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Es gibt hier wunderschöne Frauen.

Im Museum stehe ich vor einem Frauenportrait. Welche Ähnlichkeit mit der Frau deines Warschauer Freundes.

Der singende Alte auf der Strasse. Aus dem Lumpenbündel, das er ist, kommen herzzerreissende Melodien. Mein Leib füllt sich mit Tränen. Er spielt auch noch Mundharmonika.

Das Theater war schlechte Schmiere. Gut gespielt, dachte ich erst. Nein, die Gesichter an sich faszinieren. Es ist nicht wirklich Theater entstanden. Das Extreme ihrer Erscheinung ist ihre Normalität.

Noch nie habe ich solch eine fette Frau gesehen.

Ich will ins Salzbergwerk von Wieliczka zur Madonna aus Salz. Eine halbe Stunde vor Abfahrt des Zuges bin ich am Bahnhof. Die Schlange vor dem Schalter ist lang. Der Zug steht schon da. "Wieliczka", frage ich. Als der Zug anrückt, schlägt die Frau mir gegenüber ein Kreuz. Die Menschen um mich herum versinken in Schlaf.

Diese weissen Masken! Diese hohen Hacken! Sie treiben es gerade zu weit, die Spannung: eine Farce.

Tragik liegt verankert in ihren Zügen. Die volle Unterlippe hat eine Einbuchtung. Die entsteht auch bei mir, wenn ich das Stück Unterlippe einsauge. Ich stelle mich vor den Spiegel, sauge das Stück Unterlippe ein. Die Wangenmuskeln brauche ich dazu. Der Mund spreizt sich. Die Nasenflügel weiten sich. Die scharfe Nase-Kinnlinie, so charakteristisch für polnische Gesichter, zeigt sich auch bei mir. Automatisch ziehe ich bei diesem Vorgang die Augenbrauen hoch, reisse die Augen weit auf. Die Lider sträuben sich. Ich sehe nur noch durch Schlitze. Was bei ihnen tragisch aussieht, kommt bei mir nicht über Lächerlichkeit hinaus. Polen werden schon so geboren?
Wann sauge ich die Unterlippe so in den Mund, beisse so drauf? Verbeisse ich mir etwas? Mir ist, als halte ich mein Gesicht mit meinen Zügen in Zaum, züchtige es. Ich halte die Spannung nicht länger aus. Mir ist, als hätte ich Klarinette gespielt.
Ältere Leute haben ihre Lippen oft vollkommen aufgegessen.

Oft kann ich wochenlang, monatelang mit niemandem über meine Arbeit sprechen, über das, was mich bewegt. Alleine frühstücken, essen ist grausam. Ich bringe es nicht fertig mich zu anderen an den Tisch zu setzen.

........

Sie spricht wie ein Huhn. Diese umpinselten Augen.
Hätte ich mehr Mut, zeichnete ich sie alle direkt. Ich präge sie mir ein:
ihr beleidigt Sein,
wie sich die Linie vom Mund an noch verschärft,
manchmal die Kurve nicht schafft,
abbricht,
eine zweite nach kurzer Parallele den Lauf weiterführt.
Die Linien müssen um die Backenknochen herum.
Nehmen, manche sehen dabei aus, als müssten sie Gift schlucken.
Komischer Hintern! Ich muss noch einmal hinschauen. Wie man Fleisch nur so verteilen kann.
Gesichter altern hier früh.
Der Mann ist doch ein Scharlatan, alles an ihm ist übertrieben. Ich verlasse das Literacka, er eilt auf mich zu, küsst mir beide Hände, will, dass ich mit ihm gehe. Schmachtende Augen.

Gegen Abend laufe ich wieder durch den Schlund mit den abblätternden Fronten, den angeklebten Balkons. Zwei Betrunkene, ein grosser, ein kleiner, kommen wankend auf mich zu. Stützen einander. In dieser ausweglosen Kulisse, vor diesen Menschen fühle ich mich wie mit Dollarsosse übergossen. Klammere mich an meine Tasche, laufe bewusst aufrecht. Jetzt. "Deitsche!", schreit der Kleine, spuckt mir vor die Füsse.

