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POLEN I.

Passkontrolle. Die polnischen Zöllner. Formulare. "Ja", wir müssen noch immer aufschreiben, was wir an harten Devisen bei uns haben. "Nein", nur mehr das Bargeld. Aufgeplustert, Standbein, Spielbein, gekantetes Becken, stehen sie da, blähen die Nasenflügel, schauen von oben herab, wie wir schreiben. Nehmen die Formulare, ziehen Linien bis an unsere Buchstaben wie gehabt. Nichts sollen wir verändern können. Stempeln die Formulare ab. Bei der Ausreise müssen wir sie wieder vorlegen. Das hingehaltene Formular, die geblähten Nasenflügel, diese geknickte Unantastbarkeit, die sich mit beiden Händen hoch im Türrahmen festhält, lassen alt gekannten Schweiss in mir ausbrechen, kalt, klebrig. "Denken Sie, dass es in Torun einen Waschsalon gibt", fragt der Amerikaner.

Nach Poznan bin ich allein im Abteil. Schalte das Licht aus. Lege mich hin. Irgendwann spüre ich, dass ich nicht mehr allein bin. Mir gegenüber schläft ein Mann, zu meinen Füssen zusammengesackt, noch einer. Ich höre sie nicht kommen, merke nicht, dass der Zug hält, nicht, dass er anfährt. Ich schlafe nur noch halb. Es tagt. Die zwei recken sich. Reiben sich die Augen. Ziehen sich die Schuhe an. Gehen. Leise. Ich bin wieder allein. Gehe aufs Klo, wasche mich, putze mir die Zähne. Noch ist das Klo nicht wirklich unerträglich. Ich lege mich wieder hin. In Krosno kommen ein hagerer Mann und seine sich unförmig gekaut und runtergeschluckt habende, abgerackerte Frau ins Abteil. Sie sind noch nicht alt, doch alt. Ihre Klamotten abgeschubbert, zu knapp, zu weit, die Schuhe aus, schief gelatscht. Sie schleift ihre von Mantel, Kleid, Hemd, Büstenhalter zusammengehaltene ausgepowerte Masse in der laschen Haut wie ihre voll gepfropften Taschen, rechts und links, vorwärts. Diese Rücken- und Kopfhaltung schräg hingehaltener Fügung löst sich nicht mit einem Wort. Eine halbe Stunde vor Warschau zerren sie ihre Taschen wieder aus den Gepäcknetzen, durch die Tür, stehen im Gang. Immer habe ich Polen schleppen sehen. Ihre Autos waren immer bis weit über das zulässige Mass hinaus voll gepfropft und bepackt.

 

Warschau. Bahnhof Gdansk. Ganze Reihen Taxis! Ich stelle mich deutlich sichtbar vor den Bahnhof, vor das Fenster des Bahnhofscafés. Ich habe noch kein polnisches Geld. Da stehe ich. Zehn Minuten, zwanzig, dreissig. "Warte da auf mich", hatte Wieska gesagt. Da! Dieser quirlige Haufen in dieser - ich habe noch kein Wort dafür - Aussichtslosigkeit? jetzt hochtreibenden Übermüdung? überputschter Übermüdung? Kraftlosigkeit? Dem Taschengeschleppe. Dreissig Minuten sitzt sie in diesem Café vor dessen Fenster ich stehe, wartet. Wir brüllen vor Lachen. Dieses Lachen, das aus den Zehen kommt. Strassenbahnen mit rosa Riesenbarbies kreischen durch die Stadt. "OHNE BARBIE SPIELST DU NICHT MIT!" Schlaglöcher. Immer noch weiter abbröckelnde runtergekommene Fassaden. Der Verkehr ist hektisch. "Ich setze mich hier nie ans Steuer", sage ich. Z, Wieskas Mann, ist Atomphysiker. Zurzeit ist er wieder für sechs Wochen in Groningen. Das verschafft ihnen auch das nötige Geld um in Warschau leben zu können. Das bringt sie damals schon immer wieder ausser Landes. Sie haben Klopapier, Seife, Zahnpaste. Horten. Alle Polen horten. Alles, was sie kriegen können. Sie sind Eigentümer einer grossen Dreizimmerwohnung mit Küche und Bad und zweitem Klo und Veranda und Keller und Garage, in guter Lage. Sie stehen sich gut. Sie wissen das. Sie arbeitet in einem geographischen Institut. Ihre Wohnung ist für die nächsten sechs Wochen meine Basis.

Ich packe die Geschenke aus, dusche. Wir trinken noch Kaffee. Wieska baut mit einem Kollegen, ihr zweiter Job, ein Ratgeberbüro für ausländische Firmen auf. Sie kennt das westliche Ausland, weiss, was da herrscht und wie, und kennt ihr eigenes Land, die Strukturen, Schliche, Spielregeln, Gebrauchsanweisungen der Menschen hier. Die wesenhafte fasrige Müdigkeit, die Hektik gebiert, überrauscht dann - vergessend, alles, alles - tanzen sie.
Zum Zuge kommen jetzt die Frauen, die dem Kinderkramalter entwachsen sind, wenn die Jahre, die sie auf dem Buckel haben, sie nicht doch restlos ausgelaugt haben.

Wieska muss zur Arbeit. Ich bekomme eine Lektion Türabschliessen. Drei verschiedene Schlüssel, jeder muss auf seine Art rein gesteckt und umgedreht werden.

'Kantor'. Da tauscht man jetzt ganz legal und überall in der Stadt sein Geld um. "Der Schwarzmarkt mit seinem verruchten Charme, unser liebstes Gesellschaftsspiel, ist passee", sagt Wieska. Für meine Fahrkarte nach Moskau muss ich das nötige Geld noch mit einem Formular mit drei Durchschlägen an einem offiziellen Bankschalter umtauschen.

Bude an Bude, Stand an Stand, Alte hinter Eimern mit Eiern neben Stapeln lachsfarbener und weisser Büstenhalter. Mitten in Warschau. Auf Europas grösstem Paradeplatz unterhalb der ehemaligen Empore der Parteibonzen vor dem Kulturpalast, Moskaus vierzehnstöckigem Prunkgeschenk mit seinen zwei Seitenflügeln, links dem Dramaturgischen Theater, rechts dem Studio Theater, herrscht Markt, Russenmarkt. Die Abfalleimer auf den Strassen quellen über von Bananenschalen. Im Dreck liegen Roma, schlagen Kreuze, strecken die Hand hin. Der ehemalige Bunker der Parteibonzen, mit Zugang von der Empore aus, ist Pferdewettlokal.
Frauen mit Taschentüchern auf den Köpfen. Männer in Unterhemden. Es ist heiss. Auf Pritschen liegt Krimskrams. Entlang Flussperlen aus China, Wodka, Schafskäse aus Zakopane, geräucherten Hühnern, Seidenhemden, Seidensakkos, Seidenhosen. Dahinter sitzen, stehen sie, warten auf Käufer. Die kommen. Pelzmäntel. Der kann seinen Sohn jetzt in London studieren lassen. Matte Leiber. Gierig gespitzte Augen. Zum Pinkeln gehen sie in den Kulturpalast. Vierzehn Etagen. Auf allen Etagen Klos. Rosa Unterröcke werden stundenlang vor pralle Leiber gehalten. Speckige, keine Regung zeigende Gesichter. Zitrusfrüchte. Holländische Tomaten, so teuer wie in Holland, fade, rot. Erst ziehen sie ihre Ware aus Bündeln und Taschen, dann kommt die Pritsche, der Stand, der abschliessbare Metallbehälter, die permanente Holzbude. Eine sich legitimierende Mafia sorgt für Ruhe und Ordnung.

