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UdSSR 2

L'wiw (L'wow). Es steht niemand für mich da. Niemand steht da mit der Frage auf dem Gesicht: "Sind Sie vielleicht?" Der Grauhaarige bedeutet mir: "Ich besorge Ihnen ein Dach überm Kopf." "Sie holen mich ab, bestimmt." Um 1 Uhr 15 stehe ich mit einem wildfremden Grauhaarigen aus Moskau in Lemberg (L'wiw, L'wow) auf Gleis X. Wir gehen zur Treppe. "Sind Sie Sabine Vess?" "Ja." "Diese Arschlöcher!" Deutsch muss ihm eingefleischt sein. Der Grauhaarige existiert für mich nicht mehr. Ich sehe nur noch seinen Rücken. Ich muss Danke sagen. Er ist schon zu weit weg. Wie alle anderen steht auch J auf dem verkehrten Bahnsteig. Die Verspätung. Wer Schulz gelesen hat, weiss, dass die Züge in diesen Regionen nicht da ankommen, wo man auf sie wartet. Der richtige Bahnsteig? Die angegebene Ankunftszeit? Nichts als Gerüchte, Vermutungen. Man kann Wetten drauf abschliessen.

Der zweite Taxifahrer ist bereit uns zu fahren. Sie wohnen in einem Block in einer Siedlung ausserhalb der eigentlichen Stadt. Zehn Jahre steht der Block jetzt. T, seine Frau. Sie hat einen Bademantel übergezogen. J stellt mir Pantoffeln hin. Wir sitzen in der Küche, trinken Wodka. Das warme Wasser ist bis auf ein paar Stunden morgens und auch während dieser Stunden hin und wieder zentral abgestellt. Durch einen Konstruktionsfehler beim Bau ist die Klospülung an das Warmwassersystem angeschlossen. Neben dem Klo steht ein Eimer Wasser mit einer Casserole. Überall stehen Eimer und Schüsseln mit Wasser. Morgens kocht T eimerweise Wasser auf dem Herd. "Das tun alle." Manchmal ist das Wasser ganz abgestellt. Ich packe die Geschenke aus. "Sie sind versessen auf Elektronik", sagte man mir. Ich habe ein Ladegerät mit allen dazugehörigen aufladbaren Batterien für sie gekauft. "Sabine, wie kommst du darauf?" Und Kaffee und Tee. Lege das Ei auf die Anrichte, das Brot und die letzte Salzgurke. Ich bekomme das Zimmer der Tochter N. Früh morgens dusche ich kalt. Das ist ihnen unverständlich. Ich spüle hier nur meine Unterhosen und Socken und ein Hemd aus. Die Tochter ist gross. Unendliche Lethargie beherrscht ihre Bewegungen, ihre Sätze. Manchmal hebt sie sich da heraus, eine Statue erhabenen unnahbaren Stolzes, den Kopf nach hinten gezogen. Sie sieht äusserst scharf. "Das Leben ist ein Kampf, Sabina. Immer wieder gibt es etwas nicht. Und keine Ersatzmittel." Sie studiert Germanistik. T ist Architektin.

 

