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UNTERWEGS NACH DER WENDE

ein Brief an Jan Kassies

© Sabine Vess

 

Links das Grau, rechts der Glanz oder umgekehrt, je nachdem wie du stehst. Könnten Steine bluten, die Narbe der abgebrochenen Mauer in Berlin wäre rot, dampfte. Wer sie betritt, ist ein Fremder.
Die Wachttürme an den Eingängen, den Ausgängen der Zone stehen leer. Werden abgebrochen, verwüstet; Wut, Vandalismus. Trabis stinken. Die Kontrollposten muten gespenstisch an. Trocknen mir den Mund aus. Noch immer. Spannen diesen Film um mich. Das Wort Zollkontrolle auf den Schildern ist durchgekreuzt.
Anschauungen, die anzunehmen und auszutragen, Rahmen, die zu stellen unser Europa uns ermöglicht hatte, stürzen ein.
"Die Gesichter haben sich verändert", sage ich dir, "da und hier." "Auch hier", fragst du. "Ja", sage ich und dass ich losmüsse. Ich will die Menschen vor Ort zeichnen, bevor wieder Anschauungen und Ausrichtungen sich tonangebend in ihre klaffenden Wunden einnisten, ihre Gesichter sich wieder glatt verschliessen.

 

Ende Mai 1991, im zweiten Jahr nach dem Zerschlagen der Mauer, dem Zerreissen des Eisernen Vorhangs, ziehe ich los.
Ich fahre direkt nach Warschau. 1978 erkennt man da meine ersten Zeichnungen anhand der Texte von Bruno Schulz und ich den Geschmack, den seine 'Zimtläden', seine 'Krokodilgasse' sein 'Sanatorium zur Todesanzeige' mir besorgt hatten. Im Spätsommer 1979, auf meiner ersten Reise allein, fange ich da, auf ihre Bitte hin, an Menschen vor Ort zu zeichnen, mir Notizen zu machen. Da geben sie mir 1983 den Anstoss zu meinem Theater.
Von Warschau aus mache ich einen Abstecher nach Moskau und L'wiw. Als ich Warschau schliesslich verlasse, ziehe ich nach Westen, betrete, von Osten kommend, die ehemalige DDR, streife durch Berlin, wo ich im Krieg geboren bin, und besuche Stationen von danach in der alten Bundesrepublik.
Ende August bin ich wieder in den Niederlanden und dann, vom 10. November an, einen Monat in Israel, dessen Menschen seit dem Zerreissen des Vorhangs ihres Tempels das Denken und Ordnen Europas wesentlich mitprägen, die die Prägung Europas, bis hin zum Ural, nach nahezu 2000 Jahren, wieder mit sich in die Wüste schaffen.

 

Wo entlang, wo hindurch schickt uns, was geschieht, lassen wir uns schicken, schicken wir uns. Unter unseren Versprechen, Beteuerungen, Schwüren, dem Drang zum Platz an der Sonne und 'Wachset und mehret Euch!'. Kaum heraus aus der Herrschaft welcher Verhältnisse geraten, geraten wir in die Fänge welcher? Wozu lassen wir uns hinreissen, erklären uns bereit. Was tun wir, der andere, ich.

 

Wie viele Tagereisen schreibe ich dir nicht schon auf, seit ich im Haus bin; dann Zeitlose, geboren aus Zeit, wie Spuren in Gesichtern. "Du kommst von weit her", sagst du.

"Warum schaffst du dein Theater nicht hier", fragtest du mich. "Denkst du, dass du das schaffst? Du brauchst hier nichts zu beweisen." Und unter euren Augen entstehen diese Menschen nach Menschen, fleckig weiss-transparente, in ihrer Bewegung Erstarrte, von denen kaum einer sich auf den Beinen halten kann. Sie sind sehr gross. Werfen körperhafte Schatten. Ich hänge sie so auf, dass die Füsse derer mit Füssen gerade den Boden erreichen, kleide mich im Stoff ihrer Haut, schminke mich weiss, bevor ich mich zu ihnen begebe. Nichts soll uns unterscheiden. Mein Schatten ist flach. Ich flüstere, schreie sie an, höre mich lachen, drehe sie im Kreis herum, mich unter ihnen im Kreis herum.