"Natürlich wissen wir, dass es dauert." Sie treffen auf das Überangebot an runterzuschluckendem Überdruss-Konsum des Westens. Dieses Runterschlucken, das der Verdauung des Runtergeschlucktem keine Rechnung trägt. Auch sie wollen Porno, Barbies, die narkotisierende Wirkung, die von Geld, von ständigem Kaufenkönnen, Runterschluckenkönnen ausgeht: ihre neue, sie beherrschende Macht. Dass das Wissen von der Art des Beherrschtwerdens nicht davor schützt...
"... dass das deutsche Volk nach dem Krieg eines sicher nicht wollte: Nachdenken...", lese ich in einem Interview in der 'Zeit'.
"Im Handel ist der Gewinn am grössten. Das Klima ist gut für schnelle Millionäre. Wir können nur schwer begreifen, dass es morgen auch noch was gibt. Wir sind gewohnt zu kaufen, was es gerade gibt, und soviel wir bezahlen können, kriegen können. Was du runtergeschluckt hast, kann niemand dir mehr nehmen. Unsere Kühlschränke sind proppenvoll."

 

Das Goethe Institut strahlt Deutschland aus. Der Mann beim Empfang kommt aus Magdeburg. Dies ist das ehemalige Kulturzentrum der ehemaligen DDR, der neuen Bundesländer der Bundesrepublik Deutschland. Sowjetische Besatzungszone - Zone, Ostdeutschland, sagten wir -, so genannte DDR, DDR. Dieses DDR, ohne ehemalige, schleicht sich immer wieder ein. Es dauerte ja, bis wir das so genannte wegliessen, machte es doch die Teilung vor aller Öffentlichkeit akzeptiert, endgültig. Spaltete Familien. Spaltete die Menschen. Die Mauer senkte sich in unsere Leiber und Köpfe und Herzen, in die reissende Wunde - "Nicht berühren!" - der Jahre davor, aus den Jahren davor, denen davor. Wir verankerten uns in ihr. Die Mauer gebar Mauern in uns. Eine Eskalation der Kapitulation. Welcher? Die Schuld lag immer jenseits. Immer stiessen wir auf die Mauer, stiessen uns an ihr, beklagten die Toten, die sie verursachte: unsere Morde. Rechtfertigten durch die Mauer unser so Sein. Die in der Stadt rissen wir ab. Der besondere Status, den sie uns verlieh, ist hin. Die Wunde der Zeit liegt offen.

Das Haus wird renoviert. Der Deutschunterricht stimuliert. Noch wird abgetastet, das Bringen welch deutschen Kulturgutes dieses Haus auf sich nimmt, auf sich zu nehmen hat. Welches die auszustrahlende Botschaft zu sein hat - ist -, inwieweit das Haus unterstützt, unterstützen will, was von hier aus gewünscht ist. "Die Marge der eigenen Verantwortung der einzelnen Häuser ist gross", sagt der Direktor.
Auf dem Plan steht eine Art Symposium. Deutsche, Polen, Juden. "Die Nazizeit, auf alle Fälle die Zeit der Schlachtungen, klammern wir aus. Es geht uns um die Normalität. Die Schlachtungen überschatteten die Normalität." (Meine erste Normalität ist Krieg. Wo lassen sie all die Leichen? Das Blut? Den Gestank?)
"Wie können wir es verantworten die Existenz von Schlachtungen wegen ihrer ausserordentlichen Unmenschlichkeit - diesen Hochzeiten mit unserem Abstempeln, unserem Brandmarken davor und dem Glühen der Male in Schlachtern, Entkommenen und Zuschauern danach - ausser Betracht zu lassen; die Karte unseres Lebens so zu verzerren?"
Seit wir vom Tode wissen, wissen, dass wir Kräften verbunden sind, die uns Leib und Kehle schnüren, die was wir tun, lassen, zulassen, wünschen nicht berührt, stecken wir uns Horizonte - der Barmherzigkeit, der Gnade.
Innerhalb, nicht ausserhalb dieser Horizonte errichten wir unsere bedeutungsvollen Wände, Altäre, Arenen. Beugen das Haupt. Lächeln. Jubeln. Klagen. Schwingen das verbrämte blutige Tuch, den weissen Fetzen der Kapitulation wie irr über unseren Köpfen.

"Übermorgen bringen sie beim Theaterfestival in Torun Schulz", sagt er, "möchten Sie mit?" "Ja."

 

Der purpurne Plüsch gleich hinter der schweren Eingangstür des Studio Theaters schlägt mir ins Gesicht. Ja, es ist anders. Als seien einschränkende Augen weggefallen. Von hier aus gehen im Spätsommer 1983 achtzig meiner dreihundert Schulzradierungen auf Tournee durch das zerquetschte Polen. "Unser Leben!", sagen sie damals und: "Aus der parallelen Anwesenheit solcher Zeichnungen und Texte muss es zu Theater kommen." Keine Erfrischung. Kein Kaffee. "Zusammenarbeit", sagt der Regisseur, der sich für das Herkommen der Radierungen eingesetzt hatte, "hier." Keine Tasse, kein Glas in Händen, keinen Halt die Stillen zu überbrücken, das Erkennen runterzuschlucken.
Die klamme uneigentliche Vornehmheit mit ihren blauen Tagesschürzen regiert noch immer. Das angebotene Hier, die gewollte Zusammenarbeit, Versprechen, Verabredungen.
"Bitteschön!" Auch ihn umschwebt diese Klammheit. Seine Gesichtshaut ist ledern, doch nicht fest. Es sprechen die Lippen. Die mir gereichte Hand ist weichlich blass. Das Kreuz der Hose hängt tief. Das Hemd irgendwie doch raus. Die kleinen Augen hinter den winzigen ovalen Brillengläsern. "Ich will", sagt er, "habe jetzt nur wenig Zeit. Morgen fahre ich nach Wien. In dreieinhalb Wochen bin ich für vierzehn Tage in Krakau. In Krakau habe ich mehr Zeit. Theater frisst Geld. Wir haben kein Geld. Bitteschön. Wir fangen etwas an. Dann ist das Geld alle. Wir fangen irgendwo anders etwas an." Irgendwo zwischen gewaltigen Vorstellungen hängen verrenkte immer mehr sich verrenkende Posen. "Nichts können wir Zeit gönnen zu reifen. Nichts erledigen wir. Drei Produktionen pro Jahr. Wir brechen ab, müssen abbrechen. Die letzten, die entscheidenden Schritte bleiben ungesetzt. Unsere Vorhaben? Ideen? Die geistige Atmosphäre ist nicht mehr so erdrückend. Es gibt noch nichts, wogegen wir uns jetzt zur Wehr setzen können, wovon wir uns absetzen können." Keine Klagemauer, die das Echo der eigenen Klage, uns berauschend, auf uns zurückwirft. "Schritte in Leere setzen, ohne Mittel! Von Mittellosigkeit kannst du dich nicht absetzen, musst damit leben, sehen herauszukommen. Wer kann, geht immer wieder ins Ausland, für eine Produktion."