J hält ein Auto an. Gegen ein Entgelt können wir mit. Lemberg hat sichtbar westeuropäische Züge. Die Fahrkarte nach Polen könnte Schwierigkeiten bereiten. Alle Züge und Busse von der Ukraine nach Polen und von Polen in die Ukraine sind für Monate schon ausgebucht. Du bekommst nur ein zeitlich begrenztes Visum, was nicht bedeutet, dass du am Ende oder innerhalb der dir zugestandenen Frist wieder ausser Landes kommen kannst. Wir gehen in eines der Interhotels zu einer Studienkollegin von J. Reiseangelegenheiten. Sektor Inlandverkehr. Am Nachmittag während einer Besprechung unterbreitet sie mein Anliegen jemandem vom Sektor Interverkehr, den sie gut kennt. Dann kann sie uns sagen, bei welcher Person welcher Instanz meine Chancen am besten stehen. Wir gehen zum Ausschank. "Zwei Gläser Wein." Der Barkeeper schaut mich an, holt zwei Gläser aus dem Spind. "Der Umdenkungsprozess ist wichtiger als der wirtschaftliche Aufschwung an sich. Noch ein Glas?" "Noch ein Glas." J kommt lachend mit zwei Tassen zurück: "Der erste Barkeeper ist nicht mehr da, der zweite hat dich nicht gesehen."
"Wo die Verehrung anfängt, endet der Weg an Mauern. Die Leute hier sind dick, fressen, was sie kriegen können." Manche Gesichter sehen schrecklich aus. Die dicke Frau stützt sich auf zwei Stöcke, atmet wuchtig. "Eine Jüdin." Diese schwarzen Augenränder. "Eine ganze Generation dauert der Umbruch." "Wenigstens." "Wir harren schon so lange."
Lumpige Menschen. Verhärmte Menschen.
"Wenn wir die Disziplin aufbringen, durchhalten. Jelzin, weil er für Unabhängigkeit ist. Gorbatschow sagt nichts. Seine vielen Worte." "Jelzins Gebärden bleiben im Rumpf stecken. Er isst unmässig. Er kann seine Unterlippe nicht mehr halten." Jetzt steht er besoffen vor amerikanischen Fernsehkameras. Lallt. "Wir können autark sein. Die leere Bürokratie dient dem Empfang von Schmiergeldern. Moskau ist gefrässig. Moskau ist faul. Moskau wähnt sich was Besseres. Moskau zehrt uns aus. Man schaltet uns das Warmwasser ab. Sparmassnahmen. Wir kochen das Wasser eimerweise auf dem Herd. Möchtest du Kaffee? Etwas essen? Etwas trinken? Das plötzliche Auftauen bringt nichts als neue Larven hervor." "Larven sind unerbittlich, ihr Lächeln." "Wir füttern sie. Ohne Familie, Sippschaft, Freunde ist das Leben hier nicht zu schaffen." Die fasrige Müdigkeit, die mir von Polen her vertraut ist, geht jenseits seiner Ostgrenze in massive über. Die Rauschmittel müssen viel stärker sein. Der Tanz dann heftiger oder gar nicht mehr möglich. Lemberg ist weniger hektisch als Moskau, weniger weit weg. Verzahnt, wie alles ist, greift die Armut in alle Bereiche ein. "Eigene Verantwortung, Selbstdisziplin? Damals ist die Masse, jeder einzelne in der Masse noch nicht so weit, weiss nicht einmal, was das ist. Nach siebzig Jahren Zwangs- und Angstherrschaft und mit einem Schlag?"

 

Wir fahren nach Drohobycz. Doch erst nach Strien, einer Stadt etwas südlicher. Da entsteht, zusammen mit einer westlichen Firma, ein Möbelkombinat. Vor einem Jahr gibt J dafür seine feste Stellung am Polytechnikum in Lemberg auf. Das Gelände ist noch halb wüst, der zwar zugestandene Aufbau nicht ganz legal. Bei der Planung tragen sie dem um 30% minderen Arbeitseinsatz und also der um 30% minderen Produktionsmenge, bei gleicher Belegschaft und gleicher Ausbildung wie im Westen, Rechnung. 1979, auf meiner ersten Polenreise, höre ich in Sanok, 100 km westlich von hier im polnischen Teil Galiziens, dass das die Marge sei, die zu akzeptieren und einzukalkulieren westliche Firmen noch lernen müssten. Ein ehemaliger Student von J fährt uns. Das den Schlaglöchern Ausweichen nimmt seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. Die Gelder für das Kombinat kommen, auch das ist nicht ganz legal, nicht via Moskau rein.
"Jahr für Jahr vergammelt auf unseren Feldern die Ernte. Ganze Quadratkilometer Tomaten. Studenten werden massenhaft zum Ernteeinsatz abgeordnet. Die Kisten nicht abgeholt. Es fehlt an Transportmitteln. Die Tomaten verfaulen. Die Infrastruktur liegt im Argen. Der Vorschlag die Genossen der Umgebung abernten zu lassen, soviel sie wegschaffen können und das, was sie davon nicht selbst verbrauchen, für das eigene Portemonnaie zu verkaufen, wird verworfen. Halb abgeerntet, werden die Stauden um- und die schon abgeernteten Tomaten untergepflügt.