Frau R. aus Amerika mag mein fressendes Kind nicht. Sie mag keine hoffnungslosen, keine traurigen Kinder. Wenn die Mutter dieses dicken fressenden Kindes länger als zwanzig Sekunden auf dem Klo war, rammelte es wie irr mit der Türklinke, brüllte: "Mama! Mama!" Trampelte mit den Füssen.
"Wenn Sie die Wahl hätten zwischen einem normalen Kind und einem traurigen, einem gekränkten, welches zeichneten Sie", fragt Herr R. "Das traurige, das gekränkte", sage ich. Es sind Menschen an Grenzen. Da wird man sich des Spürens bewusst. Das kann auch Freude sein.

Wie ein Raubtier laufe ich durch die Stadt, verschlinge Gesichter, Bewegungen.

Die Stadt wird renoviert. Manche Häuser sind nicht mehr zu retten.

Ich bin krank. Mein ganzer Leib, meine Därme revoltieren. Ich schlucke Pillen, trinke Mineralwasser. Am Morgen bin ich wie erschlagen. Trinke Tee, esse trocken Brot, besuche noch ein Museum, laufe kurz durch die Stadt. Schlafe, fresse Pillen, schlafe. Morgen muss ich fünf Stunden im Bus sitzen. Um sieben Uhr soll ich dich anrufen. Am Nachmittag bin ich nur noch taube Hülle. Wer solche Reisen unternimmt, sollte stärker sein. Gegen fünf Uhr weiss ich, dass ich es schaffen werde.
Die Verbindung kommt zustande. Ich höre deine Stimme. Beruhigt schlafe ich noch zwei Stunden. Gehe Essen. Gekochte Forelle und Tee.

Frauen wachsen schief, weil sie sich immer zu ihren Männern hin beugen.
Wie deutsch das Paar ist. Sie sind aus der DDR.

Wenn ich beim Zeichnen oder Malen bis an die äusserste Grenze eines Gesichtsausdrucks vordringe kann ich seine Maske erfassen. Ein wenig weiter und die Linien können diesen Ausdruck nicht länger festhalten, ein anderer Ausdruck, ein weiteres Gesicht zeigt sich.
Als hätte die Nase-Kinnlinie eine konstante Längen/Spannungs-Gleichung. Durch extremes Spreizen des Mundes überrecke ich diese Linie, leiere sie aus. Je weiter ich sie ausleiere, desto kräftiger muss ich den Mund spreizen. Je grösser die Spannung, desto kürzer kann ich sie festhalten. Bricht die Spannung zusammen, ohne dass die Linie reisst, passt sie nicht mehr in mein Gesicht, fällt aus dem Knochenrahmen, reisst die Wange, die ja an ihr festsitzt, mit sich. Die Wange hängt jetzt tiefer als das Kinn.

Nach Sanok.
Es gibt keine Funkverbindung zu Taxis.
Ich laufe.
Busbahnhof Krakau: Getto von Wartenden.
Die Umzäunung verstärkt das Bild.
Sanok: Bahnsteig 2.
In dieser Reihe stehen zwei Busse. "Sanok", frage ich den Chauffeur. Ich hätte auch "St. Niklaas" fragen können. "Sanok", frage ich. Sie zucken mit den Achseln. Wo ist mein Bus? Bahnsteig 3, 4, 5. Sanok steht auf dem Bus. Ich gehe zu den Menschen, die da stehen: "Sanok?"
Der Fahrer öffnet den Bus. Ich begreife, dass ich meinen Rucksack selbst verstauen muss. Neben mir sitzt ein junger Mann. Er hat mir seinen Fensterplatz angeboten. Welch schönes klares Gesicht, keine Maske. Wir wollen miteinander sprechen. Sprechen beide vier Sprachen. Sein Englisch besteht aus "Coffee", mein Polnisch aus "Kawa". Wir können uns nur anschauen. Mehr ist auch nicht nötig. Da ist noch ein zerfurchtes, mich faszinierendes Gesicht im Bus. Auch dieses gewaltige Gesicht lebt.

Tarnów. Wir dürfen uns die Beine vertreten. Haufen geduldig Wartender. Das Gebäude ist grau? Vergammelt? Verwahrlost? Dreckig? Überlastet?
Hinter mir steht das zerfurchte Gesicht, lächelt, spricht englisch: "Wie gefällt es Ihnen hier?" Ich bin vorsichtig, sage: "Interessant." "Aber dreckig!", sagt der Mann, macht eine abfällige Handbewegung. Wir sprechen über Literatur, über meine Reise. "Wie kann eine junge Frau solch eine Reise unternehmen, allein! Haben Sie keine Angst?" "Ich habe keine Zeit dazu, jetzt nicht mehr. Vorher schon. Kurz vor der Reise war ich krank vor Angst. Jetzt nicht mehr." Er klopft mir auf die Schulter: "Sie sind tapfer. Halten Sie durch, die Welt braucht solche Leute wie Sie." Ich spüre, wie ich rot anlaufe. Dieselben Worte wie Herr R. in Krakau. Wir müssen wieder einsteigen.

