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ES MAHLT UND MAHLT WEITER

Die Hast in Augen, in Gebärden - die Schlafkrankheit der Seele.
Dann greifen wir doch wieder zu Betäubungen. Wir wissen, dass Betäubungen in den Tod treiben, in Abtötung, in Tötung aus Abtötung.
Wir drücken dem andern die Waffe zur Selbsttötung in die Hand.
"Krieg ist geil!"
Das Requiem.
"Schwule, alle Künstler sind irgendwie doch..."
"Vielevieleviele Geschichten."
"Es sind Shoahzeichnungen."
"Es ist hier, jetzt."
"Da entlang."
"Da entlang?"
"Du hier? Bist du Jüdin?"

In Amsterdam kommt der Schwarze auf mich zu, ich kann nicht ausweichen, schreit mir ins Gesicht, direkt auf die Haut. Ich lache. Dann lacht auch er.

Nur Alltägliches, schreibe ich dir von unterwegs noch. Das Verkümmern in der Gosse, Schreien nach dem Erlöser, Benebeln des Bewusstsein, der Unfassbarkeit.
Wie Blutblättchen an Sauerstoff haften sich die Blätter des Lebens an unfassbare, nicht abzuschaltende, unnachgiebige, unbestechliche Kräfte, bis ihre Stofflichkeit zerbricht. Sie ballten sich zusammen, fingen an zu zucken - da war etwas!

Ich zeichne Schulz' Nachbarjungen. Immer komme ich bis auf eine Linie an das Gesicht heran. Mit der Linie ist das Gesicht weg, obwohl es dasteht. Eine Zeichnung endet weiss. Eine schwarz. Dann schliesse ich mich, nach wieder einem Ansatz, zwei Tage ein.

 

BERLIN

Noch kein Jahr ist vergangen, seit ich aufbrach. In Jugoslawien wütet der Bruderkrieg, die Stasiakten sind zur Einsicht freigegeben, in Warschau bezieht das Goethe Institut Räume im ehemaligen Kulturpalast. "Berlin wird hart, die Stimmung ist grausam nahe des Faschismus", sagt mir ein Bekannter. "Sprich mit den Menschen in der S-Bahn."
Die Gesichter sind stumpf, dickhäutig. Verschanzte Leiber. "Dies ist noch kein Leben", sagen sie. Immer wieder zeigt sich, dass Menschen nur als Leben anerkennen wollen, was sie anhand ihres Lebensentwurfes für lebenswert halten.

Die Dokumente aus dem Getto von Lodz. Danach gehe ich runter ins Museumscafé, esse Kuchen, trinke Kaffee.

 

"Kannst du damit leben?"
"Mit Zeichnungen schreibe ich nur auf, lese schreibend, was da steht. Immer wieder aufs Neue. Zeichnungen sind Zeichen, Ansätze zu kommenden Verbindungen, von Abbrüchen, Verschiebungen. Es ist nicht leicht beim Schauen und Lesen nicht schon Wertschätzungen zu verfallen, zu deuten, zu behaupten."
"Was tust du, wenn du dich entspannen willst."
"Ich liege in der Sonne, döse weg, liege am Strand, lasse den Sand zwischen den Fingern durchrieseln. Zeichne. Klarinette wollte ich spielen. Es kamen Töne raus, keine Musik. Wenn ich tanze, bin ich weit weg."
"Beziehst du deinen eigenen Tod mit ein?"
"Im Zustand des Zeichnens, Malens, Schreibens, Theaters - das sind alles Tänze - geschieht das offenen Auges. Ich weiss nicht, ob ich morgen wieder zeichnen kann, die Buchstaben sich mir wieder zu Worten zusammenfügen, meine Füsse mich wieder tragen, meine Stimme nicht in mich zurückgeschlagen ist. Es ist Agonie vor Agonie, die uns uns festhalten lässt. Das begreifen wir, wenn wir durch irgend etwas gewahren, dass und wie sehr wir uns festhalten, festgehalten werden. Du kannst Leben nicht nachholen, nicht wiedergutmachen, nicht entschädigen."
"Furchtbar."
"Unsere wahre Chance."

