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Mein Inneres ist eine grosse Wunde. Der rote Schlamm kocht in mir. Ich will, dass der andere mich bemerkt, mich berührt, ergreift, nicht lockerlässt, mich unter sich zerrt, ich nicht wegrennen kann; dass er wie ein Wahnsinniger in mich kommt, mich bricht, mir den Todesstoss versetzt, der Schlamm aus mir flutet.
Ich habe Angst vor dem Würgegriff des anderen. Angst, dass die Schlammflut aus mir mich überspült, mich mitreisst, ich sie nicht formen kann, ich habe kein Konzept, ich mit Bruchstücken getrockneten Zeugs in meinen Händen hilflos dasitze, nichts von mir übrigbleibt. Angst, dass der andere nicht weiter mitgehen kann, ich allein weiter muss. Die neue Leere mir die Sprache verschlägt.
Es ist kalt, die Kälte dringt in mich ein, erfasst meine Knochen. In mir, die Wunde. Ich habe Angst, dass die Kälte mich tötet, irgendwann, bei lebendigem Leib, nur noch Kälte in mir ist. Ich verlasse das Haus, laufe durch die Strassen. Ein Blick, eine flüchtige Berührung. Siedend bricht sich der Schlamm an der Haut. Ich gehe mit ihm.
Morgen sitze ich wieder in Kälte. Einmal klapperte ich die ganze Nacht, dass das Bett tanzte.
Jedes Mal, wenn ich ein weisses Papier vor mir habe, hoffe ich einen Fehler, einen Fleck zu finden. Dieser erste Strich! immer laufe ich davor weg. Verrückt muss ich sein diesen ersten Strich zu setzen.

Diese Gesichter! Wie gut, dass die Haut nicht wirklich zerreisst, der blutige Brei nicht wirklich heraus quillt. Was halten sie so krampfhaft fest? Was wollen sie so erhalten?

Ich schlafe. Plötzlich fühle ich, wie eine Hand, ich glaube meine eigene, die Haut von meinem Gesicht reisst. Es tut wahnsinnig weh. Im Halbschlaf sehe ich diesen Fetzen Haut, mein Gesicht, über meinem linken Arm hängen. Mit der Rechten rühre ich in dem warmen roten Schlamm. Es ist nicht unangenehm.

Es ist schrecklich ermüdend. Ich muss durch Polen, die Menschen, durch dich, mich, meine Panzer hindurch, nicht stecken bleiben, nicht überschreiten. Früher dachte ich, ich müsste meine Grenzen überschreiten, überspielen. Das ist nicht so. Ich muss sie durchbrechen, mich durch euch hindurch gebären, euch von mir herunterreissen, mir euer Blut und später eure Asche abwaschen. Menschenasche ist fett!
Durch mich sind schon richtige Menschen gekommen, die Urschreie die ich dabei ausstiess, lassen mich nicht mehr los.
Nie wollte ich jemandem wehtun, nie, dass jemand sich an mir stiesse. Ich werde wehtun.

Beim Anschauen meiner Zeichnungen fragt deine Schwägerin ob ich Menschen immer so sähe.
Ich sehe in Masken, in Larven. Kann vor, in der Larve, auch der schönsten, nicht verharren. Nehme sie wieder zur Hand.

Beim allerersten Blick spüre ich die Grenzen zwischen dem anderen und mir, spüre wie tief wir ineinander fallen können, wo unsere Panzer aufeinanderprallen. Erst an der Grenze wissen wir, ob wir sie füreinander öffnen können. Der Mensch kann seine Grenzen öffnen, sie verlegen, für den anderen, für sich, und errungene Öffnungen offen halten.

Du fielst durch meine Augen. Ich atmete dich. Sah, spürte deinen Panzer, deine Angst: Angst vor dem Zugriff der anderen. "Es ist schwer, die Hand des anderen zu berühren", sagte ich. Du nicktest.
Wir sassen da, hielten uns an unseren Tassen fest. "Sie haben Angst", sagte ich. "Ja", sagtest du, "immer, vor jedem."
Und dann sagtest du: "Schreibe deutsch, wenn du mir schreibst." Siebzehn Jahre lang hatte ich meine Sprache verwahrlost, siebzehn Jahre lang hatte ich sie kaum noch gesprochen, nicht mehr geschrieben.