Krosno. Es ist nur Kulisse, sind nur Statisten! Kulisse, Statisten um einen gewissen Abstand zu wahren? Das Gefühl zu haben, es gehe vorbei? Eine Szene in unserem Spiel? Menschen stehen, lungern, warten, sind grau und ohne Protest. Manchmal ein Lächeln. Betrunkene wanken auch hier zu zweit. Man steigt in Busse.
Wie nahe extreme Schönheit und Hässlichkeit einander sind.

Rymanów. Der junge Mann neben mir nimmt meine Hände, küsst sie: "Ade", zögert, "Moment", gibt mir ein kleines Sonnenabzeichen: "Souvenirr." Das Blut steigt mir ins Gesicht, ihm auch. Der Mann mit dem zerfurchten Gesicht sagt auch Ade. Als der Bus anfährt, schauen beide mich noch durchs Fenster an und ich sie. Wir winken.

Sanok fängt mit Holzhäusern an. So hat Schulz die Ausläufer seiner Stadt beschrieben.

Der Bus ist zu früh. Da stehe ich. Ein altes Vehikel kommt. Menschen werden hineingepfercht. Erst die Mütter mit Babys, dann die Alten, dann der Rest. Schliesslich nehme ich ein Taxi. Ich halte dem Fahrer eure Adresse hin. Die Fahrt ist kurz. Da stehe ich. Dann begreife ich, dass der Eingang an der Rückseite ist.
Ich höre Stimmen im Haus. Oben an der Treppe steht ein verluderter dicker Mann. Vieleicht ein, noch zwei Zähne. Ich nenne deinen Namen. Er bringt mich schlurfend zu einer Tür. Klopft.
Die Frau, die öffnet, das, was sich mir zeigt, ist mir nicht fremd.
Die Brüder sind zum Bahnhof gefahren. Hier geht man immer davon aus, dass alles zu spät kommt. Sie zieht hastig, als sei dies Malheur ihre Schuld, ihre Jacke an. Ich bleibe in der Wohnung. Längst voorbei Gewähntes quillt in mir auf.

Deines Bruders Augenbrauen sind so buschig wie deine, doch eine Menge kleiner Härchen scheint den Bogen nach unten zu ziehen, nimmt ihm die Spannung. Ihr seid ungleiche Brüder.

Der Tisch wird gedeckt. Wie bei meiner Patentante. Die Angst der Frau etwas vergessen zu haben. Ich rieche frischen Dill.

Wann, wo bist du entspannt? Ich denke wieder an den Rummel in Brüssel. Auf dem Rummel müsstest du wohnen!

Diese Zimmerfluchten! Der Weg in die Freiheit führt immer durch noch ein Zimmer und schliesslich durch die Küche.

........

Mittagsschlaf. Ich gehe brav auf mein Zimmer. Die Tür, die ich nicht ganz zumache, wird zugemacht. Ich zeichne, werde ruhig, schlafe ein. Geschlossene Zimmer, Türen, die ins Schloss fallen - lieber laufe ich zehn Etagen, nur nicht allein im Fahrstuhl. Die Groner Landstrasse überfällt mich, die Iheringstrasse, die Industriestrasse, der Dornbusch, alle Häuser meiner Kindheit. Nie konnte ich unbemerkt entkommen. Immer musste ich durch Zimmer und noch ein Zimmer, durch Menschen, alle Menschen auf meinem Weg musste ich hindurch. An vielen hätte ich mich gern vorbeigeschlichen. Immer knarrten die Dielen, quietschten die Türen: "Was tust du?" Nie konnte ich etwas so tun, wie es sich gehörte: "Aber, Sabinchen!" "Sie ist ja lieb", sagten sie, "aber..." Immer dieses Aber. Bis ich nicht mehr konnte, mit den Fäusten auf den Tisch schlug: "Ich bin lieb! Ich bin lieb! Ich bin lieb!" Als ich das tat, war ich achtunddreissig.

Wann darf ich hier wieder raus? Ich höre Stimmen, ich darf.