 

"Mainä Liebä." Seit ich sie 1979, auf meiner ersten Polenreise, am 40. Jahrestag des Einmarsches der Deutschen in Polen zum ersten Mal treffe, suche ich sie auf, wenn ich hier bin. Sie ist ein Jahr und einen Tag jünger als meine Mutter. Ich bin dann für eine Stunde ihr Kind, das sie nicht geboren hat. "Es ist hoffnungslos." Wir umarmen uns innig. Wenn ihr die Tränen kommen, sagt sie: "Geh."
"Kaffee? Gut? Die Türen schliessen und riegeln wir jetzt doppelt und dreifach ab. Der Abortusparagraph kehrt die Menschen hier gegen die Kirche, gegen den Papst aus eigenen Reihen. Ich falle immer wieder zurück aufs Polnisch. Mein Deutsch. Du verstehst? Natürlich verstehst du. Wir kommen mit nichts weiter." Als ich 1987 eine Woche bei ihr wohne, bittet sie mich ihren damals seit vier Jahren toten Mann zu zeichnen; nach einem frühen Foto. Als ich spüre, dass es anfängt zu geschehen, ist es für sie Er. Sie herzt und küsst Foto und Zeichnung. "Ein paar Früchte? Gut? Nu. Polen ist für Polen zu teuer geworden. Ein kleines Alkohol? Es gibt keine Entschuldigung mehr. Armut ist Armut."
"Es sind tote Tänze. Sie wissen, dass ich nicht tanzen kann, nicht mehr. Tanzte ich, malte wirklich, ich beschwörte das Getto Strich für Strich, Lage für Lage jedes Mal wieder herauf. Aus Feigheit habe ich überlebt. Ich weiss, wo ich mich befinde, verehrte gnädige Frau, wo ich nicht weitermache. Sie müssen es tun", sagt mir ihr Mann, als ich ihm Ende Oktober 1980 auf meiner zweiten Polenreise gegenüberstehe. Sie ist nicht im Zimmer, als er das sagt. Sie hatte mich mit nachhause genommen. Ich sollte seine gezeichneten Erinnerungen an die Zeit vor dem Warschauer Getto sehen, knie auf dem Boden, als er unvermutet dasteht, fühle mich wie ein Kind, das in geheimen Stössen seines Vaters wühlt. "Es sind Tänze", sagte ich.
Gegen Ende von Jaruzelskis Militärregime stirbt er. Herzastma.
"Man hat mir eine Proposition gemacht!" Sie setzt sich dafür ein, dass diese toten Tänze ausgestellt werden. Das ist ihr Leben. Ihre schleudernd nach vorn geworfenen Gesten entreissen sie nicht ihrer Lage, reissen den Rumpf nicht mit. "Mainä Liebä!" Die Unterkinnhaut ist endgültig ausgeleiert. Diese umgeschlagenen Hosenbeine. "Die Regierung kann demokratische Systeme ausarbeiten, die Menschen in ihre Freiheit entlassen, Armut bleibt Armut, bindet." Irgendwann gibt es nichts mehr zu verschachern.
"Sie greifen mich auf, ausserhalb des Gettos, bringen mich zum Gestapoposten. 'Sie wissen', sagt der Offizier, 'was wir mit solchen wie Ihnen tun?' 'Tun Sie es. Hier und sofort.' 'Hau' ab', sagt der Offizier. Ich haue ab."

An jeder Strassenecke kann man Fahrscheine für 85% des Normalpreises kaufen. Viel karottenrotes Haar und sehr blaues.

 

Es ist einer der grauen Betonkartons, der sovielte einer ganzen Reihe von zig Reihen im Zentrum. Ihre Fassaden blättern und bröckeln ab, Rost zerfressene Streben stecken aus den Wunden. Krieg, denke ich, ohne Krieg. Ich finde den Eingang. Nehme den Fahrstuhl: fünfzehn Etagen! In diesem Teil befinden sich die Eigentumswohnungen. Er kommt mir entgegen. Seit er 1978 erfährt, dass da jemand Schulz zeichnet, setzt er sich dafür ein es bekannt zu machen, bittet mich 1979 über meine Erfahrungen in Polen zu schreiben, belegt mit Zeichnungen - "nein, es muss schon positiv sein" -, 1981 mit einem Bericht über meine Begegnung mit Schulz an einem Wettbewerb teilzunehmen, denn "Schulz ist möglich, denn Schulz ist tot."

An Erliegen grenzendes Entgegenkommen, untertänige Bescheidenheit, an Abwehr grenzender Abstand in aller Bejahung. Ihn zu sehen, ihm gegenüberzustehen verursacht mir Pein, belegt meine Worte in der Kehle schon mit Beschlag. Seine Bitten im Namen anderer, durch andere, direkte Begegnungen mit ihm, seine Aussagen ermangeln des in die Augen Schauens. Viel später veröffentlicht er eine Notiz über mich, in der die genannten Namen klingen, die wirklichen Stationen jedoch unangerührt bleiben. Wir stehen am Ende des Etagenkorridors. Kein Gitter, nur die Glasscheibe. "Ideal für Selbstmörder", sage ich. Wir lachen. Die schlechten Zähne in diesem runden weichen Gesicht. Der Kulturpalast ist in Sichtweite und unten, irgendwo links, das jüdische Theater. Der Russenmarkt ist von hier aus nicht zu sehen.

Drei Zimmerchen, eine Küche, ein Bad mit Klo. Alles peinlich sauber. "1 000 000 Zlotys Rente pro Monat." Das sind 100 US Dollar. "Mein Herz. Meine Frau verdient auch etwas." Ich muss zugreifen. Nicht zu schnell essen, aber essen: "Danke." "Bitte. Sabina, 300 000 Zlotys pro Monat kostet die Wohnung, kalt. Wir leisten uns seit Jahren schon keine neue Garderobe mehr. Wir sind sehr sorgfältig mit dem, was wir haben. Auch Fleisch, das es jetzt ja überall gibt, bleibt für uns eine Seltenheit. Salat?" Seine Hände sind nicht feucht. Die Tropfen auf der Oberlippe. Ich wage kaum zuzugreifen. Wenn er lächelt, probiert er die Oberlippe über die schlechten Zähne zu ziehen. "Der Mund ist immer trocken. Kaffee? Tee? Elf bin ich bei Kriegsende. In Warschau."
Die Augen gross aufschlagend und wieder zuschlagend zieht seine Frau sich immer wieder in sich zurück. Dorre Züge. Die immer wieder sich vorlagernde, dann ruckend in die Breite gezogene Unterlippe. Bräunender Widersinn nistet in diesen Mundwinkeln, zerrt sie runter. Ihr Kinn ist wie vor Weinen gekräuselt. Sie lächelt. Ich lächele. Die Kräuselung löst sich zitternd: "Klagen ist sinnlos."
"Nicht jeder ist telefonisch zu erreichen. Anschlüsse sind eine Seltenheit." "Wann muss ich meine Lesung halten?" "Sabina!" "Wie geht es ...?" (Ich soll keinen Namen nennen.) "Hinter vorgehaltener Hand." Er hält die Hand vor den Mund. Der Ellenbogen drückt auf die Brust. "Unter uns. Niemandem. Bitte. Ich bitte dich. Kapazität. Wir müssen hier mit ihm leben. Der Direktor sagt. Ein sehr guter Freund. Das nächste Jahr ist ausserordentlich wichtig. Seine ganze Wohnung, sein ganzes Leben. Er ist aggressiv. Vereitelt."
Auferlegtes nicht nennen Sollen bindet. Solch Schweigen wird als Anerkennung des Handelns gedeutet. Mit meiner stillschweigenden Anerkennung spreche ich dem Handelnden die Macht zu mich für sein Vorhaben einzusetzen. Mich, und womit ich komme, schon dem von ihm errichteten Altar, mit wem auch immer in der Monstranz, zu opfern. Mich in seinem Hoheitsgebiet auszuhungern. Ich trenne den Namen vom Vorgang. Das Nennen des Namens schafft solch Vorgehen nicht aus der Welt. Immer sind es lebende Menschen, Träger von Namen, die erledigen, beschwichtigen, schweigend sich windend daneben stehen. Tote können nicht tragen, nichts, nichts gutheissen, sich nicht zur Wehr setzen.
Der süsse spanische Wein.
"Sprich in Krakau mit dem Organisator des Festivals der Jüdischen Kultur. Er weiss von dir." Der Wodka mit dem Bisongras. Der Tee, der Kuchen, das Eis. Meine Lider sind schwer. Seine Zähne sind krank. Sein Herz ist noch kranker.

Er bringt mich zum Maly Theater. Wieska kommt von ihrer Mutter. Die Mutter wird von Schüben heller Zusammenbrüche heimgesucht. Sie fühlt sie aufkommen und begibt sich ins Krankenhaus.
Das Geschehen auf der Bühne zeigt sich mir doppelt über-, nebeneinander.