Du kannst dich nicht mehr so gerade halten. Dein Rücken krümmt sich. Welche Last schleppst du mit dir herum. Oder sind es die Hexen, die dir im Nacken sitzen. Du härtest deinen Panzer, auf dass die Last nicht in dich dringe, der Panzer und die rote Knospe keinen Schaden erlitten.
Dein Schuldgefühl hast du nicht abstreifen können. Welche Schuld? Dass du nur Jan bist? Jan, der mit blosser Hand Fische fängt? Das aus dir Herausgehen, das Durchbrechen deiner so streng bewachten Grenzen, deines Panzers lockt dich immer wieder. Immer wieder stellst du dir vor, wie es jenseits sein könnte, wohin deine Gefühle dich gebracht hätten, hättest du ihnen freien Lauf gelassen, lockertest du die Zügel. Du schreibst es auf, immer wieder. Immer wieder erweckt es wollüstige Übelkeit in dir. Von rachsüchtiger Freude sprichst du. Immer wieder tust du es, überschreitest, brichst nicht durch. Beim Überschreiten der Grenze wird der eigene Panzer nicht durchbrochen. Das Leben im Jenseits prallt an dir ab, kann nicht in dich eindringen und du nicht in das Leben da. Du bleibst in deinen Grenzen, deinem heiligen Käfig. Du hingst ihn ins Nichts zwischen Himmel und Erde, schriebst du mir, damit dein freier Geist schuldlos schüfe. Schmückst ihn mit den Worten "schöner, weil schwieriger."
Panzer gehorchen eigenen Gesetzen. Schliessen sich, umschliessen den Schützling immer fester. Deine Knochen beugen sich. Der Panzer erstickt dich, lähmt deine Bewegungen. Du kannst ihn nicht mehr sprengen? Ein versteinerter Embryo trägt man dich zu Grabe?
Mit deinem neuen Roman widersetzt du dich dem eisernen Griff deines Käfigs. Noch überschreitest du deine Grenzen. Aber in Gedanken löst du dich von deinen Vorurteilen, deinen Verboten: weisse benehmende, oft bizarre Pracht; Gottesworte, Götter aus kaltem bitterem Atem von Ängsten, der sich erbarmungslos auf alles niederschlägt, alles überkrustet, sich kalt und klamm um Keime von Gefühlen, Bewegungen, Gedanken legt. Du durchbrichst dein Nicht, lässt das Leben jenseits in dich eindringen, dringst ein in das Leben. Welche Befreiung! Es presst sich aus dir heraus. Welche Belohnung! Du findest es nicht fies! Wie von Sinnen suhlst du dich in der Masse, die da siedend aus dir herausschleudert, auf dich niederprasselt, verkrustet.
Das Leben da könnte anders sein, als du bisher gedacht hast. Deine Sicherheiten, deine Ordnung sind nicht mehr absolut. Wie nahe du dich an deine Grenzen herangewagt hast. Du könntest sie berühren, diese dünne durchsichtige Membrane. In Gedanken identifizierst du dich mit der anderen Seite. Dann gehst du auf die Anhöhe des Dichters, wirfst Feuerkugeln auf deine Geburtsstadt. Die Erde, aus der du bist, legst du in Asche. Mitten in der Nacht, wenn alles schläft. Warum sagst du nicht, wie verwundbar du bist? Dass du Angst hast durchzubrechen, Angst hast zu fallen (nicht, zu fliegen), zu ertrinken, zu zerschellen. "... wie ein Insekt, das Angst vor dem Sturm hat."
Warum zeigst du nicht beides, deine Gedankenwelt und deine Wirklichkeit, so wie sie einander gegenüber stehen?
Welche Kämpfe wüten an deinen Grenzen? Wo schrickst du zurück? Wovor? Kehrst um. Reisst dich zurück. Wie breit ist der Streifen Niemandsland zwischen deinem Diesseits und deinem Jenseits? Niemandsland, weil es da nichts gibt, weil die Kämpfe da so blutig sind, dass du sie dir und den anderen nicht zeigen willst? Niemandsland, weil du Angst hast, dass deine ungeheure Kraft dich unversehens doch durchstossen lässt?
Als ich zum ersten Mal bei dir war, neben dir sass, du den Stein festhieltest, wollte ich deine Hand berühren. Es gab nur deine Hand. Eine unsichtbare Mauer liess es nicht zu.