Diese Frau erzählt auch so wie meine Patentante. Dabei stützt sie sich auch genauso mit dem linken Arm auf die Stuhllehne. Auf dem Arm liegt der Busen, das linke Bein ist Standbein. Der Hintern hängt schräg. Sie spricht mit dem Mund, dem Gesicht, den Augen, die freie Hand unterstreicht das Gesagte oder nimmt es zurück.
Meine Patentante war die ungleiche Schwester meiner Mutter. Nie zeigte sie ihre Traurigkeit, ihren Verdruss, klagte nicht, war immer heiter. Doch frassen diese Traurigkeit, dieser Verdruss sie auf. Kurz vor ihrem Tod habe ich sie gefüttert. Die Brotkrume war zu schwer für sie.
Sie lebte mit ihrer Familie im Schatten des Schlosses. "Wenn du vor mir niederkniest und sagst: 'Bitte, gnädige Frau Baronin!' dann gebe ich dir ein Stück trocken Brot." Sie kniete nieder. "Es war ja nur ein Kinderspiel", sagt meine Mutter.
Immer dieses Fragen nach Festen: "Haben wir uns auch nicht vorbeibenommen? Es ging doch, oder?"
"Wenn mein Schwager nur wollte!", sagte mein Vater.
"Ik noch auf Schule jehn?", sagte mein Onkel. Er hat alle Graphiken und viele Bilder meines Vaters in seiner Wohnung hängen. "War'n feiner Kerl", sagt er.

Lesko. Nur sechzig Kilometer weiter östlich liegt Drohobycz, die Stadt von Bruno Schulz.
Leskos alter jüdischer Friedhof ist während des Krieges nicht zerstört worden. Von hohen Bäumen umgeben, eben jenseits der Kuppe eines Hügels, hatten die Deutschen ihn nicht bemerkt. Nur Eingeweihte kennen und kannten den Weg dahin.

"Sie wissen, meine Damen und Herren, dass es in alten Wohnungen Zimmer gibt, die man vergisst. Monatelang unbesucht, welken sie in völliger Verlassenheit zwischen alten Mauern dahin und es kommt vor, dass sie sich verpuppen, in die Ziegel einspinnen und - ein für alle Mal für unser Gedächtnis verloren - langsam auch ihre Existenz verlieren.
Die Tür, die von irgendeinem Podest der Hintertreppe aus zu ihnen führt, kann so lange von den Hausgenossen übersehen werden, bis sie zuwächst, in die Wand eingeht, die dann ihre Spur mit phantastischen Zeichen von Rissen und Sprüngen verwischt.
Ich betrat einmal, sprach mein Vater, an einem frühen Morgen gegen Ende des Winters nach vielen Monaten der Abwesenheit einen solchen halbvergessenen Trakt und war über das Aussehen bass erstaunt..." (Bruno Schulz: Traktat über die Mannequins - Schluss)
Wir laufen durch die Stadt, entlang der Synagoge, hinunter zur Schule. Die Pforte zum Friedhof existiert als Pforte nicht mehr, ist fester Bestandteil des Schulzauns. Kaum nach rechts, klettern wir über eine verfallende Mauer den Hügel hoch. Es ist warm, die Luft herb, sticht. Auf der Kuppe stehen hohe Bäume.
In Gestrüpp, unter Brombeeren, noch diesseits der hohen Bäume, doch schon in ihrem Schatten, kauern die ersten Steine gegen- und übereinander zu Boden gesunken. Manche stehen allein.
Jenseits der Bäume betreten wir eine sonnenüberflutete zottige Ebene. In stechend geschwängerter flirrender Hitze voller Mückenschwärme, zwischen rankendem Gezweig im Filz der Grasbüschel, deren braunen trockenen Halmen, ockerfarbenen, hier und da beinahe schwarzen Ähren und Dolden, die knisternd und prasselnd ihre Samen verlieren, stehen und kauern ganze Scharen, scheinbar ungeordnet.
Wie die Osterinseln, denke ich. Diese Steine haben keine Nasen, keine Ohren, keine Münder. In den Grund gesetzt, ihrem Wesen nach haltlos, da ohne Verband, sinken sie auf ihn, werden überwuchert. Der monotone Mückengesang.
Ich fahre mit den Fingern über ihre Zeichen. Sie sind heiss.
Wir waten zurück. Die Septembersonne wirft schon lange Schatten. Bei den Bäumen stossen wir auf grasende Kühe, eine dösende Frau. Sie erschrickt, fährt mit der Hand über das glühende Gesicht. Wir grüssen.
Wir klettern den Hügel wieder runter. Ich drehe mich um. Auf der Kuppe die hohen Bäume.
"Ehe es Abend wurde", endete mein Vater, "war von dieser glänzenden Pracht keine Spur mehr übrig. Diese ganze trügerische Fata Morgana war nur eine Mystifikation, ein Fall merkwürdiger Simulation der Materie, die sich den Schein des Lebens umgehängt hatte..." (Bruno Schulz: Traktat über die Mannequins - Schluss)
Man hat die Judenviertel nach dem Kriege nicht wieder aufgebaut.

