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UdSSR 2L'wiw (L'wow). Es steht niemand für mich da. Niemand steht da mit der Frage auf dem Gesicht: "Sind Sie vielleicht?" Der Grauhaarige bedeutet mir: "Ich besorge Ihnen ein Dach überm Kopf." "Sie holen mich ab, bestimmt." Um 1 Uhr 15 stehe ich mit einem wildfremden Grauhaarigen aus Moskau in Lemberg (L'wiw, L'wow) auf Gleis X. Wir gehen zur Treppe. "Sind Sie Sabine Vess?" "Ja." "Diese Arschlöcher!" Deutsch muss ihm eingefleischt sein. Der Grauhaarige existiert für mich nicht mehr. Ich sehe nur noch seinen Rücken. Ich muss Danke sagen. Er ist schon zu weit weg. Wie alle anderen steht auch J auf dem verkehrten Bahnsteig. Die Verspätung. Wer Schulz gelesen hat, weiss, dass die Züge in diesen Regionen nicht da ankommen, wo man auf sie wartet. Der richtige Bahnsteig? Die angegebene Ankunftszeit? Nichts als Gerüchte, Vermutungen. Man kann Wetten drauf abschliessen.Der zweite Taxifahrer ist bereit uns zu fahren. Sie wohnen in einem Block in einer Siedlung ausserhalb der eigentlichen Stadt. Zehn Jahre steht der Block jetzt. T, seine Frau. Sie hat einen Bademantel übergezogen. J stellt mir Pantoffeln hin. Wir sitzen in der Küche, trinken Wodka. Das warme Wasser ist bis auf ein paar Stunden morgens und auch während dieser Stunden hin und wieder zentral abgestellt. Durch einen Konstruktionsfehler beim Bau ist die Klospülung an das Warmwassersystem angeschlossen. Neben dem Klo steht ein Eimer Wasser mit einer Casserole. Überall stehen Eimer und Schüsseln mit Wasser. Morgens kocht T eimerweise Wasser auf dem Herd. "Das tun alle." Manchmal ist das Wasser ganz abgestellt. Ich packe die Geschenke aus. "Sie sind versessen auf Elektronik", sagte man mir. Ich habe ein Ladegerät mit allen dazugehörigen aufladbaren Batterien für sie gekauft. "Sabine, wie kommst du darauf?" Und Kaffee und Tee. Lege das Ei auf die Anrichte, das Brot und die letzte Salzgurke. Ich bekomme das Zimmer der Tochter N. Früh morgens dusche ich kalt. Das ist ihnen unverständlich. Ich spüle hier nur meine Unterhosen und Socken und ein Hemd aus. Die Tochter ist gross. Unendliche Lethargie beherrscht ihre Bewegungen, ihre Sätze. Manchmal hebt sie sich da heraus, eine Statue erhabenen unnahbaren Stolzes, den Kopf nach hinten gezogen. Sie sieht äusserst scharf. "Das Leben ist ein Kampf, Sabina. Immer wieder gibt es etwas nicht. Und keine Ersatzmittel." Sie studiert Germanistik. T ist Architektin.
J hält ein Auto an. Gegen ein Entgelt können wir mit. Lemberg hat sichtbar westeuropäische Züge. Die Fahrkarte nach Polen könnte Schwierigkeiten bereiten. Alle Züge und Busse von der Ukraine nach Polen und von Polen in die Ukraine sind für Monate schon ausgebucht. Du bekommst nur ein zeitlich begrenztes Visum, was nicht bedeutet, dass du am Ende oder innerhalb der dir zugestandenen Frist wieder ausser Landes kommen kannst. Wir gehen in eines der Interhotels zu einer Studienkollegin von J. Reiseangelegenheiten. Sektor Inlandverkehr. Am Nachmittag während einer Besprechung unterbreitet sie mein Anliegen jemandem vom Sektor Interverkehr, den sie gut kennt. Dann kann sie uns sagen, bei welcher Person welcher Instanz meine Chancen am besten stehen. Wir gehen zum Ausschank. "Zwei Gläser Wein." Der Barkeeper schaut mich an, holt zwei Gläser aus dem Spind. "Der Umdenkungsprozess ist wichtiger als der wirtschaftliche Aufschwung an sich. Noch ein Glas?" "Noch ein Glas." J kommt lachend mit zwei Tassen zurück: "Der erste Barkeeper ist nicht mehr da, der zweite hat dich nicht gesehen."