Wir gehen die Treppe hinunter. Entsetzliche Gewalt überkommt uns. Unsere Gesichter zerreissen. Epileptikern gleich stürzen wir übereinander zu Boden. Wie lange wir so daliegen? Epileptiker wissen es auch nie.
Du kommst zu mir. Ich will dich streicheln. Dein Brustkorb ist so zerbrechlich. Durch die bläulich-milchige Haut sehe ich die Bewegung deiner Rippen. Meine Hände könnten ihn zerknautschen. Die geringste Berührung zerstörte ihn. Ich spüre die Asche. Dein Gesicht ist vollkommen entspannt. Du sagst beinahe flüsternd: "Sei vorsichtig mit mir." Und etwas von Auschwitz und Lungen.
Immer diese Gesichte!
Seit jenem ersten Blick bist du Teil meines Seins. Sage ich deinen Namen wieder und wieder. Ich liebe dich, Jan, so wie du bist. Ich sage es zum ersten Mal in meiner eigenen Sprache. Ich muss durch dich hindurch wie der Zug durch mich. Es ist ein grosses Glück für mich. Ich brauche nichts zu verbergen, nichts im Voraus zu verteidigen, nichts zu erklären. Ich weiss, dass ich dir dabei wehtue.

Wir laufen durch Sanok, die Treppe hinunter, zum Haus deiner Mutter. Über den Vater sprichst du eigentlich nie. "Da oben auf dem Heuboden haben wir Doktor gespielt", sagst du. Wir laufen über die Brücke, auf der die Alten den Jungen Geschichten erzählten, am Haus des Kinderlockers vorbei.

Jedes Mal, wenn wir von der Schule kamen, setzten wir uns neben ihn auf die Bank. Er hatte sanfte braune Augen, dunkles Haar, einen Goldzahn, links oben, lächelte, zeigte uns Fotos. Er schaute uns zu, wenn wir vergessen im Sandkasten spielten. Immer lächelte er.
Der Berg war zu steil, ich musste mein Fahrrad immer hochschieben. Als ich absteigen musste, stand er da. Ich freute mich. Er kam auf mich zu, streichelte mich und fragte: "Willst du sehen Pullermatz?" Ich sagte: "Nein." Wir lächelten, das Blut stieg mir ins Gesicht. Ich ging nach Hause. Nie hatte ich Angst vor ihm, nie tat er mir etwas.
Als ich zuhause davon erzählte, sagten sie: "Der gehört ins Gefängnis." Ich musste meinem grossen Bruder zeigen, wo ich ihn gesehen hatte. Ich durfte diesen Weg nicht mehr allein fahren. Eine Verräterin fühlte ich mich. War verwirrt. Zehn Jahre alt.

Ihr Vater streichelte mich, küsste mich, bebte, weinte: "Nicht böse sein, nicht böse sein, ich habe schon zwei Jahre lang keine Frau mehr gehabt." Er beruhigte sich, mein Blut sackte. Damals war ich sechzehn.

Ich möchte stundenlang mit dir laufen.

Heute fliege ich wieder nach Warschau. Dein Bruder wird mich nach Rzeszów bringen. Du bist schon weg. Gestern gab es keinen Flug, zu schlechtes Wetter, und gestern hattest du deinem Bruder aufgetragen mich so früh nach Rzeszów zu bringen, dass ich eventuell den Mittagszug würde nehmen können. Heute ist der Himmel strahlend blau.

Dein Bruder sagt: "Mein Leben ist ein Leben der verpassten Chancen." Er arrangiert sich. "Jans Bücher, als kämen sie aus meiner Seele. Ich weiss so viele Geschichten, so viele Geschichten. Jan sagt immer: 'Schreib sie auf.' Ich bin kein Dichter."

Seine Rente ist wieder nicht gekommen. Wir laufen durch die Stadt, suchen die Postbotin.