Heute noch ist sichtbar, wo die ukrainischen Dörfer sich befanden: mitten im Wald herrscht eine andere Vegetation. Die Schreie der Verbrennenden wurden weit getragen.

Dieser Sonntag in Sanok beklemmt mich wie die Sonntage meiner Kindheit.

Beim zweiten Besuch ans Museum begreife ich, dass der Kassierer der Direktor ist.

Diese grossen Mahlzeiten sind wie Opium. Mit welcher Hingabe sie sich dem Essen und seinen Vorbereitungen widmen. Es ist schon Ritual.

Du hast sehr unter deiner Armut gelitten. Deine Schuhe, deine Kleidung, alles, alles ist deine Antwort auf diese Armut. Du hattest schöne weisse Zähne und einen Kamm. Du kämmst dir die Haare noch immer so. Was, wenn du eine Glatze hättest. Du frorst im schönen weissen Trenchcoat.

Das ausgrenzende Leben, das du führst, die strenge Zügelung deiner Gefühle ist deine Antwort auf die Polnische Wirtschaft. Du hast Angst, das Leben könnte dich überwuchern, dass du dich verzettelst, deine ausbrechenden Gefühle dir die Herrschaft über sie rauben; und der roten Knospe in dir die Kraft sich zu wahrhaftiger Grösse entfalten zu können.
Der Tundra willst du entkommen, willst frei sein, Schöpfer. Den modrigen Grund wischst du dir immer wieder von den Schuhen. Mit grossen Flächen kargem Niemandsland sicherst du deine Grenzen ab. Sonderbar luzide ist alles, zum Greifen nah.

Mein Vater führte die Familie zurück zur heiligen Ordnung wie Moses. Vierzig Jahre brauchte er dazu. "Schaut", sagte er, "da ist es", und starb. Meine Mutter muss mitansehen, wie dieses, ihr gelobte Land schon in der ersten Generation wieder verlassen wird.

Verkrüppelte, Vertriebene sind auch geistig verkrüppelt, vertrieben. Greifen zu äusseren Sicherheiten. Was von innen kaputt ist, muss von aussen gestützt werden, bis es geheilt ist, das neue Gleichgewicht, der dann eigene Schwerpunkt gefunden.
Was heil ist, braucht keine Stützen.

Immer aufs Neue lasse ich soviel weg dass die Spannung der Bewegung nackt an jeweils äusserster Grenze zusammenzubrechen droht oder bricht, bringe die Bruchstücke wieder in ein Gleichgewicht, eine Gleichung mit tröstlicher weise immer x Unbekannten. Es geschieht. Ich weiss nicht, was glühender, schmerzhafter ist, das in die Auflösung an äusserster Grenze Treiben oder das Erbringen der Gleichung, die immer an Erstarrung grenzt.

Gegen Abend besuchen wir eine junge Malerin. Technik und Angst die Wirklichkeit könne zu gering sein, könne, einmal angeritzt, ihrem Griff entgleiten.
Ihre Häuser sind zu klein, zu vollgestopft. Sie stopfen auch sich voll. Das erfüllt sie kurz mit Wohlbehagen. Wohlbehagen will genährt sein. Und immer mehr stopfen sie in sich, ihre Bildchen hinein.
Durch diese Mutter muss sie!
Wir trinken Kaffee. Auf dem Tisch steht auch noch Schokoladenkuchen.
Glänzend fett drückt die Mutter, die quabbligen Unterarme auf den Lehnen, ihren Bauch von hinten an den Sessel. Die Hände sind mit glimmender Haut überspannte Fettkissen - wie im Ofen gebratene gefüllte Gänsehälse - mit prallen Würstchen irgendwie daran befestigt. Immer wieder muss ich sie anschauen; ihre aufgequollenen Gesichtszüge. Manchmal stülpt sie ihre Lippen schmerzlich lächelnd zurück (sie versteht nicht, was wir sagen), dann sehe ich ihre Zähne. Die Lippen fallen wieder zusammen. Oma! durchfährt es mich.