 

 

Am Montag, den 27. Mai 1991, bringt Victor mich in Zaltbommel zum Bahnhof. In Utrecht winkt Anastasia meinem Zug nach. Zum ersten Mal seit dem Fall der Mauer, dem Zerreissen des Eisernen Vorhangs fahre ich diese Strecke wieder. Ich fange meine Reise morgens an. Fahre weiter als ich je war.

Von Deutschland/Grenze bis Frankfurt an der Oder gibt es keine Kontrolle mehr, keine Hand, die meinen Pass an sich reisst, kein gepanzertes Gesicht, das verbissen darin liest, keine gierigen Finger, die nachdrücklich darin blättern, und immer zu zweit, keine Angst mehr, dass irgend etwas nicht in Ordnung ist, schief steht, auch wenn ich weiss, dass alles in Ordnung ist, ich die Papiere zum soundsovielten letzten Mal heraushole, wieder einstecke, dass mein Lächeln zu lächelnd ist, der Bissen in meinem Mund von meiner Unehrerbietigkeit zeugt, keinen Stempel, kein an der Grenze erkauftes Durchgangsrecht mehr.

"Dieses Transitvisum berechtigt VESZ, Sabine Angela, 31.7.1940, NL zur Fahrt in dem für die unverzügliche Durchreise benötigten Zeitraum..." Das ist Vergangenheit.
"Wolen Sie Visum oder wolen Sie nicht Visum. Wenn Sie wolen Visum, Freund muss gehen zu Visumbüro in seine Stadt. Bei Visumbüro er muss holen grines Formular. Ja? Er Ihnen schiecken grines Formular. Sie komen mit grines Formular zu unser Büro. Innerhalb vierzehn Tage Sie bekomen Visum." "Bitte..." "Wolen Sie Visum..." Das ist Gegenwart.

"Die Sowjetunion fängt in ihrem Konsulat an", sage ich dir. Vor vier Jahren noch sage ich das zum soundsovielten Mal von Polen. Die DDR war immer nur Transitland, bis auf eine Nacht im Hotel Berlin am Alexanderplatz im September 1979, am Ende meiner ersten Polenreise - auch das fiel offiziell unter Transit - und meine paar Abstecher von West- nach Ostberlin, geschleust durch beklemmende Gänge und Wartesäle und Kabinen. Die DDR existiert nicht mehr. Für Polen brauche ich kein Visum mehr.

Ich wollte bei Przemysl über die Grenze in die Sowjetunion wie mein Vater 1941 (vor Charkow fror ihm ein Fuss kaputt), das Lazarett sehen, wenigstens die Stadt, in der das Lazarett stand, diesen kalten Koloss einmal betreten haben. Von dem Mann, der seinerzeit im Prozess gegen den während der Nazizeit 'verkehrten' Niederländer Menten für die Niederlande dolmetscht, den ich nicht kenne, dessen Name mir jemand gibt, den ich auch nicht kenne, bekomme ich die Adresse und Telefonnummer des Mannes, der in jenem Prozess für die Ukraine dolmetscht. J aus L'wiw. Anfang Februar schreibe ich ihm. Er lässt mir umgehend eine geschäftliche Einladung zukommen. Diese Einladung akzeptiert das sowjetische Konsulat in Den Haag nicht. Ich rufe ihn an. Rufe ihn wieder an. "Ich stehe jeden Tag Schlange", sagt er, "das kann noch dauern, alle wollen raus."