 

Und noch zur Namenstags-Party einer Malerin. Polen feiern Namenstag. Jetzt wohnt sie mit ihren Kindern und Bildern in Warschau in einer grossen Vorkriegswohnung. Sie liebt ihn, heiratet ihn, bekommt drei Kinder von ihm, liebt ihn nicht mehr, verlässt ihn. Jetzt wohnt dieser Freund bei ihr.
Sie verkauft schon ins Ausland.
Ihr Vater kaufte die Wohnung für die eigene Familie. Dann zogen die Eltern in eine kleinere, ganz in der Nähe.

Der Freund sitzt in der Küche vor dem Fernseher. Fussball. In der Halle stapeln sich Mäntel und Jacken. Züge immer ergeben Leid erduldendes Leben, steht die Mutter am Herd. Der Panzer des Gesichtsfleisches. Der eingerastete Leib. Das Hantieren von Topfdeckeln und Kellen. Die Tische biegen sich unter Salaten und Käse und Nüssen, Butter, Brot, Gulaschsuppe. Man isst gesund. Morgens nur Obst: das reinigt den Körper. Keinen Kaffee: dieses Gift, sicher nicht vor 12 Uhr, danach kann der Organismus das alles viel besser verkraften. Und sicher nichts Rohes nach Gekochtem. Und niemals Fleisch und Gemüse und Kartoffeln zugleich.
"Wein? Wodka? Martini? Kaffee?"

Zwei der Bilder berühren mich ein wenig. Graue Flächen in grauen Flächen. "Sie muss Kompromisse schliessen." Sie schliesst Kompromisse. "Eine ihrer Schülerinnen. Fünfzehn." Ausgesuchte Garderobe. Schwarzes Haar. Hochgezogene, mit hohen Kissen noch aufgestockte Schultern. "Eigentlich sind es zwei Wohnungen. Die kleinere, hinten, ist das Atelier. Hat ihr Vater umgebaut." Fast alle sind Künstler. Sie zeigen Fotos ihrer Arbeiten. Auch ich. Essen. Trinken. Einer wohnt seit Jahren in Berlin. "Ende Juni kommen, vielleicht, original Gulag-Zeichnungen aus Russland."

"Rauchen Sie? Tanzen Sie? Sie tanzen doch! Hinten." Manche legen grosse Scheine auf den Tisch. Dann rauchen sie. "Das Haupthandelszentrum für Kokain hat sich von Amsterdam nach Warschau verlagert", höre ich sagen. Der süssliche Geruch des Haschischs. Tanzen. Discomusik. Hinten ist es schummerig. Ich tanze. Du hast mich nie tanzen sehen. Es ist nicht leicht für mich anzufangen, nicht in jeder Gesellschaft. Ich weiss, dass ich vergesse. Vergesse, wo ich bin, nur tanze wie beim Zeichnen, Malen, Schreiben, Theater. Einer schlägt sehr rhythmisch, sehr monoton zwei leere Bierflaschen vor seinem Geschlecht zusammen, den Schoss nach vorn gepresst, die Knie eingeknickt. Ich nehme wahr, wie ich auch die leiseste Bewegung im Publikum registriere, wenn ich spiele; Bewegungen, Geräusche im Haus, wenn ich male. Heftig schwingen sie Glieder, Köpfe, Hüften. "Doch einen Zug? Ein Glas? Einen Teller Salat? Auslandskontakte sind wichtig. Wer nicht darüber verfügt, weiss nicht, wie er Ende des Monats die Münder stopfen soll. Geschweige denn Extras." Die Musik dröhnt. Der Bärtige schlägt die Flaschen vor seinem Geschlecht zusammen. Jetzt brummt er dazu. Meine Uhr zerfällt in drei Teile. Ich setze sie wieder zusammen. "Ihr wollt schon gehen?" Wir nehmen das Kind mit, suchen ein Taxi.

Letztes Jahr, noch vor Ende des Visumzwangs, fängt der Vater des Mädchens an über den KGB zu veröffentlichen. Dann, nachts, brennt ihr Haus. Frau und Tochter springen aus einem Fenster im zweiten Stock. Nach sieben Nächten stirbt die Frau. Die Tochter wird nach fünf Monaten entlassen. Den Fall lösen sie nicht. Nie. Die Tochter trachtet dem Vater ein Heim zu schaffen. In einer Wohnung mitten in der Stadt, unter Leuten.
Der Tacho steht auf 100. "Wir wollen uns nur amüsieren gehen, vergnügt sein, Essen und Trinken geniessen. Immer wieder so was", sagt Wieska.

Noch vier Stunden Schlaf. Der gedrungene Leib dieses hundertjährigen Kindes, das dem Vater jetzt ein Heim zu schaffen trachtet. Den Rücken haben sie wieder hingekriegt. Die hochgezogenen Schultern, schweren Brüste, schlanken Finger. Schöne Hände. Das schwarze lange Haar.

 

Torun. Alles muss in den Kofferraum. Wir melden uns. Wir sind früh. Wir sind offizielle Gäste. Die Dame an der Kasse, die keine Schürze trägt, aber so aussieht, als trüge sie eine, die uns den Weg weist. Der Gang durch die Gänge. Das Zimmer voller grossbürgerlicher Möbel. Der Botschafter deutscher Kultur, der in einer Provinzstadt Polens geboren ist, dessen Mutter aus Galizien stammt, dessen Vater Ende der dreissiger Jahre aus Deutschland in die polnische Provinz übersiedelt, ein Geschäft eröffnet - nein, die Mutter hat nie polnisch gesprochen -, seine ihn begleitende Gattin, der junge Freund, der so gut deutsch spricht. Die Organisatorin reicht uns Anstecknadeln, die uns als Offizielle ausweisen, geht dann mit uns in ein Café. Ich spreche mit ihr über Schulz, über meine Arbeit seit Schulz mir in die Hände gefallen ist, den Prozess, meine Verbindung zu Polen. Zeigen kann ich ihr jetzt nichts. Sie lacht: "Er (dessen Name ich nicht nennen soll) wirft sich vor allem auf, das an seinen Schulz kommt. Wir umgehen ihn", sagt sie. Auf dem Klo hängt Tissue-Paper-Klopapier.

Torun ist schön. Unaufdringlich. Nicht weit von hier wohnen zwei Vettern meiner Mutter. Natürlich verfällt es. Alles verfällt hier. "Zu lange verfügen wir über nichts, womit wir den Verfall wenigstens aufhalten könnten. Das fängt erst an, muss. Privatisierung bedeutet nicht gleich Geld. Wir fangen gross an. Dann ist das Geld alle. Der Rest verfällt weiter." In der Kirche, links der Orgel, ganz oben, sehe ich das Fresko einer Frau: still, weiss, in einem grossen schwarzen aufgemalten Fenster. 1566. Sie kommt in meinen Bildern vor. Ich habe dieses Abbild nie eher gesehen.

Aufgetürmte Gegenstände, ein raus steckendes Damenbein mit Strumpf und Pumps in künstlichem Schlackenglimmen. Abläufe gemäss Schulz' Niederschriften eines drohenden, dann noch einmal überstandenen Wahnsinns des Vaters. Eine Kanzel. Der Stuhl ist hart. Vor meinen Augen schieben sich die Bilder auseinander, ineinander, übereinander, sind ohne Perspektive, schnellen auf mich zu - das Jucken im Bauch -, lösen sich los vom Ton. Herr Karol schraubt sich aus Herrn Karol in Herrn Karol.
Wo bleibt das Geschehen jener Strassen, jenes Sanatoriums zur Todesanzeige mit seinem bis in letzte Winkel durchlebtem hellem Wahnwitz, das mich mitreisst, verfolgt, in mir brüllt, lacht, die Trommel schlägt, durch die Strassen scheppert: "Ich habe dir das Haupt gerade nicht abgeschlagen, du hast mir das Haupt gerade nicht abgeschlagen: der Teller ist leer. Ha! Ha! Ich verkrieche mich, ganz Ohr - das Getöse -, winde mich in mir: 'Schön, so schön!', geil vor Verlangen, wüst vor Ausgeschlossensein. Krieche heraus aus den Spinnweben eingemauerter verschütteter Räume. Mein verschmiertes Gesicht! Der Rotz! Das Fetzchen Borte."
Hier kracht keine Stille, ballt sich nicht, herrscht kein Tanz: unblutiger Bruder des Mordes; nie ein für allemal getanzt, immer jetzt. Blitz und Donner. Jiddische Melodien.