Ich bin in Drohobycz. Ein Schüler von Schulz wohnt noch hier. Musiklehrer, Rentner. Um 14 Uhr erwartet er uns. Er und seine Frau sitzen in der Küche, essen. Er bringt uns in die gute Stube. Sie ist nicht klein. Die Wohnung hat noch ein Schlafzimmer und ein Bad. Vielleicht noch ein weiteres Zimmer. Das Haus ist ein altes Mietshaus. Die Zimmer sind hoch. Die Frau ist Rechtsanwältin. Sie kocht Kaffee für uns, stellt ein paar Brote hin. Sie muss zur Praxis.
"Kennen Sie ihn?" "Ja." "Seine Wohnung?" "Nein." "Es gibt in seiner Wohnung keinen Flecken, der nicht von seiner Verehrung für Schulz zeugt." Ich habe Schulz nie verehrt, nie bewundert, etwas in seinen Texten zog mich unwiderstehlich an. "Er macht Schulz weltberühmt. Trägt ihn hinaus in die Welt." Ende Oktober 1980 treffe ich diesen Mann im Haus der Schriftsteller in Warschau. Die ersten 140 Radierungen aus meiner Begegnung mit Schulz liegen hinter mir. Mein 'Polnisches Tagebuch', ein Brief an den Mann, der mir meine Sprache wiedergegeben hat, für den ich bis Sanok gefahren war nur um mit ihm durch seine Geburtsstadt zu laufen, ist beinahe ein Jahr alt. Ich habe vier Zeichnungen von Schulz' Gesicht anhand seiner Selbstportraits und eine Radierung bei mir. "Du solltest noch mit ihm sprechen", sagen sie mir. Die Zeit ist knapp, aufgewühlt. Niemand weiss, ob es ein Nocheinmal gibt. Gegen Mittag des nächsten Tages fährt mein Zug. Kann Solidarnosz sich behaupten? Stehen am nächsten Morgen sowjetische Panzer in den Strassen? Streiken die Bahnbeamten? Die Schauspieler heulen in den Pausen, vor den Auftritten, nach den Auftritten: "Was tun wir hier überhaupt!" "Sein Hals war sehr dünn", sagt der Mann, fasst dabei an den eigenen dünnen Hals. Dann schaut er sich die eine Radierung an. "Möchten Sie sie?" "Ja." Ich gebe sie ihm. "Ich gebe Ihnen eine Zeichnung von Schulz", sagt er, "das nächste Mal."

