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UdSSR 1

Brest. Menschen schleppen, sitzen, warten. Anders als in Polen. Nicht so hektisch? Dumpfer? Abwesender? Wo ist ihr Da? Wer schleppt da? Im Zug auf dem Nebengleis sind die Gardinen zugezogen. Der Zugbegleiter kommt, macht unsere Betten. Schaut, ob das Fenster auch gut geschlossen ist, verdunkelt es: Sicherheitsvorkehrung.
Ich habe meine Zahnbürste vergessen. Ich ernenne meine kleine Haarbürste zu meiner Zahnbürste.

 

Moskau.Um 10 Uhr 41 läuft der Zug planmässig in Moskau ein. W kommt mir entgegen. Gestern erst ist er aus Jugoslawien zurückgekommen.

Diese Hitze entspricht Schulz, den in den dorrenden Flammen seiner Sätze aufgehenden Geschehen mehr als die schwülere Warschaus? Die Hitze hier ist trocken, alles irgendwie weit weg, hergespiegelt. Wer das Kazimierz Krakaus noch auf sich spürt, den erschüttert so leicht nichts mehr. Polens Schaufenster und Läden sind gut bestückt, die ganze Woche über. Vor vier Jahren, vor einem noch, stehen sie leer. Diese so abrupte Fülle mutet nahezu anstössig an. Wir fahren an anstehenden Menschen, leeren Geschäften vorbei. Das Weltbild ist wieder in Ordnung. Irgendwo kauft W ein Brot. Die Tür seines Autos fällt nicht mehr richtig ins Schloss. "Wie schaffen das all die Leute, die nicht im westlichen Ausland Geld verdienen können?" "Na ja."

Seit Brest, seit gestern Abend weiss ich, dass es auch beim Schleppen Unterschiede gibt. Sie bewegen sich, wie man sich Lasten schleppend bewegt. Doch scheint irgendetwas immer stark daneben, weg, hier stärker noch als in Polen. In Amsterdam fällt mir dieser Unterschied beim Schleppen schon auf. Als wir W im Januar 1989 nach Schiphol bringen, zerrt er zwei Taschen die Treppe runter: "Neinneinnein! Nicht helfen." Die Treppe ist lang, steil. Sein immer gewölbter Rücken panzert die Brusthöhle hinten, oben. Der Hintern? Als habe er keinen. Der geschnürte Schoss, bis an die Knie reichend, sich tief in die Brusthöhle streckend: inexistent wie chinesische Mädchenfüsse. Die Beine tun Dienst vom Kniegelenk an. Auch vorn ist die Brusthöhle taub gepanzert. "Ohne Herztabletten kann ich nicht leben." Seine rasselnd pfeifende Kurzatmigkeit. "Sabien!" Er bläht die Nasenflügel. Die letzten zwei Stufen sieht er nicht. Da liegt er vor der Tür mit Taschen und Schirmmütze, zerrt sich hoch und die Taschen. "Ich kenne den Minister, den Chefredakteur." Dieses Kennen. Diese Versprechen. Unter vier Augen. Hinter vorgehaltener Hand. Geheim. Schriftlich. Vor Zeugen. "Moskau! Leningrad! Ich werde. Persönlich. Es ist..." Das gibt es in den Niederlanden auch. Von Polen an ist die Vertraulichkeit mit diesem, mit jenem, zumindest einem Staatsekretär, dessen engstem Vertrauten, inflatorisch. Die Versprechen mehr noch als himmelhimmelschreiend. "Moskau ist Moskau!" Ws Unterlippe hängt schwer.

Als er diesen März, auf offizielle Einladung der Theaterschule, wieder in Amsterdam ist, bittet er mich um eine persönliche Einladung.
"Für den Direktor eines Moskauer Theaters, ein guter Freund. Es ist ganz einfach."
"Ich will bei Przemysl über die Grenze, will am Dnjepr stehen wie mein Vater."
"Vielevieleviele Geschichten."
"Sie froren sich die Füsse ab."
"Ich sage dir... - und seinen Neffen."
"Solange ich nicht da bin, bin ich nicht da. Ich will auch nach Schitomir."
"Viele, viele Schwierigkeiten."
"Die Läuse knackten sie zwischen den Daumennägeln."
"Im August, für vierzehn Tage. Sabien! Du verstehst."
"In L'wiw steht jemand, den ich nicht kenne, dessen Adresse und Telefonnummer ich von jemandem aus Amsterdam habe, den ich auch nicht kenne, tagelang Schlange. Das kann noch Wochen dauern."
Victor unterschreibt in Zaltbommel die Bürgschaft für den Direktor und dessen Neffe. W ruft vom Institut aus diesen Freund vom Theater, den Direktor, an. Eine Woche später liegt eine offizielle Einladung für mich für die Sowjetunion vor. Für Moskau. Für vierzehn Tage.
"Es ist ganz einfach."

Die paar Tage in Moskau schlafe ich in Ws Schlafzimmer. Um 11 Uhr essen wir Kartoffeln, Brot und Käse; in der Küche. Er schläft im Wohnzimmer auf der Couch. Der Käse ist aus Jugoslawien. Auch der Tee. Er muss sich auf diesem purpurnen Ding irgendwie zusammenrollen. "Kann ich nicht da schlafen." "Nein." "Ich brauche mich nicht zusammenzurollen."
Im Wohnzimmer steht ein Konzertflügel, ein Sekretär mit Stuhl, ein Bücherschrank und diese purpurne Couch; alte Stücke. Fotos, Plakate, Marilyn Monroe, russische Tragödinnen, deren Namen ich sofort wieder vergesse. Auch die Anekdoten über sie. Ich kann keine Anekdoten behalten. Weiss auch meistens nicht, wann ich bei Witzen lachen muss. Schaue die anderen an, platze so gut wie mit ihnen mit raus. Weiss nicht, worüber sie lachen. Ich packe den Tee aus, den Edamer, die in Warschau gekaufte Krakauer Wurst, den Kaffee, das Parfüm. In der Küche steht ein Farbfernseher mit Fernbedienung. Er ist dauernd an. In dieser kleinen Wohnung stehen zwei Telefone. "Viele, viele Anrufe." Sie dauern entsetzlich lange. Er zieht den Rücken noch weiter über die Schultern, stützt die Unterarme auf der Tischkante auf - der in seinen Mundwinkeln sich anhäufende Ekel zerrt sie runter -, schaufelt das Essen in sich hinein.

