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Es gibt hier wunderschöne Frauen.
Im Museum stehe ich vor einem Frauenportrait. Welche Ähnlichkeit mit der Frau deines Warschauer Freundes. Der singende Alte auf der Strasse. Aus dem Lumpenbündel, das er ist, kommen herzzerreissende Melodien. Mein Leib füllt sich mit Tränen. Er spielt auch noch Mundharmonika. Das Theater war schlechte Schmiere. Gut gespielt, dachte ich erst. Nein, die Gesichter an sich faszinieren. Es ist nicht wirklich Theater entstanden. Das Extreme ihrer Erscheinung ist ihre Normalität. Noch nie habe ich solch eine fette Frau gesehen. Ich will ins Salzbergwerk von Wieliczka zur Madonna aus Salz. Eine halbe Stunde vor Abfahrt des Zuges bin ich am Bahnhof. Die Schlange vor dem Schalter ist lang. Der Zug steht schon da. "Wieliczka", frage ich. Als der Zug anrückt, schlägt die Frau mir gegenüber ein Kreuz. Die Menschen um mich herum versinken in Schlaf. Diese weissen Masken! Diese hohen Hacken! Sie treiben es gerade zu weit, die Spannung: eine Farce. Tragik liegt verankert in ihren Zügen. Die volle Unterlippe hat eine Einbuchtung. Die entsteht auch bei mir, wenn ich das Stück Unterlippe einsauge. Ich stelle mich vor den Spiegel, sauge das Stück Unterlippe ein. Die Wangenmuskeln brauche ich dazu. Der Mund spreizt sich. Die Nasenflügel weiten sich. Die scharfe Nase-Kinnlinie, so charakteristisch für polnische Gesichter, zeigt sich auch bei mir. Automatisch ziehe ich bei diesem Vorgang die Augenbrauen hoch, reisse die Augen weit auf. Die Lider sträuben sich. Ich sehe nur noch durch Schlitze. Was bei ihnen tragisch aussieht, kommt bei mir nicht über Lächerlichkeit hinaus. Polen werden schon so geboren? Oft kann ich wochenlang, monatelang mit niemandem über meine Arbeit sprechen, über das, was mich bewegt. Alleine frühstücken, essen ist grausam. Ich bringe es nicht fertig mich zu anderen an den Tisch zu setzen. Sie spricht wie ein Huhn.
Diese umpinselten Augen. Gegen Abend laufe ich wieder durch den Schlund mit den abblätternden Fronten, den angeklebten Balkons. Zwei Betrunkene, ein grosser, ein kleiner, kommen wankend auf mich zu. Stützen einander. In dieser ausweglosen Kulisse, vor diesen Menschen fühle ich mich wie mit Dollarsosse übergossen. Klammere mich an meine Tasche, laufe bewusst aufrecht. Jetzt. "Deitsche!", schreit der Kleine, spuckt mir vor die Füsse.
Frau R. aus Amerika mag mein fressendes Kind nicht. Sie mag keine hoffnungslosen, keine traurigen Kinder. Wenn die Mutter dieses dicken fressenden Kindes länger als zwanzig Sekunden auf dem Klo war, rammelte es wie irr mit der Türklinke, brüllte: "Mama! Mama!" Trampelte mit den Füssen. Wie ein Raubtier laufe ich durch die Stadt, verschlinge Gesichter, Bewegungen. Die Stadt wird renoviert. Manche Häuser sind nicht mehr zu retten. Ich bin krank. Mein ganzer Leib, meine Därme revoltieren. Ich schlucke Pillen, trinke Mineralwasser. Am Morgen bin ich wie erschlagen. Trinke Tee, esse trocken Brot, besuche noch ein Museum, laufe kurz durch die Stadt. Schlafe, fresse Pillen, schlafe. Morgen muss ich fünf Stunden im Bus sitzen. Um sieben Uhr soll ich dich anrufen. Am Nachmittag bin ich nur noch taube Hülle. Wer solche Reisen unternimmt, sollte stärker sein. Gegen fünf Uhr weiss ich, dass ich es schaffen werde. Frauen wachsen schief, weil sie sich immer zu ihren Männern hin beugen. Wenn ich beim Zeichnen oder Malen bis an die äusserste Grenze eines Gesichtsausdrucks vordringe kann ich seine Maske erfassen. Ein wenig weiter und die Linien können diesen Ausdruck nicht länger festhalten, ein anderer Ausdruck, ein weiteres Gesicht zeigt sich.