Wir fahren nach Drohobycz. Doch erst nach Strien, einer Stadt etwas südlicher. Da entsteht, zusammen mit einer westlichen Firma, ein Möbelkombinat. Vor einem Jahr gibt J dafür seine feste Stellung am Polytechnikum in Lemberg auf. Das Gelände ist noch halb wüst, der zwar zugestandene Aufbau nicht ganz legal. Bei der Planung tragen sie dem um 30% minderen Arbeitseinsatz und also der um 30% minderen Produktionsmenge, bei gleicher Belegschaft und gleicher Ausbildung wie im Westen, Rechnung. 1979, auf meiner ersten Polenreise, höre ich in Sanok, 100 km westlich von hier im polnischen Teil Galiziens, dass das die Marge sei, die zu akzeptieren und einzukalkulieren westliche Firmen noch lernen müssten. Ein ehemaliger Student von J fährt uns. Das den Schlaglöchern Ausweichen nimmt seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. Die Gelder für das Kombinat kommen, auch das ist nicht ganz legal, nicht via Moskau rein. Ich bin in Drohobycz. Ein Schüler von Schulz wohnt noch hier. Musiklehrer, Rentner. Um 14 Uhr erwartet er uns. Er und seine Frau sitzen in der Küche, essen. Er bringt uns in die gute Stube. Sie ist nicht klein. Die Wohnung hat noch ein Schlafzimmer und ein Bad. Vielleicht noch ein weiteres Zimmer. Das Haus ist ein altes Mietshaus. Die Zimmer sind hoch. Die Frau ist Rechtsanwältin. Sie kocht Kaffee für uns, stellt ein paar Brote hin. Sie muss zur Praxis. Des Schülers Gesicht ist schön, seine Augen sind sanft mit einem Anflug von Ehrerbietung und Tränen. Er bringt uns zur Schule, wo Schulz unterrichtete, ins damalige Zeichen- und Handarbeitslokal. "Wir wollen eine Büste von ihm. Hier, schräg gegenüber diesem Haus soll sie stehen." In diesem Haus wohnte Schulz, bevor er ins Getto musste. "Eine Bildhauerin aus Lemberg soll die Büste machen. Die Fotos dazu sind schon da. In Bronze. Bitte." Die Inflation mit einbezogen, insgesamt US $ 3000,- rechnet J aus. "Bitte, ich würde gern im nächsten Jahr in Krakau dabei sein", sagt der Schüler. Im Traum überschwimme ich den in Stromrichtung versperrten Fluss.