Er muss zum Institut. Eine Dreiviertelstunde. Zur Schriftstellergewerkschaft. Dann fahren wir zum Theater. Erst noch eine Seite! Ein Augenblick dauert eine halbe Stunde, "Sabien!", eine Dreiviertelstunde länger als 60 Minuten. Und immer passieren schreckliche Dinge.

Ich laufe durch die Strassen. Eine weisse Kirche unweit des Instituts wird renoviert. Drinnen stehen Frauen mit Kittelschürzen, Kopftüchern singen, schlagen Kreuze, berühren mit der Kreuze schlagenden Rechten den Boden. Und noch ein Kreuz. Sie werfen sich zu Boden, küssen den Boden. Dreimal. Stehen auf, legen die Gebetbücher weg, gehen.

Und alle in dieselbe Strasse. Schlaglöchern weicht man aus. Hupt. Es gibt hier viele Schlaglöcher. Die Flanken aller Autos sind verbeult. Alle in dieselbe Strasse. Gehupe. Schlaglöcher. Es gibt hier keine sichtbare Struktur im Verkehr. In den Städten, die ich bislang gesehen habe, kommen die Autos irgendwo her und fahren irgendwo hin. Hier sind sie auf einmal da.
Haufenweise Uniformierte. Es sind diese grossen runden Mützen, die die Köpfe aus den Schultern heben. Es könnten Portiers sein. Für jede erklommene Etage die doppelte und dann doppelt sich verdoppelnde Anzahl Portiers. An allen musst du vorbei. Durch alle hindurch.
Auf einer Bank im Rondell vorm Institut warte ich auf ihn. Wortfetzen. Deutsch. Gesten. Erklärungen. Weisser Blütenflaum treibt durch die Hitze.

Strickjacken, hängen gelassene Bäuche, hängen gelassene Busen, strähniges Haar. Sie sitzen an Schreibmaschinen. Wir sind im Theater. W hat für jede ein Wort, eine Geste. Über die grauen laschen, längst aufgegebenen Figuren huscht Lächeln. Die Brüste fallen wieder ein. Das rundet die Rücken. Manche stöckeln vorbei. Wie Putzfrauen sehen sie aus. Mit Kitteln. Oder führt man mir hier das Heer der Kittelmenschen vor. Es liegt kein Protest in ihrer Haltung, kein sich Entwinden wie in Polen. Da kriegen sie die Bewegungen nicht fliessend, nicht geschmeidig, halten sie die Stimmen mit Klängen voller Entschuldigungen zurück, stemmen die Hände in die Taille: Angriff ist die beste Verteidigung!, entwinden sich händeringend, rückwärts gehend, den Kopf schief haltend.
Die dicken Finger voll beringt sitzt sie an ihrem Tisch. Früher war sie die Tragödin, jetzt leitet sie das Ensemble. Der Direktor, der Freund, bietet mir Kekse an. "Bitte", sagt er kauend, "eine Einführung in den Moskauer Geschmack. Du willst wirklich nach L'wow?"

Die alte Haushälterin hat kein Fleisch bekommen können. "Was ist das für Suppe? Hühnersuppe?" "Hühnersuppe." Wir streuen frischen Dill in die Hühnersuppe. Sie schöpft uns auf. Isst nicht mit.

Die Tragödin des Abends umklammert im Rampenlicht die Beine des Geliebten, zweimal, dreimal, der der Mann ihrer Schwester ist und auch die jüngste Schwester seiner Frau und also der Geliebten liebt. Die Geliebte vergiftet ihn. Er will das auch.
Wir gehen in ihre Garderobe. "Schon zehn Jahre?" "Schon zehn Jahre. Dreimal pro Woche umklammere ich im Rampenlicht vor vollem Saal die Beine meines Geliebten. Dreimal pro Woche verausgabe ich mich so. Dreimal pro Woche gibt mein Geliebter zu auch noch unsere jüngste Schwester zu lieben. Dreimal pro Woche vergifte ich ihn." Sie schüttelt den Kopf. "Keine gute Aufführung heute." Schminkt sich ab. Ist matt. Ihre Haut müde. Ihre Beine mager. "Aber", sagt W. "Nein", sagt sie, befettet den Wattebausch, schminkt sich den aufgetragenen Glanz, den sie dem herausgeputzten Publikum spendet und von ihm für diesen Auftritt mit Applaus rückgespendet bekommt, restlos ab. Es liegt etwas wie Erbarmen in diesen grossen prunkvollen Stätten, den Rampen zwischen Spielern und Zuschauern. Wir hegen ein schier krankhaftes Verlangen nach diesseits, nach jenseits der Rampen. Treten auf, beobachten das zerrissene Hin- und Hergelaufe da, das noch zusammenhaltende Lächeln, das Umklammern der Beine, die Seufzer, das Händeringen, das die Arme gen Himmel Schleudern, steigern uns, getragen vom gebannt uns Zuschauen. "Mein Gott!" Klatschen, verbeugen uns. Begeben uns, zwei verschiedene Einheiten, durch zwei verschiedene Ausgänge in dieselben Strassen.

Mein Vater berichtete von jenen, die sich nicht mehr aus dem kalten Weiss erheben wollten. "Wie an ein Federbett klammern sie sich an den Schnee." Wenn im Erfrierungsprozess eine gewisse Grenze erreicht ist, bekommen Erfrierende das Gefühl von Wärme durchflutet zu sein, schauen sie mitnehmende Gesichte.

