssache." Hier in der Wüste gibt es echte Salzburger Mozartkugeln. Weiter Wüste einwärts fahren wir an einem Grosscontainer-Lager für Äthiopier vorbei. "Sie haben zu essen und zu trinken. Sie haben keine Arbeit. Es gibt schon längst nicht mehr für alle, die ins Gelobte Land kommen, Arbeit. Früher bedeutete das: kein Brot. Das ist jetzt anders. Unser Kibbuz kann vielleicht noch zehn aufnehmen, der Rest wäre Müssiggängertum ausgeliefert. Müssiggängertum hat schwere Folgen. Der Arbeitsmarkt hat seine Grenzen. Mehr verkraften wir nicht ohne Bankrott zu gehen. Jetzt sind allein so viele Russen hier, wie am Vorabend der Gründung Israels die ganze Bevölkerung zählte." Bei einer Senke voller Wasser kehren wir um.
Die kibbuzeigene Fabrik für Klimaanlagen. "Vornehmlich für Gewächshäuser; für den Export." Die Gärtnerei. "Christustränen. Natürlich wissen wir, dass das Quatsch ist. Wir erzielen hohe Preise. Weihnachtssterne, Christustränen sind gefragt. Natürlich auch andere Topfpflanzen. Man muss immer mit was Neuem kommen."

Mittagessen. Mittagsschlaf. Am späten Nachmittag hole ich ihn ab. Er spricht einen deutschen Brief auf Kassette. Wir gehen zu einem anderen Haus. Seine Frau backt für die Kinder da Kartoffelpuffer. Wir essen mit.

Sie wollen die Zeichnungen sehen. "Natürlich", sagt er. Geht noch einmal mit mir durch die Ställe. Wir essen im Gemeinschaftsraum zu Abend. Er zeigt mir noch den Vortragsraum. Morgen, früh schon, fahre ich wieder nach Tel Aviv, via Be'er-Sheva. "Alles, wofür ich mich, seit ich denken kann, einsetze und dann in Ihren Zeichnungen sehen, wo die Gesichter sind, es ja wissen. Der Aufbau, das alles zu erreichen. Das Teilen der Härte ist etwas anderes als das Teilen des erlangten Wohlstandes. Jetzt werden Altenteile gebaut, wird eine von uns Physiotherapeut, für uns. Ich kann nicht versprechen so früh schon beim Frühstück zu sein. Auf Wiedersehen."

 

Be'er-Sheva. Der Beduinenmarkt. Kamelmarkt, steht in den Reiseführern. Ich sehe kein Kamel. Autos. Der Markt ist wie alle Märkte, eben mit vielen Beduinen. Ausserhalb des Marktgebietes auf brachliegendem, vom Regen noch durchweichtem Grund, zwischen alten Autos erinnert er mich an Katowice. An Strassenecken kauern verhüllte Frauen. Zu dritt, zu viert. Kauern, rauchen. Ich denke an ihre beschnittenen Schösse, es macht mich wütend.

 

Tel Aviv. "Man fragt, was Sie tun", sagt der Alte, "eine Frau, schön, allein, geht, kommt." Ich spreche lange mit ihm. Diesmal ist mein Zimmer ganz oben, nach hinten raus, mit eigenem Klo. Diesmal ist es für eine Nacht nur. Morgen fahre ich mit einer Gruppe für zwei Tage ans tote Meer.

Am Abend bin ich bei der Frau, die sich dann den Hass abschreibt. Auch ihr Mann ist ein Überlebender. Sie zeigen mir Fotos der Arbeiten ihrer jüngsten Tochter. Sie begibt sich damit in das Grauen ihrer Eltern von damals. "Sie muss jetzt raus in die eigenen Strassen", sage ich. "Wenn Sie sich entscheiden müssen zwischen Auftritten in Krakau und Jerusalem", fragen sie.