Schulz, solch Tanz, ist nie grotesk, auch wenn die Groteske ein naher Verwandter des Wahnwitzes des Lebens ist, dieser unverbindlich tief einander verhafteten Zwiespältigkeit, die mich lachen macht.
Mit zugestandener Qualität wird das Kommenlassen, das ausgegebene Geld gedeckt: der eigene Entschluss aus erteilter Position, innerhalb als sicher anerkanntem Horizont. Das Volk will! Das bunte Treiben! Wer will schon den Wahnsinn riechen? "Und?" Der hält den Schauspieler fest am Arm, nickt jener zu. Man streichelt Köpfe, lässt sie sich streicheln. "Karol", sage ich, "ihr Karol hat mich kurz mitgenommen."
Einknickende Gelenke, schräg gehaltene Köpfe, sich ringende Hände, dumpfe Flecken in unseren Gesichtern lächeln, nicken, sprechen wir uns durch, bis die Busse kommen, uns zur nächsten Vorstellung abholen.
Krampfhaftes Augenaufhalten, ein Glas in der Pause, Häppchen.

 

Zurück nach Warschau. Der tiefe Himmel. Der grosse volle Mond. Erst ist er orange, dann nahezu weiss.

"Hinter deutscher Grenze molestieren Deutsche Polen", sagt der Rundfunksprecher, zeigen die Bilder im Fernsehen, erzählen Leute, die es getroffen hat.

 

Ich bleibe im Auto. Schreibe auf. Wieska geht ins Krankenhaus zu ihrer Mutter. Mit Obst. Morgen nach Krakau fahren wir 1. Klasse. Wer es sich in Polen irgend leisten kann, fährt 1. Klasse. Morgen findet in Krakau ein Schulz-Projekt statt. Morgen soll ich da einen der Organisatoren des Jüdischen Festivals treffen.

Graues grosses Gesicht, weiche sich auflösende Züge. Die sensiblen langen Hände halten mich gleich lange fest, als müssten sie sich einer sicheren Antwort vorweg versichern. Dieses Gesicht überschattet alle Skulpturen dieser Bildhauerin, die ich doch gesehen haben muss.
Ich streife noch über den Russenmarkt.

 

Krakau. Wir müssen früh auf. "Einfach weg, zum Bahnhof und weg", sagt Wieska. Da kettet sie das Gaspedal ans Lenkrad, schliesst das Hängeschloss und die Türen gut ab. Uns gegenüber sitzt eine blondierte Üppige aus Kanada, neben ihr ein Mann mit seiner alten Mutter, ihnen gegenüber, neben mir, sein Kind. "Eine Banane", fragt Oma, "eine Orange? Noch eine Banane? Vielleicht einen Apfel?" Der Schaffner hat eine Hasenscharte. Wieska schläft.

"Taxi? Auschwitz? Auschwitz?" Auf Taschen und Bündeln liegen Männer, Frauen, Kinder: Roma. "Zimmer? Auschwitz? Im 'Warschau' haben sie Platz, bestimmt." Man hat ein Zimmer für uns. Das Klo ist auf dem Flur. Das Bad auch. Auf einmal ist das Hotel privatisiert. Es ist abgenutzt, die Läufer abgewetzt, das Klo sauber. Das Klo stinkt. Nach 12 Uhr können wir auf unser Zimmer. Gegen 11 Uhr soll ich im 'Kazimierz' sein, Krakaus Judenviertel, aus dem die Juden dann raus sind. Auf den Strassenbahnen hier prangt noch keine Reklame. Die Menschen sind müde. So müde habe ich sie noch nie gesehen. Die Kriminalität gedeiht.

Aus einem Fenster der Szeroka wuchten drei Männer eine sperrige Tafel: DAS LEBEN ZU ZEITEN DES SANATORIUMS ZUR TODESANZEIGE von heute 18 Uhr an 24 Stunden ununterbrochen geöffnet, Eintritt frei.
Der, den ich hier treffen soll, ist nicht da. "Am Abend, noch vor dem Konzert im Tempel." Auf der gegenüberliegenden Strassenseite steht eine Synagoge, links davon noch eine und am Kopf der Szeroka die alte Synagoge. Die Häuser an der Szeroka, des ganzen Kazimiers sind mehr und mehr verfallende Gemäuer, manche seit Kriegsende leer. Das ist schon Privatbesitz. Renoviert. Sticht weiss ab. 'Antiquariat & Galerie'. Wir gehen rein und wieder raus. Zur alten Synagoge, dran vorbei. Rechts liegt Trümmerland mit Grasbüscheln, frisch umzäunt. Dahinter stehen stehen gebliebene, bewohnte Mietblocks. Hinter der schweren Tür des ersten Blocks herrscht Halbdämmer. Ein Besoffener hangelt sich die Treppe hoch. Schaut uns entgeistert an. Aus den Fenstern im Hof hängt Wäsche. Vor der nächsten Tür steht ein kleiner Alter. "Bitteschön!" Als beträten wir ein Kirchenschiff. Die Wände sind makellos weiss, voller Gedenktafeln, Fotos, Bänder und Wimpel. Blumen stehen da. Hat er gemacht. "Wenigstens dem Eingang die Trostlosigkeit nehmen." Er ist der Hauswart. "Bitteschön!" Er zeigt uns sein persönliches Reich. "Bitteschön!" Das Schlafzimmer mit den bestickten Tüchern, oder ist es das Wohnzimmer. Ich denke an Devotionalien. Die Ecke, wo er kocht. Die grosse weisse Emailschüssel, die grosse weisse Emailkanne voll Wasser. Diese Stuben gibt es auf der ganzen Welt. Alles ist peinlich sauber. Er kümmert sich um die Bengel. Hält ein Gärtchen mit ihnen, mit Karnickel. Er steckt sich eine Zigarette an, sagt: "Mach Männchen." Steckt sie seinem Köter in die Schnauze. Lacht. Der Köter rührt sich nicht, die Zigarette zwischen den Lefzen, Männchen. Der Alte nimmt sie ihm ab, streichelt ihn, raucht sie zu Ende.

Die Strassen dahinter. Manufakturen: keine Kulissen. Wir gehen ins Café an der Ecke. Kaffee. Und für Wieska noch einen orangenen Sprudel. Die Tische sind braun gestrichen wie die untere Hälfte der Wände, dieses glimmende rötliche Braun. Die obere Hälfte der Wände ist ocker. Natürlich ist es ärmlich und die Bedienung nicht aufgeweckt mit strähnigem Haar und noch nicht so geschickt. Wieder zur alten Synagoge, entlang dem Gärtchen, den Karnickeln. Auf dem Pfad zwischen der alten Synagoge und dem Zaun um das ehemalige Trümmerland torkelt ein Paar. Er mehr als sie. Sie stützt sich mit beiden Händen an der Mauer der Synagoge, das fahle gedunsene Gesicht uns halb zugewandt zwischen den Armen. Als wir vorbei sind, schimpfen sie sich weiter aus. Halten sich einer am andern fest. Torkeln von Mauer zu Zaun. Schimpfen. Kotzen. Fegen mit dem Handrücken über die dreckigen Lippen. Das Heer der Besoffenen auf offener Strasse schwillt an.