Als wir Oma nach dem Krieg zu uns holten, war sie ein Strich. Als dann die ersten Kartoffeln auf den Tisch kamen fing sie an in sich hineinzuschaufeln. Oma wurde dick und dicker: "Oma", sagte ich, "wenn das Kind kommt, werde ich es spazieren fahren." "Oma bekommt kein Kind mehr, Opa ist schon tot!" Was hatte Opa damit zu tun? "Und Maria dann?" "Das ist etwas ganz anderes, glaube."
Oma wurde fett und fetter. Wie oft musste ich dieses Monstrum nicht in die Kirche schleppen. Sie hängte sich ein in meinen Arm. Hängt sich jemand bei mir ein, versteinere ich, schnürt sich mir die Kehle zu.
Als ich vierzehn Jahre alt war, wollte ich wissen, wie Oma von unten aussah. Damals schlief sie im selben Zimmer wie meine zwei Vettern, meine Schwester und ich. Ich tat, als schliefe ich. Oma zog sich unter Schnauben und Stöhnen aus. Da stand sie. Nichts war mehr da. Eine Fettschürze hing tief und schwer herunter, anstelle ihrer - das wusste ich damals nicht, das gab es ja nicht, nicht bei uns, hatte auf alle Fälle keinen Namen. Einfach nicht mehr da, durchfuhr es mich. Ich dachte an all die älteren Frauen in unserer Gemeinde, ihre schmerzlich ergebenen Gesichter. Das war es also, jetzt war ich mir sicher: nicht mehr da!

Ich sehe all die Frauen wieder vor mir in der Kirche. Denke an Czestochowa. Sie knien vor dem Priester nieder, lassen heilige Ergüsse über sich ergehen, erwarten still gespannt das Öffnen des Tabernakels. Nehmen den Leib des Herrn in sich auf, halten mit vorgehaltenen Händen Zwiesprache mit ihm. Reinigen sich vorher, ziehen schöne Kleider an, hungern ihm entgegen. Bringen sich mit Gesang in Stimmung. Und alle, die da kommen, werden befriedigt.
Warum fangen sie schon bei den Kindern mit dem Todestraining an?

Der Maler M. Sein blauer Kopf hat sich mir eingeprägt. Noch immer sehe ich all die Fältchen.
Dir gefiel mehr seine blaue Tänzerin, die Vernarbte mit dem gelben Tutu. Etwas in mir sträubte sich. Zunächst dachte ich, es sei das gelbe Tutu. Nein, wer so vernarbt ist, steht nicht so entspannt da. Narben verunstalten nicht nur äusserlich.
Lange sprach und lachte ich mit der linken Hand vor Mund und Nase. "Wie hässlich deine Jacketts sind", sagten sie. "Wenn du achtzehn Jahre alt bist, gehen wir nach Berlin zu einem plastischen Chirurgen, dann darfst du dir eine schöne Nase aussuchen", sagten sie. "Meine Nase bin ich!", brüllte ich. Wie lange habe ich nicht gebraucht meine Hand da wegzuräumen.
Warum malt er sie nicht verkrümmt mit Tutu? Oder übertrieben aufrecht mit Tutu: täuscht euch nicht, ich bin genauso wie ihr! Ich lasse mich nicht unterkriegen! Diese ungeheure Anstrengung, die das kostet.
Wenn mein Vater morgens sein Holzbein angezogen hatte und den Rest, stellte er sich vor den Spiegel, rückte noch einmal den Schlipsknoten zurecht, streckte das Kinn nach vorn, zog die Schultern nach hinten, drehte den Kopf langsam nach rechts und nach links, brachte sein Gesicht bis kurz vor den Spiegel, strich mit der Hand über das spillerige Haar: alles in Ordnung! Dann erst kam er zum Frühstück.

Schon als Kind hatte ich nicht die Gabe mir Welten zu wünschen und aus diesen Welten zu berichten. Sicher, ich probierte es und mit welcher Hingabe. Aber, während die Elfen meiner Schwester auf mondüberfluteten Auen Ringelreihen tanzten und sich in himmelblauer Lieblichkeit übertrafen, schälten meine Gnome 100 Kartoffeln. Was sollten sie sonst auch tun?
Meine Schwester fand meine Geschichten blöd.