 

Das tote Meer. Wieder gebe ich mein grosses Gepäck bei dem Alten ab. Die Gruppe ist klein. Von Tel Aviv aus, ein Deutscher, ein Kolumbianer, beide am Weizmann Institut, und ich. In Jerusalem kommt noch eine Studentin aus Heidelberg dazu. Unser Führer ist Bibelschüler, nicht orthodox.

Ahnte ich beim Gang durch das Bett des Wadis Quelt tatsächlich die Wüste, kommen wir hier über eine - in nicht ermüdende Abschnitte aufgeteilte - Führung nicht hinaus. Abschnitte von je zwei Stunden, gefüllt mit dem Geplapper endloser ausweidender Erklärungen, Wenn und Aber, Vermutungen. Das Tote Meer. Von seiner Mitte an Jordanien. Das Geplapper.

Qumran: ... Männer kommen von Jerusalem nach Qumran. Eine Woche durch Steine, Hitze, Kälte. Sie klopfen an. "Wir möchten bleiben." Der Weise schickt sie vierzig Tage in die Wüste. Danach mögen sie bleiben.

Du kannst tatsächlich auf dem Toten Meer liegen. Wir müssen uns beeilen, in zweieinhalb Stunden schliesst das Naturreservat. Die Pfade zu den Wundern der Wüste sind abgesteckt und voller lärmender Menschen. Steine verwittern zu Gesichtern, als hätten sie Seelen, Gesichter versteinern, als hätten sie keine. Die Stille der Wüste erreichen wir nicht. Dann sitzen wir kurz am Toten Meer. Jeder für sich. Die Steine glühen bis hin in tiefes Rot.

Hoch zur 'Field-School'. Noch ein ganzer Bus Japaner kommt gleich nach uns an. Die Zimmer, der Essraum, alles irgendwie kahl, hingestellt, kahl hingestellt. Niemand bleibt zwischen Schlaf- und Esstrakt stehen der Stille zu lauschen. Noch ein Videofilm über die Wüste.

Massada: Der Tod ist ihnen gewiss und wenn nicht in letzter Schlacht, dann durch Abschlachtung in Gefangenschaft. Sie gehen in ihre Häuser, öffnen Frauen und Kindern die Halsschlagadern. (Was geschieht mit jenen Kindern, die kurz vor der Geburt stehen? Können sie sich selbst aus dem Tod, in den sie eingenistet sind, gebären und abnabeln? Und dann? Verfaulen sie? Wir wissen nichts von dem Kampf da, nichts von der Geburt aus noch lebenden Leibern, trotz aller Daten, geschweige denn der aus verwesenden.) Nach vollbrachter Schlachtung begeben sich die Männer in jenen Raum, der den Gesprächen vorbehalten ist. Zehn werden durch das Los dazu bestimmt den anderen die Halsschlagader zu öffnen, dann zwei den übrigen acht. Die zwei müssen dann selbst Hand an sich legen. Niemand weiss, kann auch wissen, ob sie das tun, beide, einer. Es gibt keine Spur von zwei Flüchtenden, keine von einem. Der, der die Geschichte aufschrieb, war nicht dabei, er spricht von acht Zeugen.

Vom Toten Meer bis Jerusalem, wo wir die Studentin absetzen, und von da bis Tel Aviv zerpfeift unser Führer die Dunkelheit. Es schmerzt mich. Ich sitze neben ihm. Er weiss, dass es mich schmerzt, muss es spüren. Ich halte mir die Ohren zu. Er hört nicht auf. Ich sage nichts. Die anderen wissen, dass es mich schmerzt. Auch sie habe es geschmerzt, sagen sie mir in Tel Aviv.