"Ihr müsst Blumen für sie mitnehmen", sagt T. J und ich gehen heute zu dem Interhotel, wo die für mich angewiesene Dienststelle für Inter-Fahrkarten ist. Eine der zwei Damen, die da arbeiten, verhilft mir vielleicht zu einem Platz nach Polen. J kauft rote Rosen! "Und wenn sie hässlich ist?" Die Kinder der Bettlermafia, auch hier auf den Strassen. Die wurschtigen Finger in meiner Hand. Der pralle Leib. Das rote schwartige Gesicht. Schweisstropfen stehen ihm auf der Stirn. Schwarzes Hemd. Anthrazitfarbener Anzug. Seine Frau ist schwanger. Sie haben ihm den Geschäfts-Reisepass abgenommen. Er ist einer der neuen Millionäre hier. Die Einladung, die J mir direkt zukommen liess, die das sowjetische Konsulat nicht akzeptierte, kam von ihm. Er hat dafür gesorgt, dass Schulz' Schüler uns empfing. Zur Polizeipräfektur. Mein Visum muss abgestempelt werden. Wir klingeln, werden eingelassen, in ein Vorzimmer geführt. Dann ins Zimmer des zuständigen Beamten. "Warum muss das via Moskau gehen! Haben wir hier kein Theater!" Es triezt dieses in Widerwillen dick gegessene versteinerte Gesicht, blättern die aufgedunsenen Finger, tragen ein, holen das Stempelkissen aus der Schublade, den Stempel, stempeln ab. Über breite Treppen, schmale Treppen, Flure, Seitentreppen, hinter abblätternden getäfelten Gängen tut sich noch eine Treppe auf. Schulz muss dieses Gebäude gekannt haben, ich erkenne diese Treppe. Studenten sitzen auf dem Boden. Die Räume von N's Fakultät befinden sich im Dachgeschoss. Wir begrüssen sie nur, gehen wieder, die Pause ist um. Irgendwo essen wir, trinken. J ist 1948 in Innsbruck in einem Lager für D.P.'s geboren. N kommt mit Oma. Oma bringt Teig mit. Heute gibt es sibirische Fleischtaschen. Oma und T binden sich Kopftücher um. Oma schaftelt und wurschtelt mit den Zutaten, rollt den Teig aus. Morgens um 3 Uhr stellt sie sich an. Wer da ist, hilft. Auch ich. Zwischendurch wird aufgeschöpft, mit Schmant. "So ist das bei den Russen", sagt Oma, "sie haben straffe Röcke und dicke Ärsche." "Der Umerziehungsprozess muss in der Schule anfangen. Alle wohltätigen Hilfsaktionen erziehen uns zu Unmündigkeit, sind eine Art Weihnachtsmannspiel." "Das Ende der Weihnachtsmannepoche ist weder für die Weihnachtsmänner noch für die Empfänger leicht zu verkraften." "Und die Güter erreichen die Ärmsten nicht. Alte Landbaumaschinen, alte Lastwagen, das brauchen wir jetzt. Nach Tschernobyl vergrössern sich die Schilddrüsen. Das Zahnfleisch blutet. Nicht nur, dass die Kleinkinder- und Säuglingssterblichkeit nach Tschernobyl sichtbar zunimmt, die, die jetzt und in nächster Zukunft den Aufbau meistern müssen, ermüden schnell." "Abgesehen davon, dass der Zeitfluss in diesen Regionen ein an sich trägerer ist." "Das Umdenken muss gleichzeitig bei den Kleinkindern, in der Schule und bei den Eltern ansetzen." "Wer erzieht um? Zu was?" "Für mich endet Kunst bei den Impressionisten", sagt der russische Diplomat, den ich in den Niederlanden treffe, "Kandinsky, Malewitsch: nein. Wenn ich ins Theater gehe, will ich weg vom elenden Alltag, ausspannen, will mich von meinen Helden mitreissen lassen, ihrem Lachen, ihren Tränen. Ich will mich nicht, gefesselt und niedergeschlagen vom Alltag, noch einmal von ihm fesseln und niederschlagen lassen, im guten Anzug, im Plüschsessel. Ich liebe gute Anzüge." "Demokratie kennt keine Helden." Der russische Diplomat lächelt. Sie wollen die Wohnung renovieren. Fussböden, Stühle, Betten. Es ist schon Samstag. N und eine Freundin von ihr zeigen mir die Stadt. Sie laden mich in eine Eisdiele ein. Ich darf nicht bezahlen. Der Bischof ist zurückgekehrt. N geht zur Kirche, allein. Sie liebt Psalmen. Abends backt T Quarkplinsen. J holt noch von irgendwoher eine Flasche süssen Wein.