Der Himmel bewölkt sich. Dein Bruder wird unruhig. Er hat nicht getan, was du ihm aufgetragen hattest. Wird der Flug stattfinden? Immer wieder wählt er die Nummer in Rzeszów, immer wieder: keine Verbindung. Er denkt laut über andere Möglichkeiten nach: "Warum nach Rzeszów fahren, wenn der Flug vielleicht doch nicht stattfindet? Züge und Busse fahren auch von hier aus nach Warschau." Ich habe mein Ticket. Unbeteiligt, als ginge es gar nicht um mich, beobachte ich ihn, sage nichts. Schliesslich wird es ihm zu viel. Er sagt: "Ich fahre schnell zur Frau." Während er zur Frau fährt kommt die Frau nach Hause. Er kommt zurück und sie besprechen das Problem, das keins ist. Ich will fliegen. Und wenn es keinen Flug gibt? Ach.
Jetzt fragt er mich. "Wir fahren nach Rzeszów", sage ich. Er kommt auf mich zu. Sein Oberkörper ist nach vorn geneigt, mit seinem rechten Zeigefinger durchschneidet er immer wieder die Luft, reisst seine Augen weit auf: "Sabina, Sie sagen es, es ist Ihre Verantwortung." "Ja."
Pfeifend, tänzelnd deckt er den Tisch. Ich komme mir vor wie ein Schuft. Diese Erleichterung hätte ich ihm schon eher besorgen können. Sein Zappeln hat mir irgendwie Spass gemacht.

Immer wieder haben deine Schwägerin und ich uns zum Abschied umarmt und geküsst.

Unterwegs redet dein Bruder von der Mutter, von sich und immer wieder von dir. Der Vater wird kaum erwähnt. Das meiste werde ich vergessen. Nicht die Geschichte von dem Hitlerjungen, den er 1945 pflegte und dessen Tagebuch er noch immer hat, und auch nicht die der Romni, die dir mit neun deine Zukunft voraussagte.

Rzeszów. Der Flug wird stattfinden. Wir haben schliesslich noch soviel Zeit, dass wir ein Eis essen gehen. In Polen ist ein Eis riesig. Jedes Mal denke ich: jetzt brauche ich eine Woche lang nichts mehr zu essen.

Vor dem Klo sitzt eine alte Frau. Das heisst, sie hat keine Zähne mehr, vielleicht noch einen oder zwei. Der Bauch hängt zwischen den Beinen, die Brüste auf dem Bauch, die Unterlippe auf dem Kinn, das Kleid hängt, die Strickjacke hängt, die Schürze hängt, das Kopftuch hält den Kopf zusammen. Toten bindet man den Kopf zusammen, damit der Mund nicht auseinander fällt.
Das Fräulein von der Retirade, nein, Klofrau.
Als ich zum Damenklo gehe, schüttelt sie Kopf und Hand. Sicher kaputt, denke ich. Ich öffne die andere Tür. Mitten im Raum steht ein wankender Mann, pinkelt. Viele wanken schon. Bei Kühen hört sich das auch so an. Ich weiche zurück, schliesse die Tür wie eine Frau von Blaubart, schüttele den Kopf, gehe wieder zum Damenklo. Die Klofrau erhebt sich, schleppt sich her, schaut mich von oben bis unten und unten bis oben an. Ich halte meine Hände unter meinen Busen, tue, als müsse ich Kürbisse auffangen. Sie verschluckt sich beinahe vor Lachen, schüttelt immer wieder den Kopf. Tränen kullern ihr über die Wangen. Ich darf aufs Damenklo.

Ich will rechtzeitig am Bus sein. Dein Bruder merkt meine Unruhe. "Sie sind nervös", sagt er. "Das geht mir immer so, bevor ich mit etwas Unbekanntem anfange, auch beim Zeichnen. Wenn der Bleistift in meiner Hand sich ins Papier drückt, gibt es keine Hoffnung mehr." Wie ein Vater, der sein Kind nicht mehr begreift, der nur noch denkt, sie wird schon wissen, was sie tut, bringt er mich zur Haltestelle. Da müssen wir warten.
Eine Trauergesellschaft fliegt auch nach Warschau. Schwarze Anzüge, Kostüme, Strümpfe. Die Frauen sind dick, mit teigig aufgedunsenen Gesichtern, vom Wasser verquollenen Lippen und Nasen und Augen und roten Flecken. Sie schnauben sich die Nasen. Wischen sich die Augen. Die Männer sind ausgesprochen mickrig. Alle tragen Kränze.
Ich umarme deinen Bruder.
Die Kränze müssen zum grossen Gepäck.