Dass ich jetzt vielleicht via Moskau hinkomme, verdanke ich W. Aufgrund eines Briefes eines dir bekannten Mannes räumen wir W im Spätsommer 1988, gut einem Jahr vor dem Zerschlagen der Mauer, für ein paar Wochen ein Zimmer im Institut ein. Er ist Theaterkritiker, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Moskauer Universität. Er übersetzt amerikanische Theaterstücke. Wir sprechen viel miteinander. "Du verstehst", sagt er. Er will zur Premiere meines 'Karnevals' wiederkommen. Will wiederkommen. Will in Moskau darüber berichten, sich dafür einsetzen, dass... "Moskau, Leningrad..." Du lädst ihn offiziell ein. Ohne Einladung, kein Kommen. Er kommt zur letzten Vorstellung. Berichtet Monate danach (immer wieder ist da, kann nicht, ist, "Sabien!") in rauschenden, kaum enthedderbaren Wortgefügen, in dieser Schrift, die hier doch kaum jemand kennt. "Nein", sagt er am Telefon, "korrigieren ist nicht mehr möglich." Schreibt, dass man gut hinschauen, gut hinhören müsse. Ich sei eine Heldin.

Am liebsten reiste ich ohne Gepäck. Allein schon die Zeichenblöcke wiegen je ein Kilo. Fünf nehme ich mit und drei liegen schon bei Barbara in Berlin. Sie wollte weit genug weg von Zuhause, ging ein halbes Jahr nach dem Zerschlagen der Mauer hin. Der Kaffee. Der Tee. Tuben Waschmittel. Seife. Kosmetika für wenigstens zwei Monate. Papiertaschentücher. Der Edamer für W, denn seit zwei Jahren kann man in Moskau keinen Käse mehr kaufen. Das Parfüm, das er so liebt, und das, wenn er schon längst weg ist, noch immer am Hörer klebt. Die Geschenke. 'Das Phänomen Bruno Schulz', meine Lesung über dieses Menschen-Zeichnen, auf das ich mich damals anhand seiner Texte bewusst einlasse, und die logischen Folgen solch Sehens und die seines Eingeständnisses. Ob ich bei meinem jetzigen Besuch an Warschau in einem nach der Wende gegründeten Kulturkreis darüber sprechen, für ein nach der Wende gegründetes Blatt, anlässlich seines hundertsten Geburtstags und des fünfzigsten Jahrestages seiner Schlachtung (im nächsten Jahr), darüber schreiben, über Beiträge zu diesen Jahrestagen nachdenken wolle. "Es ist wichtig, bitte! Was bedeutet dir Schulz? Was ergeben deine Jahre mit ihm?"

Wo ich sie auffinde, sind die Menschen, der Menschen Bewegungen, gezeichnet von ihrer Blösse, ihrem nackten Kampf an äusserster Grenze, dem Belag ihrer Stimmen. Die Schädel sind kahl. Eine Locke, eine Strähne, ein Ansatz von Ohr. Manchmal ein Band, der Saum eines Rockes. Sie bleiben stecken. Geschlechter glühen Gehirne aus, Gehirne Geschlechter. Lächele! Die Haut ist zerfetzt, besudelt, transparent, ledern. Stille, Kreischen, verstärkt, gebrochen, kreischen zurück, auch die Stillen. Manches, was sich unter meinen Augen zusammenzieht, decke ich wieder ab, kratze, streiche es aus, halte mir die Ohren zu.
Mit welchen Mauern, Mauern vor Mauern sichern wir uns unsere Stätten ab, richten uns jubelnd in deren Schatten, deren Ausstrahlung schon, auf und zugrunde, richten, morden.
Lauterkeit, schrieb ich dir, immer wieder von neuem muss ich mich zu ihr bekennen wollen, bis hin in meine geringste, meine letztgesetzte Spur. Kunst geschieht und immer erst an äusserster Grenze. Im täglichen Leben ist das ungleich schwerer. Beim Lesen, beim Schauen nicht schon Wertschätzungen zu verfallen, ist nicht leicht. Leben und Kunst sind keine voneinander zu scheidenden oder unabhängigen Einheiten. Kunst ist nicht etwas, das wir uns gönnen könnten oder sollten, sie ist der andere Pass, Passbrief. Es gibt keine Sicherheiten. Dauernd verlagert sich, verwest, wovon ich ausgehen kann, muss, wo und womit ich passieren kann, muss, bis über die Grenzen des noch Erkennens hinaus. Verändern sich Geruch, Geschmack.
Kunst schmeckt.