(Im Institut zermanscht mir diese elektronische Stimme, die sich unter mir, sich höher und höher schraubend mit winzigen Pausen wiederholt, den Leib, zerquirlt mein Gehirn. Kein Zimmer des Hauses, das diese Stimme nicht durchdringt. Ich gehe weg, komme wieder, setze den rufenden Gesang von Shlomo Bar dagegen ein, schalte ihn aus. Arbeite unter diesem Zermanschtwerden weiter. Vielleicht ist dieses Zermanschtwerden unter jaulend sich hoch schraubenden lauter und lauter werdenden elektronischen Stimmen unsere nicht mehr abzuschaltende Zukunft.)
Ich kaufe eine Flasche Wein. Habe mein geliebtes Zimmer mit den nässenden Wänden, der nicht schliessenden Balkontür, den Blümchen. Wie dankbar ich diesen Leuten bin, die in dies billige Leben Blümchen stellen, ein elektrisches Öfchen, meine vollkommen durchnässten Schuhe so hinstellen, dass sie trocknen können, die sagen: "Passen Sie gut auf sich auf."

 

Um 8 Uhr bin ich am Busbahnhof. Ich habe Tiberias noch nicht gesehen. Ich will es gesehen haben. Um 15 Uhr 30 dann noch ein Gespräch in Jerusalem. Der Busbahnhof wimmelt von Militär. In den ersten Buss passt niemand mehr. In den zweiten. Der Busfahrer singt, flucht, pfeift, bremst, dass wir aus den Sitzen fliegen, trommelt auf dem Lenkrad, breitet die Arme aus. Er ist dick, trägt die Kippa, lacht, kurvt durch das grüne Galiläa. Mir bleiben in Tiberias eineinviertel Stunden. Ich gehe runter zum See. "Was trinken?" Ich setze mich an einen der Tische am Ufer, trinke Saft, starre über das Wasser. Da muss Kapharnaum liegen. Mehr denke ich nicht. Gehe.

Ich setze mich links, ganz hinten, ich will freie Sicht über den Jordan. Orthodoxe Eltern mit drei Kindern kommen auch nach hinten. Die Eltern setzen sich vor mich, die Kinder, mit nur einem Platz Zwischenraum, neben mich. Ununterbrochen verschwinden Süssigkeiten in diesen Kindern wie in allen Kindern, allen Menschen überall auf der Welt, sobald sich Naschereien in Reichweite befinden. Zuckerglasiert, die letzten Popcorns im Schoss, schlafen sie ein. Ein Soldat setzt sich neben mich. Reservist. Sein Monat Dienst dieses Jahr. Bebaute Felder diesseits, unbebautes Land jenseits des Jordans. "Es ist da nicht überall unbebaut", sagt er. Doppelter Stacheldraht. Strassenkontrollen. "Kibbuze", sagt er, "das ist vielleicht die! Form des Aufbaus. Die von da kommen schauen, wie wir das machen." Länger als eine Stunde bin ich nur wenige Meter von der Grenze entfernt. "Sie müssen das richtig verstehen, wir wohnen in diesem Land, das 2000 Jahre nicht mehr von uns war. Wir sind hier. Leben hier. Haifa ist meine Geburtsstadt, ich habe da Arbeit. Gehöre in kein anderes Land. Vier Wochen Patrouille im Jeep. Am Ablauf unseres täglichen Lebens hat der Golfkrieg nichts verändert. Ganz versteckt in uns, schon. Das heisst, alles wird hurtig wieder so hin und her gezogen und gerückt, dass die Oberfläche glatt, normal aussieht. Wer nach Jordanien will, muss über diese Brücke. Die Gasmasken, die Raketen: die Drohung ist nicht mehr nur ein entfernter Alptraum, sie ist abgefeuerte Realität." Irgendwo inmitten der Trockenheit, von den grünen Feldern keine Spur mehr, steigt er aus.
Jericho. Strassenzeilen von Hitze dumpf geschlagen. Dann ächzt der Bus hoch durch die ockere Steinwüste.

Jerusalem. Ein Durcheinander von schwarzen Mänteln, schwarzen Hüten, Koffern, Kindern, Frauen, Soldaten, Gewehren. Ich bin spät dran. Ein Taxi! Im Theater verlaufe ich mich. "Bitte." "Nicht hier." "Es ist doch..." Ich gehe wieder zum Empfang. "Es ist ein kompliziertes Gebäude", sagt der, der mich holen kommt, "Sie müssen am Essensgeruch vorbei."