Des Schülers Gesicht ist schön, seine Augen sind sanft mit einem Anflug von Ehrerbietung und Tränen. Er bringt uns zur Schule, wo Schulz unterrichtete, ins damalige Zeichen- und Handarbeitslokal.
"Schulz war ein aussergewöhnlicher Mensch. Was er tat, tat er voller Hingabe und Leidenschaft. Er schrie nie. Er hatte etwas Magisches. Gegen Ende der Stunde baten wir ihn immer um eine Geschichte. Jedes Mal. Erst mussten wir aufräumen. Dann sass er, da. Sechzehn Jahre alt waren wir, hingen an seinen Lippen."
Wir verlassen die Schule, gehen durch die Anlage.
"Am wilden Donnerstag, den 29. November 1942 (den 19. November steht überall). Sein Mörder: ein Tier! Ein Tier tut so was nicht. Hier, gegenüber dem Judenrat." Schulz' persönlicher Beschützer, jeder dieser Mörder hatte seine Schützlinge, erschiesst im September 1942 drei Mädchen, die Schulz' Mörder unterstellt sind, auf dem Friedhof. Sie zerhacken Grabsteine. Schleppen die Brocken raus zur Pflasterung der Strasse. Am 29. (19.) November will Schulz in deutscher Uniform (mit falschen Papieren) nach Warschau um unterzutauchen. "Irgendwo unterwegs holen sie mich raus", sagt er. Er geht zum Judenrat, Brot holen. Es ist früh. Sein Mörder kommt ihm entgegen, sie kennen sich, zieht seine Pistole, erschiesst ihn aus nächster Nähe. "Warum", fragt Schulz' Beschützer. "Du erschiesst meine Juden, ich erschiesse deine Juden", sagt Schulz' Mörder.
Im September 1990 höre ich, dass dieser Mensch noch lebt. In der Nähe von Wien. Zwei Jahre hatte er bekommen oder vier.

"Wir wollen eine Büste von ihm. Hier, schräg gegenüber diesem Haus soll sie stehen." In diesem Haus wohnte Schulz, bevor er ins Getto musste. "Eine Bildhauerin aus Lemberg soll die Büste machen. Die Fotos dazu sind schon da. In Bronze. Bitte." Die Inflation mit einbezogen, insgesamt US $ 3000,- rechnet J aus. "Bitte, ich würde gern im nächsten Jahr in Krakau dabei sein", sagt der Schüler.
Das Haus, in dem Schulz wohnte. Der Garten, in dessen weit nach hinten sich öffnenden Gefilden Pan lebt, wie er schreibt. Vielleicht war es der Garten hinter dem ersten Haus, ein ganz anderer. In allen Gärten, die sich weit weg von den Häusern, zu denen sie gehören, durch Gestrüpp in die weite der Landschaft öffnen, haust Pan.
"Essen?" In fünfzehn Minuten fängt im Restaurant die Mittagspause an. Bange Hast zeigt sich in dem so ruhigen Gesicht des Schülers, seinen vor der Brust angewinkelten Armen mit den offenen Händen. Essen, manchmal schicken ihnen Freunde aus England etwas. In einer Art Mückentanz schwirren wir "Essen! Essen!" zum Restaurant, 300 Meter um die Ecke, rechts. Da sitzt niemand. Der Ober hat ein glattes Gesicht. "Nein." J geht auf diesen Glattgesichtigen zu. Spricht leise auf ihn ein. Geht mit ihm vor seinem Bauch Richtung Küche. Da stehen Frauen mit Kittelschürzen, die Arme unter den Brüsten verschränkt. Ich sehe nur J's Rücken und weiss, dass er so lange auf diesen Glattgesichtigen einspricht, bis der begreift, dass wir ohne Essen nicht gehen. Er rührt ihn nicht an. "Ja." Sekt, Suppe, Vorspeise, Hauptgericht.
Der Schüler zeigt uns einen Ausweis, der besagt, dass er ehemaliger KZ-Häftling ist. "Nur zwei in Drohobycz haben solch einen Ausweis." Der Ausweis ist noch ganz frisch.
Beim Auto drückt er mir die Hand, hält sie lange fest, schaut mich lange unverwandt an, drückt mir einen Kuss auf die Wange.

Im Traum überschwimme ich den in Stromrichtung versperrten Fluss.