Krakau und seine Juden. Das Kazimierz. Der Abtransport ins KZ. Die graue Serie, die in den vergangenen Monaten zum Thema Zusammentreibung entstanden ist, geht dran vorbei: am Angstschweiss, der Fassungslosigkeit, der Hoffnung in allem - worauf? -, den kleinen Gesten, dem Luftzug im Bauch, Stürzen so eigen, dem Druck der gelben Sterne, Zischen der Ziemer, den aufgesperrten, den zugepressten Augen ohne Feucht mehr: dem so Vordiehundegehen.

Ich will ins Literacka. Will diesen Hort der Ruhe, der leise geführten animierten Gespräche wieder sehen. Mich fröstelt. Die grünen abgesessenen Stühle, auf denen kaum jemand sitzt, grauen Gardinen mit braunen Wasserringen. Schale schlierige Luft. Ich kann diese Kittelschürzen nicht mehr ertragen. Wieska trinkt noch einen Cognac.

Nein, es ist kein Tisch mehr frei. Nein, auch später nicht. Das war damals das einzige Restaurant, wo man in dieser Stadt gepflegt und nicht ganz so verkrampft essen konnte. Wir gehen in ein neu eröffnetes italienisches Kellerrestaurant. Das Fleisch ist zäh.

Wieskas Mutter. Im Altersheim ist kein Platz frei, ganz abgesehen davon, dass das irrsinnig teuer ist. Für eine dauerhafte Krankenhausaufnahme ist sie nicht krank genug. "Irgendwann sagen sie, dass ich sie aufnehmen muss. Vielleicht in zehn Tagen schon."

"Wir restaurieren die Etagen, die jetzt was einbringen. In zwei, drei Jahren ist alles entweder wieder zusammengebrochen oder floriert." Teure Modegeschäfte, wo Grau herrschte.
"Davor liegen wir Roma. Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes schlagen wir Kreuze, strecken die Hand hin, singen unseren monotonen Bettelgesang!"
Die Marienkirche und der Altar von Veit Stoss werden nur noch gegen Bezahlung beleuchtet.
"Vor der Kirche lungern wir rechts und links: ein Spalier. Kleinkinder legen wir Frauen an unsere dreckigen Brüste, schubsen die grösseren unter Singsang und geschlagenen Kreuzen hin zu euch Passanten."
Die klammern sich an unsere Beine. Umkreisen uns, ihre Opfer, hautnah. Halten ein Stück Pappe hin: 'Bin Witwer mit drei kleine Kinder! Habe kein Geld zu Essen!'
Wieska und ich müssen lachen.
"Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Unter jedem Kreuz beugen wir das Haupt."
"Wir schlagen euch ab."
"Ziehst du die Börse, greifen wir dich an wie Piranhas."
"Wir schlagen euch ab."
"Gibst du nichts, verfluchen wir dich."
"Am Abend schlagen wir Bettlerbosse die Frauen. Wir Bosse, wir Zuhälter der Bettelei, wohnen in Hotels, in Häusern."
Unter dem Dreck, die grünen Flecken. Auch im Winter liegen sie da. "Liegen wir hier."
Manche machen einen guten Schnitt.
"Wir Bettler rücken auf. Werden aggressiv. Unsere Söhne sind die Diebe, die Zuhälter von morgen."
Dann schlagen sie die Frauen, die Mädchen, die jetzt an derselben Brust hängen wie sie.
"Wir können nicht lesen, unsere Kinder nicht und deren Kinder dann auch nicht. Wir wuchern in der Gosse."
Es gibt Stufen der Armut.
"Lustig ist das Zigeunerleben!", sangen wir früher.
"Was du uns hinwirfst, reicht gerade aus die Prügel am Abend zu vermindern, vielleicht."
In der Unterführung zum Bahnhof sitzt alle paar Meter ein mageres Kind. Schlägt Kreuze, beugt das Haupt, singt seinen Bettelgesang. Andere klauen.

Angeschlagene Schönheit, zermürbte Glieder, wunderschöne Frauen. Man schlendert. An allen Strassenecken, in allen Anlagen, vorm Bahnhof, überall bieten sie letzten Plunder feil. Geld! Geld! Geld! Es ist beinahe Abend. Wieska will eine Zahnbürste kaufen. Sie hat ihre Zahnbürste vergessen. An irgendeiner Bude kauft sie einfach eine Zahnbürste. Auch hier dieses karottenrote Haar. Auswurf stinkt. Die Rohre verrotten endgültig. Es gab zu lange keine Einweich-, keine Waschmittel. Man goss und giesst noch immer über alles Lysol. Der Wasserdruck ist nur gering.

"Nein, er ist nicht im Tempel, er ist..." "Nein, er ist im Tempel." "Nein, noch nicht. Nachher, nach dem Volksstück." Wir gehen rein. Nehmen Platz. Männer tragen Kippas. Manche legen ein Taschentuch auf den Kopf. Von einem der Ordner nehmen wir an, dass er es ist, den ich treffen soll. Jiddische Lieder, dann eine Oper nach Schulz; hier als Singspiel. Manchmal rührt der Chor, rührt der Sopran an jene Strassen. Die Schönheit der Stimmen kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich der Gesang weit ab vom Geschehen da befindet wie Tempel.

Zum alten Volksstück. Die Tür ist geschlossenen. Unsere Masse füllt den Vorgarten, quillt raus auf die Strasse. Alle sind wir im Besitz einer zum Einlass berechtigenden Karte. Der Saal ist schon voll. Niemand geht. Hinter uns fuchteln zwei mit ihren Karten: "Wir haben Karten für halb elf. Es ist schon halb elf. Warum lässt man uns nicht rein? Was ist los? Wir sind Geladene." Ich drehe mich um: "Wir haben alle für unsere Karten bezahlt, für diese eine Vorstellung. Alle warten wir auf Einlass." Ich drehe mich wieder um. Um mich herum platzen sie raus vor Lachen. Die Tür öffnet sich. Der, den wir für den halten, den ich treffen soll, steht da: "Goethe Institut? Ja?" Und noch ein paar dürfen rein. Auch Wieska und ich. Und noch zehn. Und noch fünf.

Ruf um Ruf, Schlag auf Schlag kreist das Mädchen, am Mund das Riesenhorn der Karpaten, kreist der Mann mit der grossen Trommel aus der Sage heraus. Schlag auf Schlag, Schritt für Schritt wirbelt der Trommler herum, heftiger, heftiger, löst sich vom Boden samt der Trommel, die er schlägt. Und es lässt sich nicht mehr mit Sicherheit feststellen, ob das zierliche Mädchen das riesige Horn, der Mann die Trommel oder das tönende Horn das Mädchen, die Trommel den Mann herumwirbelt. Wir ziehen die Köpfe ein. Halten den Atem inne. Klatschen, klatschen. Es gibt kein Bis. Benommen, weit weg noch, verlassen wir die Schul. Stehen da.