 

'Arbeit macht frei!' in einem Kellergewölbe auf dem Prenzlauer Berg. An Mietklos vorbei. Nie weisst du, ob du willkommen bist.
"Ich habe Angst", sagt der, der den Sohn spielt. Ich gebe ihm den Regenschirm zurück.
"Alle haben wir Ausschlag in den Gesichtern."
"Setz dich."
Eine zündet den Propangasofen an.
An den Wänden der weisse Schimmel, Zuckerwatteschimmel.
Der junge Deutsche mit dem alten Leib:
"Es ist alles Scheisse"
Weisses Hemd, schwarze Hose, der Kopf ist klein.
Ich bin klein, mein Herz ist rein, soll niemand drin wohnen als Jesus allein.
Und heute gehört uns Deutschland.
"Was suchst du hier?"
"Ich bin hier geboren."
Hundegebell von irgendwo in den Kellergängen, vom Band.
Der Junge, der kniend die Schienen der Märklin-Eisenbahn putzt,
das Mädchen, das die Bücher zerreisst,
niemand zeigt eine Regung.
"Schnauze!"
Ihr nahezu der Übergrösse Erliegen.
Hier ist der Wachtturm im Keller nicht in ihr. Ich kann mich nicht erinnern, ihn in Akko gesehen zu haben, da hallte er aus ihr heraus.
"Denkst du, dass so etwas wieder geschehen kann?"
"Es geschieht."
Niemand will den Araber schlagen.
Nach Mitternacht fahren wir raus zum Potsdamer Platz, tanzen auf dem Erdhügel. Die Videokamera registriert. Einer gebärdet vor der Kamera nach dahin und dahin. Dann holen die Männer ihre Schwänze raus, pinkeln auf den Hügel.

Ich nehme Barbara zu einer der Aufführungen mit. Wieder reicht der Araber mir die Peitsche. Ich schüttele den Kopf. Er gibt sie ihr. "Geh", sage ich, "schlage nicht."

 

Vor den Dokumenten des jüdischen Kulturbundes in der Akademie der Künste stehen sie, die von diesen Verordnungen zu Skeletten, geschorenen Schädeln ohne Perücke, zu Asche abstempelt waren, erkennen sich auf Fotos.
Am Abend dann eine Podiumsdiskussion.
"Meine sehr verehrten Damen und Herren!"
"Es überleben, wenn schon, die Reproduzierenden. Vor allem Musiker, Revuegirls. Die wirklich Schöpferischen sterben weg wie die Fliegen."
Und dann erst die Fliegen.
"Die Arbeitsbeschaffung für Künstler ist ein Hohn. Ohne solche Beschaffung hätten sich mehr entschlossen zu gehen."
"Wohin? Und wer hatte schon die Mittel dazu?"
"Gräfin Maritza, während die Scheisse am Kochen ist."
"Ich könnte ihn ermorden!"
"Nicht mehr nachdenken. Theater ist Illusion! Wir entschliessen uns zu solch Theater, zum Bringen von Illusionen, hängen ihnen an."
"Er war eine schöne Zeit."
"Die wirklich Schöpferischen sehen, gehen - oder doch nicht. Dann bekommen sie keine adäquate Wiedergutmachung."
"Wiedergutmachung ist für Beamte und Beamtete: Professoren, Wissenschaftler, Reproduzierende."
"Ihre Lage ist der von Selbstmördern, Ungetauften, Totgeborenen von früher vergleichbar: die Erde für Gute war, ist und bleibt ihnen verwehrt."
"Selbstmörder, Ungetaufte, Totgeborene dürfen jetzt auf städtischen Friedhöfen beigesetzt werden."
Eine Aufnahme, wenn es nichts mehr aufzunehmen gibt, ein sich auf die Brust Klopfen derer, die diese Scheinaufnahme zulassen.
Dann gibt es Wein und Laugenbretzeln.

"Als wir in Auschwitz ankommen, ist der Boden grau bedeckt. Zentimeterdick. Fusselig. Wir reiben das graue fusselige Zeug zwischen den Fingern." "Menschenasche ist fett." "Und wie. Wir können dem Wegschaffen der Asche nicht so schnell nachkommen, wie Anfuhr kommt. Die Erde kann das nicht verkraften. Das Fett treibt das Zeug hoch. Mit Pressluftpressen quetschen wir die zu Asche Verbrannten aus. Das Fett aus ihnen raus. Die Pressen lecken. Asche fliegt durch die Schornsteine, regnet auf das Zeug, das aus der Erde hochtreibt. Diese dürren Skelette geben noch Fett ab. Für Seife. Wir spielen auf Deubel komm raus. Der da spielt klassisch. Ich, Jazz. Bis in die Asche da sind das verschiedene Lager. Wir erzählen uns Witze. 'Wir müssen lachen bleiben', sagen wir uns, 'müssen jeden Tag wenigstens einmal lachen.'"

Amsterdam/Zaltbommel 1991/92


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