Nach Sanok. Tarnów. Wir dürfen uns die Beine vertreten. Haufen geduldig Wartender. Das Gebäude ist grau? Vergammelt? Verwahrlost? Dreckig? Überlastet? Krosno. Es ist nur Kulisse, sind nur Statisten! Kulisse, Statisten um einen gewissen Abstand zu wahren? Das Gefühl zu haben, es gehe vorbei? Eine Szene in unserem Spiel? Menschen stehen, lungern, warten, sind grau und ohne Protest. Manchmal ein Lächeln. Betrunkene wanken auch hier zu zweit. Man steigt in Busse. Rymanów. Der junge Mann neben mir nimmt meine Hände, küsst sie: "Ade", zögert, "Moment", gibt mir ein kleines Sonnenabzeichen: "Souvenirr." Das Blut steigt mir ins Gesicht, ihm auch. Der Mann mit dem zerfurchten Gesicht sagt auch Ade. Als der Bus anfährt, schauen beide mich noch durchs Fenster an und ich sie. Wir winken. Sanok fängt mit Holzhäusern an. So hat Schulz die Ausläufer seiner Stadt beschrieben. Der Bus ist zu früh. Da stehe ich. Ein altes Vehikel kommt. Menschen werden hineingepfercht. Erst die Mütter mit Babys, dann die Alten, dann der Rest. Schliesslich nehme ich ein Taxi. Ich halte dem Fahrer eure Adresse hin. Die Fahrt ist kurz. Da stehe ich. Dann begreife ich, dass der Eingang an der Rückseite ist. Deines Bruders Augenbrauen sind so buschig wie deine, doch eine Menge kleiner Härchen scheint den Bogen nach unten zu ziehen, nimmt ihm die Spannung. Ihr seid ungleiche Brüder. Der Tisch wird gedeckt. Wie bei meiner Patentante. Die Angst der Frau etwas vergessen zu haben. Ich rieche frischen Dill. Wann, wo bist du entspannt? Ich denke wieder an den Rummel in Brüssel. Auf dem Rummel müsstest du wohnen! Diese Zimmerfluchten! Der Weg in die Freiheit führt immer durch noch ein Zimmer und schliesslich durch die Küche. Mittagsschlaf. Ich gehe brav auf mein Zimmer. Die Tür, die ich nicht ganz zumache, wird zugemacht. Ich zeichne, werde ruhig, schlafe ein. Geschlossene Zimmer, Türen, die ins Schloss fallen - lieber laufe ich zehn Etagen, nur nicht allein im Fahrstuhl. Die Groner Landstrasse überfällt mich, die Iheringstrasse, die Industriestrasse, der Dornbusch, alle Häuser meiner Kindheit. Nie konnte ich unbemerkt entkommen. Immer musste ich durch Zimmer und noch ein Zimmer, durch Menschen, alle Menschen auf meinem Weg musste ich hindurch. An vielen hätte ich mich gern vorbeigeschlichen. Immer knarrten die Dielen, quietschten die Türen: "Was tust du?" Nie konnte ich etwas so tun, wie es sich gehörte: "Aber, Sabinchen!" "Sie ist ja lieb", sagten sie, "aber..." Immer dieses Aber. Bis ich nicht mehr konnte, mit den Fäusten auf den Tisch schlug: "Ich bin lieb! Ich bin lieb! Ich bin lieb!" Als ich das tat, war ich achtunddreissig. Wann darf ich hier wieder raus? Ich höre Stimmen, ich darf. Diese Frau erzählt auch so wie meine Patentante. Dabei stützt sie sich auch genauso mit dem linken Arm auf die Stuhllehne. Auf dem Arm liegt der Busen, das linke Bein ist Standbein. Der Hintern hängt schräg. Sie spricht mit dem Mund, dem Gesicht, den Augen, die freie Hand unterstreicht das Gesagte oder nimmt es zurück. Lesko. Nur sechzig Kilometer weiter östlich liegt Drohobycz, die Stadt von Bruno Schulz. "Sie wissen, meine Damen und Herren, dass es in alten Wohnungen Zimmer gibt, die man vergisst. Monatelang unbesucht, welken sie in völliger Verlassenheit zwischen alten Mauern dahin und es kommt vor, dass sie sich verpuppen, in die Ziegel einspinnen und - ein für alle Mal für unser Gedächtnis verloren - langsam auch ihre Existenz verlieren.Wir laufen durch die Stadt, entlang der Synagoge, hinunter zur