"Schulz hat seinen 'Messias' geschrieben, ich kann es beweisen", sagt die Frau, holt einen Stapel Papier aus der Tasche. Wieska schleift heran, was Schulz sagt. Es ist dunkel. "Man hat ihn nur nicht sorgfältig genug gelesen, seine Reihenfolge der Geschichten nicht beachtet." Die Frau ist penetrant. Ihre Aussprache feucht. "Jugoslawin." Es ist im Grunde unwichtig, ob er seinen 'Messias' geschrieben hat oder nicht, welchem Genre er unserer Ansicht nach frönte, welche Verbindungen und Besonderheiten von literaturwissenschaftlicher Warte aus gesehen werden können, wie seine Geschichten heissen, in welcher Reihenfolge sie geschrieben wurden, gebracht werden. Die unbarmherzige Kraft dessen, was von ihm vorliegt, katalysierte mein Leben. Ich fing an mich der angeordneten Nicht-Existenz meines Fühlens und Denkens zu entbinden, auszusagen. Bis weit auf meinem Zug durch jene Strassen, Häuser, Korridore ist mir nicht bewusst, dass Schulz Jude war. Erst als sie mich zum ersten Mal bitten über meine Radierungen aus dieser Begegnung zu berichten, dringt das zu mir durch. Es hat keine Konsequenzen für meine Wahrnehmung. Die zeichnende Hand weiss nichts von Kategorien, nichts von Schädelmessungen, nicht, ob sie in den Niederlanden, Polen, Russland, Deutschland, Israel ist. Finger ziehen Spuren nach, tasten ab, decken und nehmen auf.
Sie gibt mir ihre Telefonnummer, ihre Adresse. "Wenn ich nach Moskau und Lemberg wieder nach Krakau komme, rufe ich an." "Bestimmt?" "Ja."

Stockig schlägt's uns entgegen. Wir quetschen uns ins nachgestellte Leben jener Zeiten, ins Zimmer gleich rechts. Kerzen werfen wacklige Schatten. Auf dem Fussboden ohne Bohlen steht jetzt Hausrat. Liegen Lappen. Ammenzeug. Schulz' Bastard ist ein Schäferhund. Der Hof ist beleuchtet. Einer ist stoned. Der Rest sichtbar Statist oder Zuschauer. Vom Hof aus betreten wir Schulz' innerstes Reich mit Schreibtisch und skurrilen Funden, quetschen uns im Korridor an ihm vorbei. Bei Kerzenlicht, in dunklem Anzug, das Haar wild in der Stirn, liest er laut aus seinen Texten. Die Treppe nach oben ist schmal. Die Wände sind schimmlig. Über den Balkon, zum Hof raus, kommen wir in die Küche mit einer Frau mit Kaffeemühle zwischen den Schenkeln. Eine andere hantiert Töpfe, Deckel, Kellen. Ein Zimmer mit Lappen. Eine Nische, in der jemand verzerrt liegt, nachdrücklich schnarcht, sich räkelt, schnarcht. Noch eine Etage. Wieder ein Zimmer mit Lappen und Nähmaschine, Bändern, Schneiderpuppe. Überall Kerzen. Eine Schreibmaschine.
Diese Räume, die Menschen 1943 verlassen, die seitdem verlassen stehen, behaftet mit dem Atem der Ausscheidungen der Nächte aus Angst davor. Ich erzittere am Morgen schon, als wir kurz reinschauen dürfen, die Räume noch kahl sind.

Draussen in der Dunkelheit spielen sie jetzt auf, tanzen, reissen mit in den Kreis. "Schalom Aleichem!" Zu solchen Stunden sollten wir ohne Händebinder, ohne Regenschirme, ohne Fotoapparate gekommen sein. Wer ahnt schon, dass solche Stunde kommt. Das Jubilieren der Klarinette in Moll. Der Tanz dauert bis spät nach Mitternacht; vor der Polizeidienststelle des Bezirks.
Der Organisator möchte mich morgen früh, vor der historischen Führung sprechen. Wieska und ich ziehen auf unserem Zimmer noch eine Flasche auf.

 

Noch vor der historischen Führung begeben wir uns wieder in jenes Haus. Kalter Haschischqualm steht klitschig in den Zimmern, im Treppenhaus, im Hof. Der, der stoned ist, läuft noch immer von Mauer zu Mauer. Schulz zeichnet im Hof ein Portrait. Der, den er zeichnet, hält still. Die Frauen stehen müde in der Küche.

"Bitte", sagt der Organisator, "könnten Sie jenen veranlassen beim nächsten Festival anwesend zu sein? Ja, nach Moskau und Lemberg, dann sprechen wir miteinander." Ich gebe ihm meine Unterlagen, stosse wieder zu meiner Gruppe. Wir sind in Sprachräume eingeteilt. Zwei Holländer gehören zum selben Sprachraum wie ich. Sie fallen mir gestern abend schon auf. So laufen nur Holländer. Sie sind Teilnehmer des Symposiums über die Erhaltung kulturellen Erbes von Minderheiten. Sie tragen christliche Gesichter.
In unseren uns unbewussten Netzwerken aus kleinen Handbewegungen, Lächeln, der Art den Kopf zu halten, benutzten Stimmlagen undsoweiter offenbart sich unser unterschiedliche Umgang mit dem Leben.

Zeit muss hier ein anderes Medium sein, als sei sie nicht ihre, unwirklich. Sie schaffen sich untätig? nicht da und doch? ohne Teilnahme? bar hiesiger Zeit? Eine Waffe auch auf sich gerichtet. Sie wissen das, lächeln, halten die Köpfe schräg. Und immer das sich Bewegen in schleifender Ermüdung, als bröckelte die Zeit gegen Ende einer Bewegung ab, würde zähflüssig, erstarrte. Die Zeit fliesst weiter. Gesten, Versprechen, seit wann schon ohne Kommando, ohne Verband mehr, treiben in ihrem Strom. Nichts kann sie je mehr erreichen. Doppelzeit ermüdet
Schliesslich

Wieder essen wir in dem italienischen Restaurant. Wieder ist das Fleisch, das Wieska bestellt, zäh. Sie ruft den Ober, gibt das Fleisch zurück. "Hättest du das vor einem Jahr auch schon getan?" "Nein, noch nicht einmal vor zwei, drei Monaten." Sie geht in die Küche, sagt dem Koch, dass Steaks nicht vorgebraten werden dürften und dann, bei Bedarf, nur wieder aufgewärmt. Das Steak, das sie jetzt bekommt, ist akzeptabel. Sie bestellt noch eines. Das ist wieder zäher.

 

Warschau. 2 Uhr. Bahnhof Gdansk, nicht Zentral, wo das Auto steht. Der Taxifahrer verlangt für die Fahrt zum Zentralbahnhof das Doppelte des doppelten Nachttarifs.

Morgen fahre ich nach Moskau. Ich zeichne, wasche, kaufe ein Kilo Krakauer Wurst, vertraue W's Anrufbeantworter die Ankunftszeit meines Zuges an, ordne meine Sachen um, sortiere aus, was ich da nicht brauche. Vereinbare Gespräche für die Zeit nach Moskau und Lemberg. "Seien Sie tapfer, Drohobycz ist heruntergekommen."

13 Uhr 30. Ein Interview im Haus des Polnischen Rundfunks.
"Die eisernen Fangnetze in den Zwischenetagen der Treppenschächte?"
"Keine Prävention, aber, aus welcher Etage auch immer, an seinem Sturz stirbt in diesem Haus niemand mehr. Anfang der achtziger Jahre stürzen sich die ersten in die Schächte. Schulz, und es werden weitere Ausstellungen kommen?"
"Wir sind hier. So sieht das hier jetzt aus. Die eingezogenen Fangnetze. Die kreischenden Püppchen zwischen heruntergekommenen Fronten: 'Kauf auch du mich!' 'Rechtens der Freiheit', sagt der Mensch. Wessen? Wie sieht die aus? Und ausserhalb seiner Freiheitszone? Was biete ich dem anderen und damit mir an? Was strahlt, was ich anbiete, aus? Der Mensch will dazugehören, will Halt, bestätigt, geliebt sein, ausschliesslich er." Lächelt, will Macht und wenn schon nicht über das eigene Leben, dann über das anderer. Will Ewigkeit. Jeder Augenblick ist ewigkeitsträchtig.
Diese sich windende, sich trocken die Hände vor der Brust waschende, den Kopf schräg haltende, lächelnde Frau. Forsch wippend schreitet sie aus, hält sich zurück. Die vor mir die Treppe hinanhuscht, über die Fangnetze spricht, mit dem weit vorgebeugten Oberkörper das Gesagte bekräftigend, untertänigst um Vergebung bittet. Ihre Lippen sind schmal. Alles windet sich an ihr unter darbendem Lächeln, das zu lächelnd die Lippen weiter schmälert. Es bleibt der Körper Körper, das Gesicht starr. Sie klammert sich an das Pappdöschen Limonade: "Es lässt der Deutsche mich warten, mich, eine Frau, die Ärmere: Polen." Der Rock reicht ihr bis über die Knie.