Um 18 Uhr im King David Hotel. Heute bieten die Äthiopier hier in einem abschliessbaren Trakt der Empfangshalle ihre Tonfigürchen und Handarbeiten dar und an. Es ist der letzte Tag des Einweihungsfestes. Da sitze ich, warte auf Hanna. Auch Isaak kommt. Jemand sagt: "Die Äthiopier kommen." Man öffnet die Türen des Traktes. Einer hält eine Ansprache. Der Älteste der Äthiopier zündet die letzte der acht Chanukkakerzen an. In dieser Halle, in der sie so vollkommen ausgesetzt sind, setzt die unerschütterliche Ruhe, die ihr Ältester verströmt, die, die da sitzen, geschäftig hin- und herlaufen, aus, wenn auch nur eben. Äthiopische Jungen rühren die Trommeln. Dann stürzt sich die Meute auf die Tische. Wein, Champagner, Saft, Süsses, Herzhaftes, Karotten, Sellerie, Humus, Kartoffelpuffer. Die Äthiopier stehen und schauen, wie wir - Hotelgäste, Geladenen - zwei, drei, vier Kartoffelpuffer auf einmal nehmen, ein, zwei, drei Gläser Champagner hintereinander runterkippen, uns, Lippen und Finger ableckend, über ihre Figürchen beugen.

Dann sitzen Hanna und ich noch in einem jemenitischen Restaurant. Auch Restaurants, bezahlbare, haben hier etwas Lagerhaftes. Gegen Mitternacht bin ich in Tel Aviv.

 

"Du weisst nichts", sagt der Mann vom Goethe Institut, "du warst nur zwei Tage Zuschauer. Du weisst nichts, du sprichst kein Iwrith. Weisst du, was der sagt? Er sagt, im Kibbuz sei der Sozialismus für wahr verwirklicht." "Wie lange war er in einem Kibbuz?" "Einen halben Tag." "Spricht er Iwrith?" "Nein."

Um 12 Uhr 30 kommt der alte Mann. Ich begrüsse ihn beim Empfang. "Kann ich meine Tasche auf dein Zimmer bringen." "Du kannst sie hier abgeben." Er gibt sie nicht ab. Wir essen in einem italienischen Restaurant, mit dem Rücken zur Wand. Er nimmt den Ober beim Arm: "Seit der Hagana!" Auf der Strasse sagen wir Ade.

"Berlin! Berlin!" Das Weiss ihrer Augen. "Wien! Karajan! 1936 komme ich her. Ich begreife ja erst lange danach, was da überhaupt los war. Adenauer hat ja mit seiner Wiedergutmachung den Wohlstand hier gehoben. Die Kibbuze profitieren von der Wiedergutmachung an sich und von der individuellen Wiedergutmachung an ehemalige Deutsche, die da in den Kibbuzen ihr neues Land aufbauen. Massada, auf Massada waren Sie! Ich liebe das Requiem von Mozart, gespielt auf Massada! Dieser Dirigent, fabelhaft! - schwul, na ja, alle Künstler sind - so begnadet!"

Ihre Finger fahren über jedes Blatt, ziehen die Spuren jeden Gesichts nach. Er sagt: "Sabine, könnten das nicht Ihre Gefühle den Menschen gegenüber sein?" "Schon bevor ich von Schulz wusste, entschliesse ich mich meiner Hand, meinem Leib ihr Fühlen, meinen Augen ihr Sehen, meinen Ohren ihr Hören nicht länger vorschreiben zu lassen, es ihnen nicht länger vorzuschreiben." "Das sind Yad-Vashem-Zeichnungen." "Das ist hier in den Strassen, jetzt." Er schüttelt sich. Wovor schüttelt er sich?
"Auf Wiedersehen."
"Ich hoffe, ich komme in deinem Bericht vor", ruft sie mir nach.