Kafka schrieb: "Ich hatte gehofft, durch den Blumenstrauss meine Liebe zu ihr ein wenig zu befriedigen, es war ganz nutzlos. Es ist nur durch Literatur oder Beischlaf möglich."
Die Liebe, das Leben durch Literatur befriedigen: Befriedigen, einfrieden, Friedhof, aus.

Wie willst du es dir besorgt wissen? Wüst-himmlisch? Wüst-teuflisch? Deine Phantasie konstruiert Scheingebilde, Möglichkeiten, und du schreibst auf, wie es da zugeht. Wie geht es da wirklich zu? Du stürzt dich literarisch in das Erlebnis, schwelgst in Orgien, putschst deinen Körper auf und beschreibst deine vermutlichen Gefühle, dein vermutliches Glück, deine vermutliche Niederlage, deine vermutliche Zerstörung. Ich war da! Und was ich da nicht alles mitgemacht habe! A! A! A! Warum willst du die anderen und dich glauben machen, dass du da warst, weisst, was sich da abspielt und wie? Warum sagst du nicht, dass du dein Heim nur in Gedanken verlassen hast, geblieben bist; mit allem, was dir heilig ist, ein Mantel um deine Blösse gelegt, den Altar nur umschritten hast. Warum sagst du nicht, dass du danach erschöpft in deine Kissen sinkst, froh, dass solch Kelch an dir vorübergegangen ist, du deine Hände in Unschuld waschen kannst, nicht Teil dieser subversiven Kraft geworden, der unerschütterliche Fels in der Brandung geblieben bist. Dein Anzug sitzt tadellos.
"Ich habe Angst wie ein Insekt vor dem Sturm", schreibst du mir.
Angst deine Blösse zu zeigen, Angst deine Angst zu zeigen, Angst zu sagen, dass du nicht da warst? Angst, auch überspielte, riecht bitter.
Warum immer dieses Schreiben und Malen aus unserem Jenseits: Schaut, schaut! was ich gefunden habe! Nicht genug damit, wir nehmen die in unserem Jenseits gefundenen Wahrheiten, diese Utopien, bauen Philosophien auf ihnen auf, richten unser Leben nach ihnen aus. Irgendwann brechen sie zusammen. Wie viele werden sie mit sich reissen, verschütten, zermalmen, verkrüppeln, der gewähnten Heimat beraubt zurücklassen, auf die Flucht schicken?

Leben, lieben muss ich mit meinen und der anderen Grenzen. Ich muss mich für den anderen öffnen, ihn ganz in mir zulassen, ohne Bedingungen, ohne Anspruch, ohne Hoffnung. Immer mehr lege ich bloss. Welchen Ballast schmeisse ich weg? Und der andere? Bleibt er angezogen, während ich mich ausziehe? Erkennen wir uns noch? Können wir noch etwas miteinander anfangen? Verstossen einander, so fremd?
Nackte Konfrontation, nie bin ich verwundbarer. Tötet er mich - ich ihn? Durchbrechen wir unsere Grenzen füreinander, schaffen es nicht? Haben Angst, dass die Schlammflut uns überspült? Angst vor dem Neuen, das wir dann formen müssen?
Wir steigen hinab in unseren roten Höllen. Da, an der Grenze zwischen Wahnsinn und Tod, fangen wir an zu begreifen.
Zeichnen, Schreiben kann bei diesem Prozess helfen. Ich betaste, taste ab, lege bloss, sehe, kann in die Hand nehmen, ablegen - meine Finger davonlassen. Taste aufs Neue ab, lege bloss. Akzente, Lagen verschieben sich. Ich taste ab, streiche durch, schneide heraus, trage wieder auf, decke ab.
Schaue ganz still.
Ab und zu will ich nur ein wenig Wärme, einfach so.
Oft lasse ich den Menschen nicht einmal ihre Haare. Nackt und kahl dringe ich in sie ein - dringen sie in mich ein. Unter hinreissendem Aussehen gewahre ich verklebte Augen, überwucherte Menschen, Panzer, Buckel, verkümmerte Hände, Riesenkräfte, das brennende Verlangen zuzustossen, zu vernichten, gezahnte Fotzen, abgebissene Zungen, verstümmelte Penisse, Tod.


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