 

Nach dem Aufstehen. Wann ist das. Ich zeichne, schreibe auf, im Bett noch. In Amsterdam stand W kaum je vor 10 Uhr auf, wenn ich schon längst da war. Mein Tag beginnt vor 6 Uhr morgens. Was ich in einer Zeitspanne auch tue, sie kommt mir nicht noch einmal zu. 'Wir sind nur Gast auf Erden und wandern ohne Ruh mit mancherlei Beschwerden der ewigen Heimat zu.' Ich mag dieses Lied in seiner simplen eindringlichen Melodie in Moll nicht. "Wir sind ein Teil der Erde", sagen die Indianer. Das ist schwerer als es scheint. Seit wir keine Pflanzen mehr sind, stecken unsere Wurzeln nicht mehr in der Erde, stecken in uns, in jedem einzelnen von uns. Wo ich bin, bin ich mir Grund und Boden. Ich muss aufs Klo. Gehe mit Zeichenblock, Bleistift, Radiergummi, Notizbuch, Füller, Hose, Unterhose, Hemd, Waschzeug auf Zehenspitzen durchs Wohnzimmer zum Bad. Ws Rücken hängt über dem Couchrand. Nach dem Duschen setze ich mich in die Küche, zeichne. W legt sich auf mein, auf sein Bett. Streckt den Rücken. Liest. Döst weg. Ich koche Tee. Das heisst, ich giesse kochendes Wasser auf den modrigen braunen Satz in der Kanne. Man giesst solange kochendes Wasser nach, bis dieser Satz wirklich nicht mehr abfärbt. Und angerichteter Salat bleibt stehen, bis auch das letzte, braun schon verwesende Blatt, die letzte schlaffe Gurkenscheibe aufgegessen ist. Das ist Gift. Wen schert das hier schon. Die alte Haushälterin kommt zwei-, dreimal pro Woche. Den ergatterten Salat richtet sie an, entbeint das Fleisch, brät oder schmort das ohne Knochen, kocht die Knochen mit den restlichen Fetzen Fleisch, fügt Hirse und Zwiebeln hinzu. Stellt die gekerbelten frischen Kräuter auf den Tisch. Dill, Petersilie, Sellerie, Koriander, was sie kriegen konnte. Kocht Kartoffeln. Räumt auf. W hat zwei linke Hände. W tut alles um ja nicht mit den Widerwärtigkeiten der hier herrschenden Normalität in Berührung zu kommen. Vor Abscheu, nein Ekel schon, sich tagtäglich in dieses Leben begeben zu müssen, bleibt er liegen, erst recht. Dann muss er sich hasten um einigermassen pünktlich seinen ersten Termin einhalten zu können. Die ersten Telefonate nimmt er im Bett entgegen. Sobald er auf ist, schaltet er den Fernseher ein. Von 11, 12 Uhr an hastet er von hier nach da. Doch erst noch eine Seite auf der Schreibmaschine.

Zur Theatergewerkschaft. Jetzt wollen sie 20% seiner im Ausland verdienten harten Devisen. Der Regen verändert die Strassen in Bäche. Die Schlaglöcher sind nicht mehr zu sehen. Niemand fährt langsamer. W setzt die Scheibenwischer auf. Mein Visum muss abgestempelt und auf Gesuch des Theaters für L'wow genehmigt werden. Eine Verlängerung wird kaum möglich sein. Der Freund vom Theater, der Direktor, hat bei einem ihm wohlbekannten Herrn der Polizeipräfektur angerufen. Erst holen wir im Theater den offiziellen Theaterbrief für ihn ab. Zur Polizeipräfektur. W zieht die Scheibenwischer ab. Wir stellen uns an. "Nein", sagt die Schalterbeamtin, "Sie brauchen einen Brief vom Kultusministerium, denn in Ihrem Visum steht, dass das Kultusministerium die einladende Partei und also für Ihren Aufenthalt verantwortlich ist." Von der Decke hängt ein Fernseher. "Eine Verlängerung ist allerdings nicht möglich." Sie trägt eine Kittelschürze. Die Leute starren in die Glotze. Das Theater muss Verbindung mit dem Ministerium aufnehmen. W setzt die Scheibenwischer wieder auf. Zurück zum Theater. Erst geht er allein rein. Dann holt er mich. Der Direktor hat mit einem ihm wohlbekannten Herrn vom Ministerium gesprochen. Dieser Herr wird uns morgen um 11 Uhr den offiziellen ministeriellen Brief geben. Davor müssen wir im Theater den offiziellen Theaterbrief für diesen Herrn abholen. Sie brauchen meine Daten, meine Passnummer, die Daten vom Visum, die Visumnummer, die Nummer des Zuges, mit dem ich von Warschau nach Moskau gekommen bin, und Daten, Adresse und Passnummer von W. Dann muss er bei der Bahn anrufen, muss vorläufig schon meinen Platz im Zug nach L'wow reservieren, denn bei der Polizeipräfektur müssen sie wissen, mit welchem Zug ich von Moskau nach L'wow fahre. W hat seinen Pass nicht bei sich. "Was willst du in L'wow?"

Um 19 Uhr 30 fängt in einem anderen Theater 'Endstation Sehnsucht' an. Wir müssen noch essen. Der Freund, der Direktor, bringt uns in die Kantine. 'Endstation Sehnsucht' läuft jetzt zwanzig Jahre mit immer derselben Besetzung für Blanche und Stanley. Damals ist diese Blanche gerade dreissig. Es ist eine der letzten Vorstellungen. "Suppe? Nein?" Der Direktor isst nicht hier. "Das schadet der Gesundheit. Kartoffeln? Fleisch?" Wie ausgekochte Schuhsohlen liegt das Fleisch auf Stapeln. "Kohl?" Das Essen wird unter starren Gesichtern auf die Teller geschlagen. "Mineralwasser?" Warum muss Fleisch zu ausgekochten Schuhsohlen verarbeiten werden, Kohl aussehen wie Kotze? Die Kartoffeln sind glasig. Daran kann die beste Köchin nichts ändern. Das Mineralwasser ist fies.

Sie ist erschöpft. Wir warten vor ihrer Garderobe, zusammen mit ihrem Mann und noch einem Freund. Bei diesem Stück schaut ihr Mann schon längst nicht mehr zu. Holt sie nur noch ab. Irgendwann konnte er das nicht mehr mit ansehen: "Ihre zehrende Getriebenheit." Auch er ist Schauspieler. Der Freund ist Kapitän bei Singapur. Der Geruch von Puder und Schminke. Blumen. Ein Glas Champagner. Dann kommen sie mit uns mit. Wir haben noch für jeden eine Kartoffel. Das Brot schneide ich sehr dünn, auch den letzten Rest Käse aus Jugoslawien und die Hälfte der Krakauer Wurst aus Warschau. Für jeden einen Cognac. Sie schauen sich die Fotos meiner Arbeiten an, das von deinem Portrait. "Hast du das gemacht?" "Ja." Ich wollte sehen, wer, wo du bist, und wo ich mich befinde. Ich erzeichne, ermale mir mein Sehen, mein Tanzen, sogar meine Worte.
Die zerbrechliche Frau starrt mich an. Für sie ist polnisches Theater kalt. Sie nimmt meine Hände. Umarmt mich. Welch Wärme diesem brösligen Leib entströmt. Etwas in ihr ist weitab, unwesentlich wie im Stück. Die Spuren des Alterns. Für jeden noch einen Cognac. Und Tee.