Das Land zerrt an dir, schleudert dich hin und her; Klima, Landschaft, Menschen. Und dann das Verbinden, das Glätten zu einer Art doppelter Normalität, in diesem an jeder Strassenecke bewachten Freiheitsraum.
Jemand sagt: "Die Wüste, der wir uns seit je entziehen... Wir negieren der Wüste Rhythmus, wo und wie es uns beliebt. Unterwerfen sie uns. Schaffen uns Ordnung aus beschränkter Wunschansicht. Was sich ausserhalb unserer Ansicht befindet, wir nicht mit einbeziehen, nimmt immer horrendere Ausmasse an, rafft unsere voller Hingabe und Mühe geschaffene exklusive Ordnung hinweg. Keine Mauer kann das verhindern."

"Es hat nichts Messianisches an sich", hatte der Mann vom Goethe Institut noch gesagt, "das ist wichtig, gerade hier." Was ist das: wichtig? Was folgt diesen ausgesprochenen Ansichten?

Ich packe meine Sachen. Streiche Namen aus. Bezahle. Gebe mein Gepäck für zwei Stunden noch bei dem Alten ab. Laufe durch die Strassen, entlang dem Meer. Rufe in Zaltbommel an: "Heute Abend."

Haben Sie Familie in Israel?
Sind Sie Jüdin?
Der Name Ihres Vaters.
War das Ihre erste Reise nach Israel?
Was haben Sie da getan?
Wen kennen Sie da?
Namen, Adressen.
Woher haben sie die Namen, die Adressen?
Wo haben Sie gewohnt?
Wo kommen Sie jetzt her?
Wie sind Sie hergekommen?
Ist dieser Rucksack ihr Eigentum?
Wie lange haben Sie ihn schon?
Wann haben Sie ihn gepackt?
Hat Ihnen jemand dabei geholfen?
Hat jemand Sie gebracht?
Warum hat niemand Sie gebracht?
Telefonnummern.
Wenn wir diese Nummer jetzt anrufen?
"Bitte."
Ist jemand, den Sie kennen, in der Halle?
Hat jemand Ihnen etwas gegeben?
Geschenke?
Von anderen für andere?
"Zeichenblöcke. Mein Notizbuch."
"Warum ist hier Schwarz drüber?"
Dann sprechen der Junge und das Mädchen miteinander.
"Bitte, kommen Sie mit", sagt der Junge.
Es bleibt kein Stück unausgepackt, keine Unterhose, keine Papierhülle um die Figürchen hin unbesehen, keine Tube zu, keine Creme undurchgerührt, nichts undurchleuchtet.
"Warum haben Sie so viele Batterien?
Nein, Sie dürfen nichts selbst einpacken."
"Es muss sehr genau geschehen."
"Ich reiche Ihnen Stück für Stück."
Der Fotoapparat muss ins grosse Gepäck. Erst muss ich noch eine Aufnahme damit schiessen, aber nicht in seine Richtung. Meine Zeichenblöcke dürfen ins Handgepäck. Dieses Filzen dauert anderthalb Stunden. Dann muss ich in eine Kabine. Mein um den Leib gebundener Geldbeutel, die Tasche am Gürtel werden umgekrempelt, der Geigerzähler fährt zwischen die Beine, unter die Füsse, über den Bauch, die Brüste. Das tut eine Frau.
"Sie müssen sich beeilen", sagt der Junge nervös, als ich wieder draussen bin, "in sieben Minuten schliesst die Abfertigung ihres Fluges." Mit der ihnen aufgetragenen Macht aus Angst müssen sie so nervös sein. "Bitte", sage ich, "nehmen Sie das Gepäck, Sie könnten mein Sohn sein." Es ist das erste Mal, dass ein Anflug wärmenden Lächelns über sein Gesicht huscht. Die Schlange vor der Passkontrolle lässt mich vor. Noch das Durchleuchten des Handgepäcks und die Radartür. "Nehmen Sie die Gürteltasche ab." "Nein, ich bin anderthalb Stunden gefilzt worden, sie haben nichts ausgelassen." Ich weise auf die rosa Kontrollpunkte. "In dreissig Sekunden schliesst die Abfertigung meines Fluges." Ich brauche die Gürteltasche nicht abzuschnallen.


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