Schule. Die Pforte zum Friedhof existiert als Pforte nicht mehr, ist fester Bestandteil des Schulzauns. Kaum nach rechts, klettern wir über eine verfallende Mauer den Hügel hoch. Es ist warm, die Luft herb, sticht. Auf der Kuppe stehen hohe Bäume. In Gestrüpp, unter Brombeeren, noch diesseits der hohen Bäume, doch schon in ihrem Schatten, kauern die ersten Steine gegen- und übereinander zu Boden gesunken. Manche stehen allein. Jenseits der Bäume betreten wir eine sonnenüberflutete zottige Ebene. In stechend geschwängerter flirrender Hitze voller Mückenschwärme, zwischen rankendem Gezweig im Filz der Grasbüschel, deren braunen trockenen Halmen, ockerfarbenen, hier und da beinahe schwarzen Ähren und Dolden, die knisternd und prasselnd ihre Samen verlieren, stehen und kauern ganze Scharen, scheinbar ungeordnet. Wie die Osterinseln, denke ich. Diese Steine haben keine Nasen, keine Ohren, keine Münder. In den Grund gesetzt, ihrem Wesen nach haltlos, da ohne Verband, sinken sie auf ihn, werden überwuchert. Der monotone Mückengesang. Ich fahre mit den Fingern über ihre Zeichen. Sie sind heiss. Wir waten zurück. Die Septembersonne wirft schon lange Schatten. Bei den Bäumen stossen wir auf grasende Kühe, eine dösende Frau. Sie erschrickt, fährt mit der Hand über das glühende Gesicht. Wir grüssen. Wir klettern den Hügel wieder runter. Ich drehe mich um. Auf der Kuppe die hohen Bäume. "Ehe es Abend wurde", endete mein Vater, "war von dieser glänzenden Pracht keine Spur mehr übrig. Diese ganze trügerische Fata Morgana war nur eine Mystifikation, ein Fall merkwürdiger Simulation der Materie, die sich den Schein des Lebens umgehängt hatte..." (Bruno Schulz: Traktat über die Mannequins - Schluss)Man hat die Judenviertel nach dem Kriege nicht wieder aufgebaut. Heute noch ist sichtbar, wo die ukrainischen Dörfer sich befanden: mitten im Wald herrscht eine andere Vegetation. Die Schreie der Verbrennenden wurden weit getragen. Dieser Sonntag in Sanok beklemmt mich wie die Sonntage meiner Kindheit. Beim zweiten Besuch ans Museum begreife ich, dass der Kassierer der Direktor ist. Diese grossen Mahlzeiten sind wie Opium. Mit welcher Hingabe sie sich dem Essen und seinen Vorbereitungen widmen. Es ist schon Ritual. Du hast sehr unter deiner Armut gelitten. Deine Schuhe, deine Kleidung, alles, alles ist deine Antwort auf diese Armut. Du hattest schöne weisse Zähne und einen Kamm. Du kämmst dir die Haare noch immer so. Was, wenn du eine Glatze hättest. Du frorst im schönen weissen Trenchcoat. Das ausgrenzende Leben, das du führst, die strenge Zügelung deiner Gefühle ist deine Antwort auf die Polnische Wirtschaft. Du hast Angst, das Leben könnte dich überwuchern, dass du dich verzettelst, deine ausbrechenden Gefühle dir die Herrschaft über sie rauben; und der roten Knospe in dir die Kraft sich zu wahrhaftiger Grösse entfalten zu können. Mein Vater führte die Familie zurück zur heiligen Ordnung wie Moses. Vierzig Jahre brauchte er dazu. "Schaut", sagte er, "da ist es", und starb. Meine Mutter muss mitansehen, wie dieses, ihr gelobte Land schon in der ersten Generation wieder verlassen wird. Verkrüppelte, Vertriebene sind auch geistig verkrüppelt, vertrieben. Greifen zu äusseren Sicherheiten. Was von innen kaputt ist, muss von aussen gestützt werden, bis es geheilt ist, das neue Gleichgewicht, der dann eigene Schwerpunkt gefunden. Immer aufs Neue lasse ich soviel weg dass die Spannung der Bewegung nackt an jeweils äusserster Grenze zusammenzubrechen droht oder bricht, bringe