 

W muss in der Stadt eine Tasche abgeben: ein kleiner Umweg: zwanzig Minuten. Er kommt mit der Tasche wieder zum Auto: "Niemand da." Zum Theater. Der Brief für den Herrn vom Ministerium. Zum Ministerium. Auf dem Bürgersteig liegt ein ohnmächtiger Mann. "Für zehn Dollar ist das Gesicht des Herrn bei der Abgabe des Briefes vielleicht wenigstens freundlich." "Was, wenn alles nur eine Farce ist. Operetka!" "Ich kann nicht mehr lachen." Der Brief. Zur Polizeipräfektur. Noch ist Mittagspause. Vor dem linken Seiteneingang ist es schwarz vor Menschen. Da ist die Eingangstür für Auswanderungswillige. Immer werden nur X Auswanderungswillige vorgelassen. Sie stehen tage-, wochenlang da. Auch vor unserer Tür stehen Menschen. Wir gehen die Strasse auf und ab. Die Schaufenster sind leer, nichts als Schmutz, staubschwere Spinnefäden, tote Fliegen, Bretter, Fetzen vergilbten Papiers, verblichene Schabenpanzer. Häuser verfallen zu Ruinen. Die Pfützen. Wir stellen uns vor unserer Tür an und dann vor unserem Schalter. "Ja", sagt die Schalterbeamtin. "Die Marke!" "Die Marke?" "Ohne Marke kann ich das Visum nicht abstempeln. Bei der nächsten Postdienststelle." Pass, Visum, Briefe können wir schon dalassen. "Warum hat sie das gestern nicht gesagt, Sabien!" "Sie hat es gestern nicht gesagt." Zur Postdienststelle. Das ist nicht weit. Die Marke. Zur Polizeipräfektur. Wieder stehen wir an. Geben die Marke ab. Warten auf unseren Aufruf, auf den gesetzten Stempel.
"Gut die Hälfte unserer Zeit verbringen wir mit sinnlosem Papierkram mit wenigstens drei Durchschlägen. Alle. Ich bin unfähig zu Ende zu schreiben, zu Ende zu denken. Nein, korrigieren ist nicht mehr möglich." W hört gar nicht hin. Niemand hört hin. Hört nicht einmal seine eigenen Worte. "Ich schreibe einen zweiten Bericht. Ja." Es gibt keinen zweiten Bericht, wie es auch kein zweites Leben gibt. "Es kostet mich Überwindung aufzustehen."
Wir haben die Genehmigung. Einen ganzen Tag! "Einen Tag nur?"

Am Bahnhof, wo ich angekommen bin, holen wir meine Fahrkarte, fahren weiter zu einem Markt. Wer hier einkauft, ist privilegiert. Alles ist teuer. Jeder Büschel Petersilie, Sellerie, Koriander wird befühlt, beschnuppert, zurückgelegt, jede Kartoffel in der Hand gewogen, gedrückt. In der Fleischhalle liegt Fleisch. Die wenigen, die hier überhaupt reingehen, gehen wieder raus, kaufen nicht. Wer kann sich das schon leisten! In den Niederlanden sagte mir jemand: "Die Verpflegung in Moskau: kein Problem." Natürlich nicht, aber auch mit Dollar wird es immer schwieriger. Dann kauft W ein Kilo Fleisch mit Knochen, Dill, Petersilie, Koriander, zwei Zwiebeln und drei Tomaten.

Ich löse das Fleisch von den Knochen. Die Knochen und eine Zwiebel setze ich mit Wasser auf. Irgendwo finde ich Öl. W ist vollkommen erschöpft. Solche Tage zehren an ihm. Sein Ekel vor diesem vom herrschenden System auferlegten Bestehen zerfrisst ihn und die nicht direkt vom System gefressene Zeit und sein Denken und Handeln. Glanz und Helden müssen her, ihn aus dieser kaltklebrigen braunen Betäubung reissen, sie übertäuben. Er weiss es. Es quillt aus allen Schränken. Von jeder Auslandsreise bringt er Kaffee, Tee, Käse, Souvenirs mit. Das sind auch Tauschobjekte, ist auch Bestechungsmaterial. Ich hebe die Pfanne. Der Stiel dreht sich. Das köstliche Nass fällt auf den Boden. Das passiert noch einmal. Die Haushälterin kennt die Pfanne. Schliesslich kann ich Suppe mit Hirse und Zwiebeln und den letzten Fetzen Fleisch, die ich von den Knochen pule, gebratenes Fleisch und Kartoffeln anbieten. Zweimal wische ich den Fussboden auf. Ich hacke das Grünzeug, schneide die Tomaten und noch eine Zwiebel. Ich finde kein Spülmittel. Das Wasser ist nur morgens heiss. Der Ausguss verstopft. In allen zehn Etagen werden in allen Küchen die letzten Fettreste kalt in die Rohre gekippt. Kniest, überall Kniest, und nicht nur in diesem Wohnblock. Die Haushälterin tut, was sie kann. Vielleicht ist es gerade dieser Kniest, der das gesamte Leitungssystem Moskaus noch irgendwie zusammenhält.