Sie ist schlank, hat übereinander geschobene verzerrte Züge, trägt Stöckelschuhe, lange rot lackierte Fingernägel, ein weisses Strickkleid. Die Stöckel sind so hoch, dass sie ihre Beine nicht strecken kann. Sie hat ihre Schultern nach vorn hochgezogen, schleudert den Rumpf von rechts nach links, knickt in den Fesseln ein, um.

Wir fliegen über ein Meer von Zuckerwatte.

Warschau. Ich bin wieder im Bristol. Die Araber, die schon beim ersten Mal hier waren, schauen mich verwundert an und die Huren schauen mich an als wollten sie sagen: Wage nicht in unseren Gewässern zu fischen.
Männer kaufen für 100 Dollar erste Nächte.

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Formungstheater. Das Publikum wird zum Nachdenken aufgefordert. Der Schauspieler unterbricht das Stück: "Was soll ich in dieser Situation tun?" Die Lösung muss schwarz oder weiss sein.
Erst wenn ich alles über den anderen wüsste, könnte ich sagen: in dieser Situation handelte ich so. Ich bin nicht der andere und es ist für mich nur eine theoretische Situation. Vielleicht sieht er durch mich, aber das kann etwas ganz anderes sein, als das, was ich sehe. Was für mich ein elender Käfig ist, könnte für ihn notwendige Stütze sein.
Sie wissen das. Sie wählen bewusst: Schwarz - Weiss.

Sie wusste, dass sie nur noch zwei Jahre zu leben hatte. In ihr Tagebuch schrieb sie: "Ich möchte nicht wissen, wie viel Zeit ich noch habe. Ich könnte vergessen mich fallen zu lassen, Angelegenheiten nicht mehr angehen, auf das unsichere Morgen verschieben."

Mit wie vielen offenen Grenzen kann ein Mensch leben?

Ihre Arbeiten enden in hinzugefügten Symbolen.

Sie sagt, meine Zeichnungen schlössen sich nie ganz, hätten immer eine Öffnung.

Sie sagen, das gäbe es nicht mehr, solche alten abgerissenen Leute bestünden nicht mehr. Doch hatten diese Menschen sich mir so eingeprügt. Ich laufe aufmerksam durch die Stadt. Die Menschen sehen so aus.

Sie fragen, warum ich, die ich Ende des Krieges in Szczecin gewohnt habe, nicht polnisch sprechen könne. Ich habe in Stettin gewohnt.

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Kaum jemand geht zu Fuss über die Brücke nach östlich des Flusses. Hier ist alles ist noch grauer, hängt noch tiefer als westlich des Flusses, die Häuser sind noch lepröser. Sie schleppen sich durch die Strassen, schlurfen geduckt entlang den Häuserfronten. Zähne sind eine Seltenheit. Manchmal übertrieben aufgetakelte Körper mit weissen Gesichtern, umschmierten Augen, knallroten Lippen. Veränderten sie den Gesichtsausdruck, entstünden Risse. Auf dem Markt werden Waren aus zweiter, dritter Hand angeboten. Äusserste Abnutzung, überall.

Alles lassen sie über sich ergehen. Sie lassen sich überwuchern, auch von ihren Leibern. Irgendwann nehmen diese Wucherungen überhand, saugen sie aus, schränken ihre Bewegung ein. Ab und zu wird mit grosser Anstrengung die Wange vom Mund zur Seite geschoben. Für diese Leiber brauchte man Gerüste.
Sie trinken um diese Wucherungen zu vergessen. Wollen vergessen. Nur im Suff können sie sie ertragen.
In diesem Rausch können sie alles. Phoenix steigt aus der Asche, tanzt und tanzt, singt, lacht. Die in Schwung geratenen Massen wirbeln durch den Raum. Die Füsse verlassen den Boden immer schneller, die Stimmen überschlagen sich, Lachen wird Kreischen.