 

"Ihr müsst Blumen für sie mitnehmen", sagt T. J und ich gehen heute zu dem Interhotel, wo die für mich angewiesene Dienststelle für Inter-Fahrkarten ist. Eine der zwei Damen, die da arbeiten, verhilft mir vielleicht zu einem Platz nach Polen. J kauft rote Rosen! "Und wenn sie hässlich ist?" Die Kinder der Bettlermafia, auch hier auf den Strassen.
Dann beugt er sich über den Schaltertisch, erklärt ihr, was sie schon weiss, und während er auf sie einspricht, reicht er ihr dezent die Rosen: "Für Sie!" Ein Anflug von Röte steigt in ihr hageres Gesicht. Sie weiss, dass sie nicht schön ist.
"Nur noch Sonntag." Zwei Tage vor Ablauf meiner Frist. "Früh morgens." "Oder?" "In zehn Tagen." "Sonntag." Sie braucht meinen Pass und mein Visum. "In zwanzig Minuten." Wir verlassen den Schalterraum, stehen zwanzig Minuten in der Hotelhalle, gehen wieder in den Schalterraum. Sie füllt gerade eine Vase mit Wasser, stellt die Rosen rein, stellt sie auf den Schaltertisch, gibt uns die Rechnung. "Die Kasse ist in der Hotelhalle, gleich links." Wir gehen raus, bezahlen und wieder rein, bekommen meine Papiere.

Die wurschtigen Finger in meiner Hand. Der pralle Leib. Das rote schwartige Gesicht. Schweisstropfen stehen ihm auf der Stirn. Schwarzes Hemd. Anthrazitfarbener Anzug. Seine Frau ist schwanger. Sie haben ihm den Geschäfts-Reisepass abgenommen. Er ist einer der neuen Millionäre hier. Die Einladung, die J mir direkt zukommen liess, die das sowjetische Konsulat nicht akzeptierte, kam von ihm. Er hat dafür gesorgt, dass Schulz' Schüler uns empfing.

Zur Polizeipräfektur. Mein Visum muss abgestempelt werden. Wir klingeln, werden eingelassen, in ein Vorzimmer geführt. Dann ins Zimmer des zuständigen Beamten. "Warum muss das via Moskau gehen! Haben wir hier kein Theater!" Es triezt dieses in Widerwillen dick gegessene versteinerte Gesicht, blättern die aufgedunsenen Finger, tragen ein, holen das Stempelkissen aus der Schublade, den Stempel, stempeln ab.
"Dieses Getrieze ist seine einzige Rache", sagt J, "Beamte kriegen ihr Leben lang keinen Pass, können nicht ins Ausland. Je mehr Visa beantragt werden und abgestempelt werden müssen, desto bitterer ihr Neid. Den gieren sie runter." Wir gehen zum Ausschank vom ersten Tag.
Angst nistet im menschlichen Knochenmark, verseucht epidemisch das Blut, anders ist es nicht zu erklären. Es gibt keinen wirksamen Schutz. "Wir atmen erst wieder auf, wenn jeder sicher zuhause ist. Das ist nichts als eine kurze Erleichterung." Angstfieber macht erpressbar und dann von vornherein schon gefügig. Unter brennend kalten Bruderküssen lebt sich's schwer. Du handelst aus Abscheu vor dem, was dich unterwirft, aus Abscheu vor dir, der du dich unterwerfen lässt, tust oder lässt aus Angst vor Angst schon.

Über breite Treppen, schmale Treppen, Flure, Seitentreppen, hinter abblätternden getäfelten Gängen tut sich noch eine Treppe auf. Schulz muss dieses Gebäude gekannt haben, ich erkenne diese Treppe. Studenten sitzen auf dem Boden. Die Räume von N's Fakultät befinden sich im Dachgeschoss. Wir begrüssen sie nur, gehen wieder, die Pause ist um.