Ein Freund kommt. Er zeigt mir morgen die Stadt. W kann morgen nicht. Der Freund möchte mit seiner Tochter nach Amsterdam. "Für zehn Tage. Sabien! Es ist so wichtig für die Tochter. Amsterdam! Zehn Tage. Diesen August. Sabien." W euphorisiert sich in Möglichkeiten, die mir nicht zu Gebot stehen, reibt sich die Hände, überflutet das Irreale der von ihm ausgemalten Möglichkeit mit Schwallen von Worten und Anflügen von Röte im Gesicht. Er hört nicht hin. Niemand hört hin. Man fängt ein Wort auf, zufällig, reitet auf ihm davon, dichtet ihm magische Kräfte an. Amsterdam! Amsterdam! Amsterdam! Lullt sich und wie oft nicht auch sein Gegenüber so ein. "Ich wohne in Zaltbommel." "Nein." Schwingt die Peitsche, schnalzt mit der Zunge, zieht die Augenbrauen hoch, schaut den Freund viel versprechend an. Ich kann in Amsterdam nur andere fragen, ob sie jemanden kennen, der bereit wäre, einen vierzigjährigen Mann und seine siebzehnjährige Tochter für zehn Tage bei sich aufzunehmen. Viele kenne ich nicht. Im August bin ich noch in Berlin. Der Freund liest 'Das Phänomen Bruno Schulz'. Er liebt die deutsche Sprache, hat Deutsch auf der Schule und dem Polytechnikum gelernt. Er will dieses 'Phänomen' übersetzen: "Das brauchen wir hier jetzt." Wie oft habe ich diesen Satz nicht schon gehört. Er liebt Rilke. Wir fahren zum Leninberg, zum Sonnenuntergang, holen unterwegs seine Frau ab. Ihre Haut glost, überspannt opak eine verkropfte Zerfahrenheit. Daneben das sehnige Tatarengesicht des Mannes. Etwas ist mit ihrem Hals. Nicht starren. Sie lächelt. Erst am Hochzeitstag erfährt er, dass ihr Vater einer der engsten Vertrauten Breschnjews ist.
Dann wollen sie in ein Café. Wir finden keins. Ein Devisencafé. Das wollen sie nicht. Die Polizeipräfektur des Distrikts, wo der Freund wohnt, ist nicht so überlaufen, da bekommt man sein Visum verhältnismässig schnell. Er ist Chemiker, Plastik, sie Ingenieur am selben Polytechnikum, die Tochter sein Ein und Alles. Er ist öfter im westlichen Ausland.

Das Theater über das Problem der Juden schaffen wir nicht mehr, schon noch die Geburtstagsfeier einer Tragödin. "Sie ist grossartig! Sie trinkt." Es ist schon nach elf. "Nur eine Stunde", sagt W. Sie feuern diese Tragödin, Trinker sind unzuverlässig, halten die Spannung nicht durch. Jetzt arbeitet sie an einem anderen Theater. Auf dem dunklen Hof läuft ein einsamer Mann, die Hände in den Hosentaschen, das Kinn auf der Brust. Die überschwere sabberige Unterlippe. Die Worte kommen ihm schwer und feucht. Die Augen sind glasig, fallen doch zu. Ja, dies ist der Eingang. Wir steigen in den Fahrstuhlkäfig. Der Mann auch. Noch wankt er nicht. Eine Frau, die Tragödin, öffnet. Der Mann geht an ihr vorbei. Sie umarmt W, tätschelt mein Gesicht. Der Mann fläzt sich in einen Sessel. Auf allen Stühlen, in allen Sesseln, Couches hängen Gäste. Überall stehen Teller mit Salatresten, Fleischresten, Käseresten, Resten herzhafter Torten (Piroggen), angeknabberten Radieschen. Gläser. Wodka. Wein. Sie kniet vor mir nieder, tätschelt meine Hand. Ich fahre über ihr Gesicht. Was für Augen! Essen! Packt Salat auf einen Teller, ein Stück Pirogge. Lacht. Ein volles Glas Wodka. "Runterkippen!" Ich kippe runter. Sie tätschelt meine Hand. Streichelt mich. Gackst.
Du bist magisch! Noch hat dir der Suff deine Magie nicht zerstört. Du bannst noch immer.
Ihr dreiundzwanzigjähriger Sohn geniert sich. Kunststudent, Malerei. Noch wohnt er hier. Noch ein Glas. W stellt seins weg. Er verträgt überhaupt nichts. Wir steigen über Gäste, Teller, Gläser in ein anderes Zimmer. "Die Fotos!" Die Fotos! Zwei Schuhkartons Fotos schüttet sie auf den Diwan, wühlt drin, lacht, schürzt die Lippen, schüttet die Gläser voll. W stellt seins hinter die Vase. Du bist irr. Schön. Sogar im Suff noch. Die Anzeichen des Verfalls. Dostojewski ist nicht tot. Ich bliebe die ganze Nacht, schaute, tanzte - eure Leiber sind schon zu schlaff, können nicht mehr tanzen -, bis ich umfiele, liegen bliebe. Ihr erster Mann, auch ein Schauspieler, stirbt nach zwei Jahren: ein Verkehrsunfall. Der zweite nimmt sich das Leben. Vom dritten will und bekommt sie ein Kind. Sie verlässt ihn. Irgendwann beschliesst sie allein zu bleiben und zu trinken. Man beschliesst zu trinken, auch wenn man da reinschlittert; das ist ganz leicht. Sie beschliesst oft nicht mehr zu trinken. Die Stunde ist um. Sie ist untröstlich.

Angst in Augen, zugeschnürte Kehlen, schon aufgegebene massige Leiber, ausgemergelte Leiber. Autos schleppen ihre Auspuffe über den Asphalt wie Aufgeschlitzte ihre Därme. Aufgeschlitzte halten die Därme manchmal noch mit den Händen vor dem Ausbruch zurück. "Wir leben in diesem Koloss, tun, als lebten wir ihn noch. Sein Reich zerfällt. In seinem Zerfall bricht es uns. Unsere offenen Wunden verkrusten. Das Gift unserer Verwesung bei lebendigem Leibe dringt in unsere Adern. Den ganzen Tag über, unser ganzes Leben lang sind wir Teil dieser erniedrigenden tödlichen Komödie, die wir selbst inszenieren und zuschauend aufsaugen. Vor den Augen unseres Publikums schleudern wir unsere Arme gen Himmel. Wir sind Helden! Zuhause bringen wir die Hände an den angewinkelten Armen nicht höher als bis vor die Brust, klopfen den festsitzenden Schleim los."