Ich packe ein, was ich über meinen Prozess geschrieben habe, und Fotos meiner Arbeiten seit dem Ende meiner Schulz direkt verbundenen Zeit. Das erspart Erklärungen und beugt Einordnung aufgrund falscher Vorstellungen vor.

"Muss ich Klopapier mitbringen", frage ich Wieska, bei der ich diesmal in Warschau wohne. "Wir haben Klopapier. Alles hat sich geändert. Es ist unglaublich!" Das sagt mir ein anderer Freund von da auch, als ich ihn kurz vor der Reise noch anrufe. Mitte letzten Septembers suchen er, seine Frau und ihr Sohn mich im Institut auf. Am nächsten Tag mussten sie zurück nach Warschau. Es gab noch kein Klopapier, nicht immer. Sie brauchten noch ein Visum.

Die Studentin, die in Amersfoort mir gegenüber Platz nimmt, frisst hintereinander 'Spekki's (pastellfarbenes zäh klebriges Schaumzuckerzeug). Der Pensionierte, der seit Kriegsende an der niederländischen Grenze wohnt, besucht seinen Schulfreund in Frankfurt an der Oder. Ich vergesse das Gespräch. Er erzählt auch noch einen typischen Witz, den ich schon kenne. Ich weiss nicht mehr welchen. Und er schaut von unter dem über die Schultern gezogenen Rücken hervor, ob auch gelacht wird.
In Magdeburg hält der Zug. Menschen steigen aus und ein. Ich sehe keine Ostfarben mehr.

 

Berlin. Bahnhof Zoo. Barbara! Wir gehen ins Bahnhofsrestaurant. Das ist ehemaliges DDR-Hoheitsgebiet. Diese Stimmen und Bewegungen aus zu Panzerhemden und Visieren gewordenem Fleisch und Blut, noch immer, in weinroten Westen. "Ja." Sie kommen an die Tische. Nehmen Bestellungen auf. Ich starre die Frau - unsere Tochter - an. Sie stellen die Teller mit Essen, die Gläser hin. "Ja." Kaffee trinken wir hier nicht mehr, fahren mit der 100 zum Alexanderplatz und weiter mit der S-Bahn zum Hauptbahnhof. Ganze Gelände, die noch verschüttet scheinen. Kaputtes Glas, Bohlen, Presslufthämmer. Der Bahnhof wird zugänglich gemacht. Wir haben noch Zeit. Schleppen meine Sachen zum Bahnhofscafé. Schlagen uns durch die schweren purpurnen Plüschvorhänge gleich hinter der Tür. Die weissen Polyestertische und -stühle. Die Theke mitten in diesem - Unraum. Nicht viele sitzen da. Das stockige Licht. Die Bedienung hängt an der Theke, schwatzt, die Hintern nach hinten gestreckt. Kommt nicht. Ich stehe auf. Gehe zu ihnen. "Bitte." "Ja." Zu Zeiten der DDR hätte ich das nicht getan.
Wir betreten die Szene, sind kurz Teil von ihr, verlassen sie.

Längst vorbei dem Klo stinkt der polnische Zug, unter reichlich gebrauchtem Lysol, noch immer nach Urin. Noch ein junger Amerikaner kommt ins Abteil. Er will in Torun ein Mädchen besuchen. Ist voller Bier. Hat Freundschaft getrunken. Erst West, dann Ost.

Frankfurt an der Oder. Der Mann, der seinen Schulfreund besucht, steigt aus. Sie klopfen sich auf die Schultern.


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