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Aneinandergeklammert verlassen sie zu zweit das Lokal. Die Strasse ist so steil. Sie nehmen sie im Zick-Zack-Kurs. Nach vorn müssen sie sich stemmen um nicht runter zu kollern. Die Strasse dreht sich. Ihre Leiber sacken in sich in sich zusammen. Die Jacke des anderen bietet Halt.
Die Gärung in ihren Leibern schleudert sie nach vorn, schubst sie zurück. Als hätten sie einen Schlag in den Magen bekommen, so krümmen sie sich. Sie möchten noch einmal Karussell fahren. Der Strudel reisst sie hoch, wirbelt sie auf den Asphalt. Es bricht aus ihnen heraus. Mühsam rappeln sie sich auf, stützen einander. Manche bleiben auf der Strecke.
Die Strasse liegt wieder unter ihren Füssen, kippt. Sie müssen bergab, zurücklehnen müssen sie sich, ihr Torkeln wird schneller, ihre Füsse sind ihnen im Wege. Tollpatschig krallen sie sich in den anderen.

Gäste im selben Hotel, gehen wir am Abend in die Stadt, essen in ihrem Lokal, trinken Wein, tanzen wie sie. Einer Blumenfrau kaufen wir für 150 Zlotis das letzte Sträusschen ab.
Beim Frühstück sitzen wir noch am selben Tisch.

Gdansk. Wie lange brauchen Menschen und Städte um sich aneinander zu gewöhnen?
Horden Touristen bestaunen dieses Museum.
In einer kahlen Kirche wird eine Messe gelesen. Der einzige Schmuck: eine Serie Wojtylas.

In der Markthalle laufe ich an warmem Hefekuchen und halben Schweinsköpfen vorbei. Wieder stehe ich vor dem Hefekuchen, kaufe eine Mohnschnecke, esse sie gleich auf. Warme Backstuben, Hefeteig wirken auf mich wie ein Magnet. Warmer süss-weher Mohn.

Deutsche benehmen sich wie Elefanten im Porzellanladen. Es ist nicht mehr unsere Stadt.

"Geld tauschen?" "Ich kenne den Trick." Sie verschwinden.

Er hat einen ostpreussischen Schädel. In einem Café setzt er sich neben mich. Ich kann nicht wegrücken. Er stottert, kneift in meinen Oberschenkel, beisst in mein Ohr. Auch er will Geld tauschen, mir die Umgebung zeigen, mit dem Auto, und hinterher ficken.

Was für ein langweiliges Gesicht.

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Hier im Norden sind die Menschen kühler, härter.

Als ich am Eingangstor der Burg des Deutschen Ordens stehe, sehe ich die Frau deines Warschauer Freundes. Sie geht gerade durch die Kontrolle. Wir hatten vereinbart uns in Gdansk zu treffen, ich hatte in ihrem Hotel eine Nachricht hinterlassen. Ihr Gesicht ist heiter. Diese strahlenden Augen! Den Eindruck tief liegender Trauer werde ich auch jetzt nicht los. Sie ist kleiner, als ich gedacht hatte. Ihr Haar geordnet. Sie trägt einen weissen Anzug. Die Begleitung der drei Männer tut ihr gut. Ich bin sicher, dass auch sie mich erkannt hat. Ich könnte jetzt auf sie zugehen. Ich habe noch keine Eintrittskarte.

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Rückfahrt. Schlange stehen vor dem Fahrkartenschalter. Die Bahnhofsgaststätte ist speckig, verwahrlost. Der heisse Tee tut mir gut. Eingefallen oder die Oberkörper über Tische gelegt, schlafen sie mit halboffenen Mündern. Plumpe Leiber, aufgepfropft auf Stühle. Baumelnde Beine. Der Atem geht schwer. Arme umfassen Leiber. Die aufgedunsenen abgearbeiteten steifen Finger können sich nicht mehr ineinander falten, nur die Fingerspitzen berühren einander.
Länger als eine Stunde müssen wir warten. Ich friere.

Wir stehen zusammengepfercht in den Gängen, im Dunst von Fusel, Schweiss und billigem Parfüm. Noch immer zwängen sich welche durch. Frauen können nur ihre Gesichter abwenden.


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