 

Der Arbat. Der Kreml. Der Freund kennt und weiss alles über jeden Winkel. Beim Saubermachen der Fresken der Zarenfamilie löst sich mit der Schmutzhaut auch ursprüngliche Farbhaut mit ab. Kein Flecken in der ganzen Basilika, der nicht bemalt ist. Die Weite und Höhe des Raums ist vollkommen zugemalt. Entlang der Kremlmauer. Brautpaare lassen sich auf dem Roten Platz fotografieren. Durch das Tor eines alten Handelshauses, auf seinen verfallenden Hof, an noch mehr Basiliken vorbei. "Verglichen mit Stalin, war Hitler ein Waisenknabe", sagt der Freund.
Auf der Treppe zur Metro liegt ein alter magerer Mann. Ab und zu hebt sich sein Kopf. Menschen beugen sich über ihn. Er stirbt.

Kinderhorden springen Fremde an, reissen sie zu Boden, schlagen auf sie ein, filzen sie bis auf die Unterhosen. Anklage einreichen? Die Beamten heben die Achseln an: "Zig solcher Anklagen werden tagtäglich eingereicht, der Tagesschnitt dieser Kinder liegt weit höher als der eines Arbeiters."

Wir fahren zurück. Ich muss noch zur polnischen Botschaft, nicht weit von Ws Wohnung, muss einen der zwei mitgegebenen Briefe da abgeben. Unterwegs bekomme ich eine Lektion Baumkunde: das ist keine Akazie und das keine Linde. Wieder in der Wohnung, setzt der Freund die Töpfe aufs Gas. Stellt Teller auf den Tisch. Schenkt mir und sich einen Schnaps ein. Nach dem Essen deckt und wäscht er ab. "W muss gleich kommen", sagt er, geht.

Noch ins Theater. Beim Aufzeigen der eigenen Realität zu übertrieben agiert, steht in meinen Notizen und: vier Teile, der zweite entgeht mir. Jetzt weiss ich schon gar nichts mehr davon.
Nach der Vorstellung fahren wir noch zum Theaterdirektor, dem Freund. Ein Souper. Er wohnt in dem Haus, wo die Knipper, die Witwe Tschechows wohnte. Seit der Freund geschieden ist, wohnt sein Neffe bei ihm. Gregor ist vierzig. Allein ist ein Haushalt hier nicht zu schaffen. Sie haben kein Auto. Gregor kocht, kauft ein, räumt auf. Er ist Dozent am Polytechnikum. Sein Deutsch ist ausgezeichnet. Berlin, Ostberlin. "Wenn du noch austreten musst?" Der Freund zeigt mir das Bad. Sie können diesen August nicht kommen. Russische Küche. Piroggen. Und Piroggen. Und. Und. Und. "Iss, damit du was wirst", höre ich meine Grossmutter sagen. Der Wein kommt aus Bulgarien. Es bleibt ein Abwägen zwischen dem nicht doch Verletzen der Gefühle des Gastherrn und dem, was mein Magen verkraften kann. Am liebsten schaufelten sie mir ganze Berge auf. Und von jener Pirogge landen gleich zwei Stück auf meinem Teller. Ich schaffe sie nicht. "Ein Eis?" "Nein, danke." "Kein Eis? Kaffee?" "Ja, bitte." "Vielleicht doch ein Eis dazu? Gregor hat es speziell für heute..." "Ich möchte das Eis." "Noch eine Praline?" Ich schüttle den Kopf. "Ich liebe Pralinen", sagt der Freund.
Ich darf die Namen nicht durcheinander bringen. Immer behalte ich Namen erst, wenn irgendetwas der Person sich in mein Fleisch einlässt.
Hier spielen? Was ich bringe ist ihnen nicht fremd, dass ich mich nicht an Helden weide, schon. Aus der Nähe betrachtet gibt es keine Helden, gibt es Furchen, polierte Stellen, sind die Gerüche warm, stehen Schweissperlen auf deiner Stirn. In Amsterdam fragte W, ob ich meinen 'Karneval' auch ohne meine Menschen nach Menschen, meine garantierten, aus eigener Kraft unfähigen Gegenüber schaffte. Das Geschlecht der Leere öffnen, auch der in mir, in sie hineinflüstern, -schreien, mit ihr herumwirbeln, sie fressen von ihr gefressen werden. "Ja", sagte ich. "Vor ein paar Wochen brennt das Haus der Schauspieler aus. Brandstiftung. Viele, viele Probleme." Es geht ihnen nicht um diese Prozesse. W, alle hier suchen Verbindungen, die sie in den Westen schaffen können.
Unsere Zeit ist um. Es ist 2 Uhr morgens. "Schade", sagt Gregor.

 

Staubiger Verfall hängt fasrig im Foyer, lastet im Bühnenraum, in der Seitenloge, in der ich Platz nehme, den Gängen dahin. Sogar die Luft scheint auseinander zufallen. Frauen schliessen die Türen auf. Nicken lächelnd. Auf der Bühne zieht ein blutleerer 'Kirschgarten' an uns vorbei.
In der Pause gehen wie entlang den Fotos der Berühmtheiten des Kunsttheaters. Tschechow, Stanislawski, die Knipper. Für W ist Theater eine parallele Existenz. "Unser ganzes Leben gilt dem Theater - dem Theater? der Rampe? -, es zehrt uns auf." Er reisst die Hände an seinen angewinkelten Armen auseinander, seine Brust schwillt.

Hors d'oeuvres. Wein. Fleisch oder Fisch. Dessert?" "Nein." "Kaffee?" "Ja." Der weisse Damast. Die vielen leeren Tische. Wodkaflaschen. Rote Gesichter auf schönen Kleidern. Das Musikpodium ist leer. Die abgenutzte rot samtene Höhe, abwesende Anwesenheit der Ober. Die roten Gesichter fangen an sich über die Tische zu beugen. Wie viele Flaschen sie brauchen, bevor sie lachen können. Der Freund, der mit seiner Tochter nach Amsterdam will, seine Frau - heute ist ihr 18. Hochzeitstag. Nicht auf ihren Hals starren!