Irgendwo essen wir, trinken. J ist 1948 in Innsbruck in einem Lager für D.P.'s geboren.
"Mein Vater stammt aus dem galizischen Teil der Ukraine, meine Mutter aus Lublin, in Polen. In Innsbruck ist sie zwei Jahre krank. Mein Vater will nach Amerika auswandern. Sein Vater ist in der Sowjetunion in der Partei."
In Innsbruck schlagen sie das Lagerkind.
"Meine Eltern sprechen weder ukrainisch noch polnisch, noch russisch mit mir. Nur untereinander und wenn es nicht für meine Ohren bestimmt ist. Mit mir sprechen sie deutsch. 1953 hört mein Vater, dass die Einwanderung vielleicht via die Niederlande doch möglich ist. Wir ziehen nach Venlo. Mein Vater arbeitet am Bau, meine Mutter als Näherin. Ich gehe in Venlo zur Schule. Bin Messdiener. Niederländisch ist meine zweite Sprache."
In Venlo schlagen sie das stinkende Kommunistenkind.
"1960 repatriieren wir in die Ukraine, die Sowjetunion. Ich lerne dann erst Russisch und Ukrainisch."
Sie schlagen den Kapitalisten.
"Und jetzt?" "Die Herausforderung ist nicht gering, der Anschlag auf die Geduld nicht weniger."

N kommt mit Oma. Oma bringt Teig mit. Heute gibt es sibirische Fleischtaschen. Oma und T binden sich Kopftücher um. Oma schaftelt und wurschtelt mit den Zutaten, rollt den Teig aus. Morgens um 3 Uhr stellt sie sich an. Wer da ist, hilft. Auch ich. Zwischendurch wird aufgeschöpft, mit Schmant. "So ist das bei den Russen", sagt Oma, "sie haben straffe Röcke und dicke Ärsche."

"Der Umerziehungsprozess muss in der Schule anfangen. Alle wohltätigen Hilfsaktionen erziehen uns zu Unmündigkeit, sind eine Art Weihnachtsmannspiel." "Das Ende der Weihnachtsmannepoche ist weder für die Weihnachtsmänner noch für die Empfänger leicht zu verkraften." "Und die Güter erreichen die Ärmsten nicht. Alte Landbaumaschinen, alte Lastwagen, das brauchen wir jetzt. Nach Tschernobyl vergrössern sich die Schilddrüsen. Das Zahnfleisch blutet. Nicht nur, dass die Kleinkinder- und Säuglingssterblichkeit nach Tschernobyl sichtbar zunimmt, die, die jetzt und in nächster Zukunft den Aufbau meistern müssen, ermüden schnell." "Abgesehen davon, dass der Zeitfluss in diesen Regionen ein an sich trägerer ist." "Das Umdenken muss gleichzeitig bei den Kleinkindern, in der Schule und bei den Eltern ansetzen." "Wer erzieht um? Zu was?"

"Für mich endet Kunst bei den Impressionisten", sagt der russische Diplomat, den ich in den Niederlanden treffe, "Kandinsky, Malewitsch: nein. Wenn ich ins Theater gehe, will ich weg vom elenden Alltag, ausspannen, will mich von meinen Helden mitreissen lassen, ihrem Lachen, ihren Tränen. Ich will mich nicht, gefesselt und niedergeschlagen vom Alltag, noch einmal von ihm fesseln und niederschlagen lassen, im guten Anzug, im Plüschsessel. Ich liebe gute Anzüge." "Demokratie kennt keine Helden." Der russische Diplomat lächelt.

Sie wollen die Wohnung renovieren. Fussböden, Stühle, Betten. Es ist schon Samstag. N und eine Freundin von ihr zeigen mir die Stadt. Sie laden mich in eine Eisdiele ein. Ich darf nicht bezahlen. Der Bischof ist zurückgekehrt. N geht zur Kirche, allein. Sie liebt Psalmen. Abends backt T Quarkplinsen. J holt noch von irgendwoher eine Flasche süssen Wein.