die Bruchstücke wieder in ein Gleichgewicht, eine Gleichung mit tröstlicher weise immer x Unbekannten. Es geschieht. Ich weiss nicht, was glühender, schmerzhafter ist, das in die Auflösung an äusserster Grenze Treiben oder das Erbringen der Gleichung, die immer an Erstarrung grenzt. Gegen Abend besuchen wir eine junge Malerin. Technik und Angst die Wirklichkeit könne zu gering sein, könne, einmal angeritzt, ihrem Griff entgleiten. Als wir Oma nach dem Krieg zu uns holten, war sie ein Strich. Als dann die ersten Kartoffeln auf den Tisch kamen fing sie an in sich hineinzuschaufeln. Oma wurde dick und dicker: "Oma", sagte ich, "wenn das Kind kommt, werde ich es spazieren fahren." "Oma bekommt kein Kind mehr, Opa ist schon tot!" Was hatte Opa damit zu tun? "Und Maria dann?" "Das ist etwas ganz anderes, glaube." Ich sehe all die Frauen wieder vor mir in der Kirche. Denke an Czestochowa. Sie knien vor dem Priester nieder, lassen heilige Ergüsse über sich ergehen, erwarten still gespannt das Öffnen des Tabernakels. Nehmen den Leib des Herrn in sich auf, halten mit vorgehaltenen Händen Zwiesprache mit ihm. Reinigen sich vorher, ziehen schöne Kleider an, hungern ihm entgegen. Bringen sich mit Gesang in Stimmung. Und alle, die da kommen, werden befriedigt. Der Maler M. Sein blauer Kopf hat sich mir eingeprägt. Noch immer sehe ich all die Fältchen. Schon als Kind hatte ich nicht die Gabe mir Welten zu wünschen und aus diesen Welten zu berichten. Sicher, ich probierte es und mit welcher Hingabe. Aber, während die Elfen meiner Schwester auf mondüberfluteten Auen Ringelreihen tanzten und sich in himmelblauer Lieblichkeit übertrafen, schälten meine Gnome 100 Kartoffeln. Was sollten sie sonst auch tun? Kafka schrieb: "Ich hatte gehofft, durch den Blumenstrauss meine Liebe zu ihr ein wenig zu befriedigen, es war ganz nutzlos. Es ist nur durch Literatur oder Beischlaf möglich."Die Liebe, das Leben durch Literatur befriedigen: Befriedigen, einfrieden, Friedhof, aus. Wie willst du es dir besorgt wissen? Wüst-himmlisch? Wüst-teuflisch? Deine Phantasie konstruiert Scheingebilde, Möglichkeiten, und du schreibst auf, wie es da zugeht. Wie geht es da wirklich zu? Du stürzt dich literarisch in das Erlebnis, schwelgst in Orgien, putschst deinen Körper auf und beschreibst deine vermutlichen Gefühle, dein vermutliches Glück, deine vermutliche Niederlage, deine vermutliche Zerstörung. Ich war da! Und was ich da nicht alles mitgemacht habe! A! A! A! Warum willst du die anderen und dich glauben machen, dass du da warst, weisst, was sich da abspielt und wie? Warum sagst du nicht, dass du dein Heim nur in Gedanken verlassen hast, geblieben bist; mit allem, was dir heilig ist, ein Mantel um deine Blösse gelegt, den Altar nur umschritten hast. Warum sagst du nicht, dass du danach erschöpft in deine Kissen sinkst, froh, dass solch Kelch an dir vorübergegangen ist, du deine Hände in Unschuld waschen kannst, nicht Teil dieser subversiven Kraft geworden, der unerschütterliche Fels in der Brandung geblieben bist. Dein Anzug sitzt tadellos. Leben, lieben muss ich mit meinen und der anderen Grenzen. Ich muss mich für den anderen öffnen, ihn ganz in mir zulassen, ohne Bedingungen, ohne Anspruch, ohne Hoffnung. Immer mehr lege ich bloss. Welchen Ballast schmeisse ich weg? Und der andere? Bleibt er angezogen, während ich mich ausziehe? Erkennen wir uns noch? Können wir noch etwas miteinander anfangen? Verstossen einander, so fremd? |
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