Noch die Malerei der zwanziger Jahre, auch die damals entartete. Dann sitzen W und ich im Bolchoi in der ersten Reihe. Meine Augen kreuzen sich. Gewaltige Stimmen aus zwei-, dreifach hinter- und übereinander sich öffnenden selben Mündern in selben grossen Gesichtern auf selben wuchtigen statischen Leibern. In Bolchois erster Reihe schläft man nicht. Die Menschen starren, horchen, klatschen. Worein lassen wir uns mit solcherart Hochmessen treiben, begeben uns unter berauschender Musik, berauschenden Stimmen worein?

 

Vor der Tür steht der Sekretär der jüdischen Gemeinde, des jüdischen Veteranenverbandes, des jüdischen - auf der Visitenkarte, die er mir reicht, steht das alles auf russisch und hebräisch - in grauem Anzug, die Brust voller Orden. Der zweite mitgegebene Brief und eine Tüte mit ein bisschen Schokolade und Süssigkeiten sind für ihn. Oberst! Sein Atem ist so braun wie die überschwere, verkrustete Unterlippe. Wieviele überschwere Unterlippen es hier gibt.
"Auch Lachmann hat Moskau verlassen." Ich weiss nicht, wer Lachmann ist. "Man gibt den Juden wieder die Schuld." Wir trinken Tee in der Küche. "Wir brauchen Hilfe für die Auswanderung. Haben Sie jüdische Häuser gesehen?" "Dieses. Und das." "Ist er Jude?" "Ja." "Spricht er Hebräisch?" "Nein." "Sind Sie Jüdin?" "Nein. Meine Sprache ist die deutsche." "In meiner kleinen Zweizimmerwohnung stapeln sich die Bücher, auch in der Küche." Auch noch Tee und Seife stecke ich in die Tüte, in Polen kann ich wieder Seife kaufen. "Sogar Exemplare, die die Leninbibliothek nicht hat", sagt er, "sie verkörpern einen grossem Wert." Ob ich helfen könne.
Er und W stehen in der Tür. Er ist für die massenhafte Auswanderung. Diesen Exodus. Allein im Raum Moskau wollen eine Million Juden raus. W ist dagegen."Wenn du gehst, bist du nur einsam. Keine Familie, keine Freunde. Und, aller Wahrscheinlichkeit nach, keine Arbeit. Hin und wieder auf Einladung im Westen zu arbeiten ist etwas anderes. Unsere Sprache ist die russische. Seit Generationen leben und denken wir auf Russisch. Wir kennen den Preis, meine Freunde, ich. Wir arbeiten von morgens bis abends, nachts. In unserem Pass steht, dass wir Juden sind."

Wieder gehe ich in die weisse Kirche in der Nähe von Ws Institut. Ich finde noch eine ganz verfallene rote. Noch zum Theater, mich verabschieden. "Sabina", sagt der Freund, "ich bin untröstlich. Nach L'wow! Bitte, iss nicht im Speisewagen, davon wirst du krank. Sabina, wenn du dein Abteil verlässt, nimm, bitteschön, immer deine Handtasche mit." Er tätschelt mir die Hand. Er ist besorgt wie drei Väter und drei Mütter zugleich. Wir nehmen ihn ein Stück mit. Auf der Strasse sagen wir Ade. Ich gebe ihm diese Zeilen für Gregor: "... ich bin für eben zuhause gewesen. Ich danke Ihnen und Ihrem Onkel."

"Ich möchte eine Zahnbürste kaufen." "Gut." Im GUM gibt es keine. Das erste Devisengeschäft ist geschlossen. Das zweite hat keine Toilettenartikel. Das dritte auch nicht. Französisches Parfüm haben sie.

Ich muss Essen mitnehmen. "Fünf Eier, das ganze Stück Wurst, Gurken, Tomaten, Grünzeug, ein ganzes Brot." "Ein bisschen Wurst, ein Ei, ein paar Schnitten." "Fünf Eier, das ganze Stück Wurst." "Es sind nur vierundzwanzig Stunden." Der Markt ist so gut wie leer. W schiebt sein Kinn nach vorn, das höhlt die Wangen aus, bläht die Nasenflügel. Er kauft vier Tomaten, zwei Salzgurken, etwas Grünzeug, ein Brot: "Ich kann kaum atmen. Kaum arbeiten. Man muss so viele Dinge regeln."
Es liegt noch ein Ei im Kühlschrank. Das eine Ei, hart gekocht, die Salzgurken, die Tomaten, das ganze Brot, das ganze Stück Wurst kriege ich. Mein Protest ist sinnlos. Wir schreien uns an. Ich lache. W lacht. Was soll ich mit dem ganzen Stück Wurst. Als er arbeitet oder schläft, hole ich die Wurst aus der Tasche, schneide ein Stück ab, lege den Rest hinten in den Kühlschrank.
Bevor wir mein Gepäck nehmen, setzen wir uns, still. Es ist schon 19 Uhr 30.

 