 

Es ist noch sehr früh. In ein paar Stunden bin ich wieder in Polen. Es gibt kein Wasser. Bevor wir das Gepäck aufnehmen, setzen wir uns, sind kurz still, umarmen uns. J bringt mich zum Bahnhof. "Die West-Ukraine kann autark sein. Die Ost-Ukraine ist noch weit davon entfernt. Die Ost-Ukraine kann man vorläufig nur als infiziert betrachten. Moskau ist faul und gefrässig. Was wir ernten, was wir einbringen, geht nach Moskau. Da tut man nichts, wähnt sich etwas Besseres. Nimmt weg. Gibt das Geld der Ukraine einfach aus. Geld aus dem Westen muss via Moskau reinkommen und kommt nie an. Noch ist alles im ersten Ansatz, der zwar zugestandene Aufbau illegal. Verkehrte Nahrung, Angst, dass es morgen nichts mehr gibt, macht dick. Was wir ergattern, essen wir gleich auf. In den Niederlanden gibt es keine Kommunistische Partei mehr, haben sie im Radio gesagt. Unsere eigene Verantwortung! Mit Selbstmitleid, Eigendünkel, Verehrung entziehen wir uns der eigenen Verantwortung, heimsen Trost ein wie Beamte ihr Schmiergeld. Und dann stürzt alles über uns zusammen. Jelzin gewinnt, Jelzin sagt Unabhängigkeit. Das freut uns."

1926 schreibt Ossip Mandelstamm über Kiew: "... Verlieren kann man seine Arbeit bei einer allgemeinen Entlassung (Personaleinsparung) oder aus Gründen der Ukrainisierung (Unkenntnis der Staatssprache)... Der oder die Entlassene lehnt sich nicht einmal mehr auf, sondern erstarrt wie ein Käfer, den man auf den Rücken gedreht hat, oder wie eine verbrühte Fliege. Die Krebskranken tötet man nicht, man weicht ihnen aus."
Alles mit Bestimmung Polen wird in diesen Waggon gepfercht. Bündel, Taschen, Menschen. Mit dem Gestank des sich nicht Waschenkönnens vermischt sich die klebrig bittere metallene Ausdünstung der Angst. Auch sie hatten ja kein Wasser. Und keine Seife. Wie lange schon tragen sie dieselbe Bluse mit derselben Strickjacke darüber, demselben Unterhemd, Unterrock, Büstenhalter, Schlüpfer darunter. Und kein Deodorant. Das nähme ja den alten Achselgeruch auch nicht weg. Die Gesichter glänzen. Manche kriegen keine Luft. Wasser steht ihnen in den Augen. Sie kaufen, weiss der Teufel wo, alles Mögliche auf. Gemüse, Kartoffeln, Eier, Spielzeug, Parfüm, Unterwäsche, Zahnbürsten, Seife, Seidenzeug. Dann sitzen sie in diesem Zug. Der Zöllner brauchte nur eine Tasche öffnen zu lassen. Die Zöllner sind bestochen. Die Zugbegleiter sind bestochen.
Die goldenen Zähne in den Mündern. Es herrscht eine Art Solidarität. Unter Röcke kann mehr gestopft werden als unter Hosen. Mit wem spielen sie dann doch ihr Spiel? Doch aufstehen, alle. "Die Tasche?" "Mir." "Der Karton?" "Mir." Es ist still und stinkt wie in einem schon lange nicht mehr ausgemisteten Koben. "Die Pässe." Dann werden uns die Pässe wiedergegeben. Die Namen laut verlesen. "Sabine, Angela?" "Ja." Er lächelt. Ich lächele. Nach der Kontrolle löst sich die Spannung. Die endlos lange Autoschlange auf der Interstrasse. Thermoskannen, Stullen werden ausgepackt. Die Frau mir gegenüber zeigt mir, wo sie überall irgendetwas eingenäht hat. Wischt sich die Stirn. Sie ist so alt wie ich, will es nicht begreifen. Sie fährt bis Katowice. Männer sitzen in Unterhemden. Das Klo spottet jeder Beschreibung.


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