Es ist noch sehr früh. In ein paar Stunden bin ich wieder in Polen. Es gibt kein Wasser. Bevor wir das Gepäck aufnehmen, setzen wir uns, sind kurz still, umarmen uns. J bringt mich zum Bahnhof. "Die West-Ukraine kann autark sein. Die Ost-Ukraine ist noch weit davon entfernt. Die Ost-Ukraine kann man vorläufig nur als infiziert betrachten. Moskau ist faul und gefrässig. Was wir ernten, was wir einbringen, geht nach Moskau. Da tut man nichts, wähnt sich etwas Besseres. Nimmt weg. Gibt das Geld der Ukraine einfach aus. Geld aus dem Westen muss via Moskau reinkommen und kommt nie an. Noch ist alles im ersten Ansatz, der zwar zugestandene Aufbau illegal. Verkehrte Nahrung, Angst, dass es morgen nichts mehr gibt, macht dick. Was wir ergattern, essen wir gleich auf. In den Niederlanden gibt es keine Kommunistische Partei mehr, haben sie im Radio gesagt. Unsere eigene Verantwortung! Mit Selbstmitleid, Eigendünkel, Verehrung entziehen wir uns der eigenen Verantwortung, heimsen Trost ein wie Beamte ihr Schmiergeld. Und dann stürzt alles über uns zusammen. Jelzin gewinnt, Jelzin sagt Unabhängigkeit. Das freut uns." 1926 schreibt Ossip Mandelstamm über Kiew: "... Verlieren kann man seine Arbeit bei einer allgemeinen Entlassung (Personaleinsparung) oder aus Gründen der Ukrainisierung (Unkenntnis der Staatssprache)... Der oder die Entlassene lehnt sich nicht einmal mehr auf, sondern erstarrt wie ein Käfer, den man auf den Rücken gedreht hat, oder wie eine verbrühte Fliege. Die Krebskranken tötet man nicht, man weicht ihnen aus."Alles mit Bestimmung Polen wird in diesen Waggon gepfercht. Bündel, Taschen, Menschen. Mit dem Gestank des sich nicht Waschenkönnens vermischt sich die klebrig bittere metallene Ausdünstung der Angst. Auch sie hatten ja kein Wasser. Und keine Seife. Wie lange schon tragen sie dieselbe Bluse mit derselben Strickjacke darüber, demselben Unterhemd, Unterrock, Büstenhalter, Schlüpfer darunter. Und kein Deodorant. Das nähme ja den alten Achselgeruch auch nicht weg. Die Gesichter glänzen. Manche kriegen keine Luft. Wasser steht ihnen in den Augen. Sie kaufen, weiss der Teufel wo, alles Mögliche auf. Gemüse, Kartoffeln, Eier, Spielzeug, Parfüm, Unterwäsche, Zahnbürsten, Seife, Seidenzeug. Dann sitzen sie in diesem Zug. Der Zöllner brauchte nur eine Tasche öffnen zu lassen. Die Zöllner sind bestochen. Die Zugbegleiter sind bestochen. Die goldenen Zähne in den Mündern. Es herrscht eine Art Solidarität. Unter Röcke kann mehr gestopft werden als unter Hosen. Mit wem spielen sie dann doch ihr Spiel? Doch aufstehen, alle. "Die Tasche?" "Mir." "Der Karton?" "Mir." Es ist still und stinkt wie in einem schon lange nicht mehr ausgemisteten Koben. "Die Pässe." Dann werden uns die Pässe wiedergegeben. Die Namen laut verlesen. "Sabine, Angela?" "Ja." Er lächelt. Ich lächele. Nach der Kontrolle löst sich die Spannung. Die endlos lange Autoschlange auf der Interstrasse. Thermoskannen, Stullen werden ausgepackt. Die Frau mir gegenüber zeigt mir, wo sie überall irgendetwas eingenäht hat. Wischt sich die Stirn. Sie ist so alt wie ich, will es nicht begreifen. Sie fährt bis Katowice. Männer sitzen in Unterhemden. Das Klo spottet jeder Beschreibung. |