Wieder stehe ich fünfzehn Etagen allein in dem Fahrstuhl. Ob ich, bitteschön, zwei Briefe für Freunde in Moskau und ein paar Süssigkeiten für einen von ihnen mitnehmen wolle. "Wann ist die Lesung?" "Ein bisschen Obst?"

Ich kaufe Wein für heute Abend. Ich kann hier in ein Geschäft gehen, Wein kaufen, ein ganzes Kilo Wurst! In einem Winkel der belebten Ladenstrasse zieht sich ein grauhaariger magerer Mann aus. Strümpfe, Hose. Das Hemd hängt er auf einen Bügel. Streicht alles schön glatt, hängt den Bügel an einen Nagel in der kahlen Betonwand, holt seinen Schwanz aus der Unterhose, pinkelt in die Ecke. Dann legt er sich auf ein paar ausgebreitete Zeitungen, schläft ein.

Im 'Ambassador', schräg gegenüber der amerikanischen Botschaft warte ich auf ihn. Hier warte ich immer auf ihn. In einem der Stockwerke über diesem Restaurant, durch irgendeinen der Hintereingänge, wohnt er. Ende 1981, kurz bevor das Militär die Macht ergreift und nur noch Schweigen aus Polen berichtet, gehört er zu denen, die mir für die Darlegung meiner Begegnung mit Schulz den Preis zuerkennen. Er reibt sich die kurzfingrigen Hände. Sie können kaum eine die andere mehr umfassen. Der schwarze Punkt auf seiner Unterlippe. Der letzte Rest Gelassenheit schwindet ihm. Wundes Tier, deine dunkle, nach oben hin rissige Stimme, fixen dunklen Augen. Ich habe meinen Tee schon. Sein Hals scheint geschwollen.
"Alles hat sich verändert, Sabina. Ich war nie Kommunist. Vieles, was ich geschrieben habe, ist nie verlegt worden. Auf einmal müssen wir alles selbst und voll bezahlen. Kindergarten, Altersheim, Urlaub. Die Mieten steigen. Die Mütter müssen zuhause bleiben. Oder die Omas. R fährt jeden Tag mit dem Fahrrad raus zu unserer Tochter. Mit Suppe für das Enkeltöchterchen. Nein, sie hat seitdem nicht weiter an dem Wandteppich gearbeitet. Mein letztes Buch, 'Die Strasse meiner Kindheit', ist das! Buch des Monats Juli. Am 18. Juli verleihen sie mir im Buchhändlerclub den Preis. Die Witwe des polnischen Schriftstellers, die seit Jahren in New York wohnt, in deren Warschauer Wohnung ich arbeiten darf, Ende bis Anfang des Sommers..."
Als nach jener Zeit des Schweigens ihr Papst kommt, im Juni 1983, werden die Preisträger eingeladen, zeigt er mir da all seine Nachrufe auf Kollegen. Als polnischer Jude eine Podiumsdiskussion in Deutschland: das Leben damals, das Leben jetzt.
"Mit dem Buch, Sabina! Du bist...", er lacht. So kennen wir uns.
"Unsere Tochter ist gerade wieder zurückgekommen - Amsterdam, kurz raus -, unser Enkeltöchterchen gerade wieder von uns weg. Wir hoffen uns durch von Aussicht zu Aussicht. Die meisten verfliegen. Andere rücken wir an ihre Stelle."
Der Sohn will mit Frau und Kind nach Israel. Vielleicht auch die Tochter mit der Tochter. Er und R bleiben.
Die Doktrin, die R damals zu der ihren macht, sich ihr mit Haut und Haar verschreibt. Stalins Sturz. Samarkand. Da treffen sie sich. Im Internierungslager. Heiraten. "Ich schlage die letzten Schlachten auf sowjetischer Seite mit. An der Oder. Ich will nach Warschau. 'Geh nicht hin', sagen sie mir, 'deine Stadt existiert nicht mehr. Deine Menschen auch nicht.' Ich gehe hin. Vor Elend begebe ich mich auf die östliche Seite der Weichsel. Mir ist schlecht. Der Rücken der Frau da... meine Mutter! Ich war ein Mann geworden, wie hätte sie mich erkennen sollen. Das ist nichts für Romane."

Am Abend kommt die Bildhauerin mit dem grauen grossen Gesicht. Sie will die Zeichnungen sehen. Ich lege sie auf dem Fussboden aus. "Bitte", fleht sie. "Flehe nicht." Ich gebe ihr die ersten Umrisse von Wieska. Dieser Wieska, die sich morgens aus dem Bett brüllt, räkelt, in der Küche rumhantiert, duscht, dass das Bad danach trieft, sich anzieht, das Gesicht herrichtet, die Haare, den Metzger abfertigt, die Hände in die Taille stemmt: "So!" Sie schimpft nicht am Telefon oder wenn sie mit anderen spricht.
Der Leib mit dem grauen grossen Gesicht kniet vor mir nieder. "Nicht!" Ergreift meine Hände.

 

15 Uhr 05, Bahnhof Gdansk. Wieska kommt mit ins Abteil. "Hast du die Wurst eingepackt? Das kann jetzt deine letzte Rettung da sein. In Russland achten sie beim Verteilen der Schlafwagenabteile nicht auf die Trennung der Geschlechter. Die Reihenfolge des Kartenkaufs bestimmt das Bett."
Wir umarmen uns. Auf dem Gleis gegenüber läuft ein Zug aus Leningrad ein. Der Inhalt all der Taschen, Kartons, Koffer, Bündel wird heute noch vorm Kulturpalast liegen, sich über die Stadt verteilen, an allen Strassenecken feilgeboten werden. Der Russenmarkt durchsetzt Stadt und Land.
Als der Zug schon anrückt, kommt noch eine Polin zu mir ins Abteil. Schlank, nervös, freundlich, gut gekleidet, blond. Ich denke an die in ihren Gelenken dauernd Einknickende auf meiner ersten Polenreise. Auch diese trägt Stöckelschuhe, die so hoch sind, dass sie jeden Schwung des Körpers zu einer Farce verkümmern lassen. Wieder dieses sich Winden. Wirklich miteinander sprechen, können wir nicht. Ich verstehe eine winzige Kleinigkeit von dem, was sie sagt. Sie nichts von dem, was ich sage. Sie hat Fotos von ihren Kindern bei sich. Ich nicht. Sie spricht mit den Männern draussen auf dem Gang, raucht mit ihnen, lacht mit ihnen.

Die Grenze. Der polnische Zöllner nimmt mir das Devisenformular ab. "Transit." Wir bekommen jetzt sowjetische Formulare. "Berlin?" Er gibt mir eines auf Deutsch. Wir bekommen unsere Pässe, unsere Visa zurück. Müssen das Abteil verlassen. Sie klappen die Bänke hoch. Auf einer Leiter stehend, durchleuchtet einer der Zöllner die oberen Nischen, klopft alles ab. Vor vier Jahren erfahre ich das noch an der deutsch/polnischen Grenze und auch an der deutsch/deutschen. Wir dürfen wieder rein. Noch eine Uniformierte: "Zitrusfrüchte?" Die Polin zeigt ihre vier Apfelsinen, ich meine zwei. Das ist zulässig. Der Zug fährt in eine Halle ein, wird im ganzen hoch gedrückt, die Spurbreite verstellt.


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