Der Kiewer Bahnhof ist eine andere Welt; das letzte Stück Weg schon. Hier schwingt sich die Schäbigkeit der Autos, die Verluderung an sich, das Gehupe zu wahrhaftiger Grösse auf. Hier endet die Strecke vom Balkan her. Gruppen Roma kommen uns entgegen. Wir gehen in die Vorhalle. Der Zug ist noch nicht aufgeführt. In die Zughalle. Züge kreischen rein, raus. Sofia, Odessa, Belgrad, Kiew. Mein Zug fährt nicht vor 23 Uhr. In drei Stunden. Niemand sagt, warum. Wir fahren nachhause. Ich lege mich hin. Schliesse die Augen. Wenigstens das. W schreibt. Der Artikel muss morgen fertig sein.
Wieder stehen wir in der Zughalle. Es wird 23 Uhr 30 werden. 23 Uhr 50. 0 Uhr 30.
Grossmütter thronen auf Kofferbergen, rechts und links gehalten von Söhnen, die zerfurchten Gesichter ganz grau. Eine Handvoll Rumänen neben fünfzehn, zwanzig, fünfundzwanzig Taschen. Die Frauen sind stramm, sind gepflegt, ihr schwarzes Haar glänzt. Sie müssen ungeheure Mengen verschlingen. Kinder liegen auf Gepäckstücken. Dicke Frauen sitzen daneben, legen Jacken über die Schlafenden, ein Tuch, ziehen einen Rock bis über die Knie. Schmutzige, hungrig graue Gesichter, wartende Gesichter. Strähniges fettes Haar. Kleine Mädchen übernehmen Mutterrollen. Kein Kind quengelt. Wie lange muss Schmutz auf Schmutz eingetreten werden um so hart zu glänzen. Limonade. Die Leiber, seit wann schon abgeschrieben, werden ihrem masslosen Wuchern überlassen. Korsetts pressen die Leiber in knallige Formen. Bauerngesichter. Der Menschen Gepäck ist ein Vielfaches ihres Eigengewichts. Sie sind Warten gewohnt, Abstände gewohnt, Umsteigen, Warten. "Bahnhöfe spiegeln die Gesellschaft wider", sagt W und schüttelt sich, "ich vermeide Bahnhöfe."
Der so vielte Zug nach Sofia fährt ab. Was ist? Aufruhr? Revolution? Der Aufruhr in Wilnius steht noch frisch vor Augen. W geht sich erkundigen. Eine Ewigkeit stehe ich allein. Starre mich in die Menschen, liege wesenlos auf Taschen, ziehe den Mädchen mit dicken Fingern die Röcke über die Knie, falte gedunsene Hände vor unförmigen Bäuchen, hole Thermoskannen heraus, reiche dem einen Becher, stehe mit gekantetem Becken, schleppe Taschen, schiebe Gepäckwagen, komme zum so vielten Mal erleichtert vom Klo zurück, richte mich für die Nacht hier ein, stehe mager, eingefallen, dick, schlurfe. Der komprimierte Satz der Stätte, auf der wir uns befinden, mit seinem Achselschweiss von Tagen und Nächten, Kölnisch-Wasser-Tüchern, braunen Bündeln, vom Fett überwucherten Schössen, rosa und lachsfarbenen Häkelpullovern über teigigen Brüsten, aus denen lasch die Arme quellen, das Achselhaar. Die runter hängenden schweren Lippen, das Gestöckel von Stöckelschuhe. Ständig zerfällt die Familie der Reisenden. Neue kommen hinzu. Abschiede werden genommen und gegeben. Züge fahren an.
Südwestlich von Kiew haben sich etliche Züge ineinander gerammt.
W gibt der Zugbegleiterin ein Trinkgeld, bringt mich in mein Abteil. Da sitzt schon eine Frau. W atmet auf. Sie und ihr Mann möchten zusammen schlafen. Ob ich vielleicht im Abteil nebenan... W geht schauen, kommt zurück. "Nein", sagt er, "diese Dame wird in L'wow aus diesem Abteil abgeholt." Sie suchen einen bereitwilligen Mitreisenden. Zu mir zieht ein grauhaariger Mann.
Das ist das letzte Mal, dass ich W sehe. Ich höre auch nichts mehr von ihm ohne ihn selbst anzurufen, es kommt auch kein Brief mehr. Dann rufe auch ich nicht mehr an.

Um 1 Uhr 5 fährt der Zug an. Auch der Grauhaarige fährt nach L'wow. "Russisch." Abgesehen davon, dass wir vierundzwanzig Stunden im selben Abteil verbringen, gibt es keine Verbindung zwischen uns. Ich falle in Schlaf. Aus dem Schlaf weiss ich nichts. Es tagt. Ich gehe mich waschen, setzte mich still auf mein Bett, schreibe, zeichne. "Ukraine", sagt der Grauhaarige. Er gibt mir zu verstehen, dass er sich fertig machen möchte. Ich gehe raus auf den Gang. Spreche mit einem Armenier. Sein Gesicht hat nahezu persische Züge; etwas breiter. Wir lächeln. W hatte nicht gewollt, dass ich das Abteil mit ihm teilte. "Eine so zierliche Frau!" Er fährt bis Kiew. Er bietet mir eine Zigarette an. "Ich rauche nicht." Er gibt mir ein ganzes Päckchen: "Souvenir." Der Grauhaarige ist angezogen. Der Tee wird serviert. Frauen arbeiten auf dem Land. Auf den Bahnhöfen stehen grobe Gesichter. Strickjacken, Kopftücher. Zusammengekniffene Augen. Streckenarbeiter schlagen mit Hämmern gegen die Schienen. Fünf Kilometer pro Tag. Wenn sie nach Tagen zurückkommen, ziehen sie wieder los mit den Hämmern. Die Erde ergreift schnell wieder Besitz, schiebt sich überall zwischen. Das geht schnell. Die Schienen rosten, ihre Parallelität ist bedroht. Züge entgleisen.

Die Weite. Ihre tränenrührige Sentimentalität "... schleuderte das unter Lebensgefahr gerettete warme Hündchen, das er eben noch, schluchzend, fest an sich gepresst hatte, zurück auf die Strasse, trampelte es tot. Zitternd noch hatte es auf die Hand seines Retters gepinkelt..." Diese Geschichte hat mein Vater oft erzählt, für ihn war das Russland.

Ich muss eins der fünf hartgekochten Eier des Grauharigen, von seinen Ölsardinen, seinem Brot essen. Ich habe Wurst, Grünzeug, Salzgurken, echten schwarzen Tee. Mit Papier und Bleistift zeichnen wir an einer Art Verständigung. Er ist verheiratet. Sie haben drei noch junge Kinder. Sie wohnen in einer Dreizimmerwohnung in Moskau. Er arbeitet bei der Bahn. Dies ist eine Dienstreise.

Kiews Basilika kommt immer überwältigender auf uns zu. Ein Verstoss gegen das einst herrschende Gesetz: keine Basilika darf grösser sein als die Moskaus. Die Siegessäule aus Stalins Zeit ist noch höher. Für den, der vor Jahrhunderten zu Pferd, gar zu Fuss unterwegs war, muss dieser Anblick eine auf ihn zukommende wahrhaftige Gottesstadt verheissen haben. Gott! Vorbei alles Elend des langen Trecks. Wer kämpfte sich nicht jauchzend kaputt für die Aussicht auf Aufnahme in solche Stadt und kämpfte nicht jauchzend weiter sie zu erhalten.

Sie saugen Staub. Rollen die roten Läufer auf den Gängen auf. Ziehen die Laken ab. Mitternacht ist vorbei. Noch eine Stunde.


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