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mit strassenkindern aus ihrem leben theater machen

Wiegenlied der Strasse
oder
die Strassenkinder Oper

in siebzehn gespielten, getanzten, gesungenen, gerappten, gesprochenen Bildern
© Sabine Vess

 

Zugrunde liegen ein Interview mit einem Ex-Strassenkind, Interviews mit Strassenkindern, die Schliessung ihres Zuhauses in Magdalena del Mar im Mai 2005, auf Erlass der Gemeindeverwaltung, und eigene Aufzeichnungen seit 2000.
Im August 2005 beginnen wir mit den Kindern und Jugendlichen der Häuser von Generación, den Häsern, in denen sie nach der Schliessung ihres Zuhauses untergebracht sind.
Zunächst ist ihr Wiegenlied erzählend.
2006 entsteht dieses Libretto.
2007 beziehen wir die mit ein, die im Zentrum Limas auf der Strasse leben.
Im Oktober 2008 fangen die der Strasse an ihr Wiegenlied auf mittleren und höheren Schulen und Universitäten zu spielen und anschliessend mit Schülern und Studenten über die Materie zu diskutieren.
Seit 2009 beziehen wir auch die mit ein, die ausserhalb des Zentrums unter den Brücken von Puente Nuevo schlafen, und die, die in Rimác und Ciudad de Dios zuhause sind.
Von Anfang an bringt Rapper Rappo seinen Song vom Schicksal seines Lebens als Teil der Oper; eines vieler solcher Schicksale, begonnen zu Zeiten des 'Leuchtenden Pfades'.
Zwei Jahre später kommt er mit noch einem Song.
Später werden seine Songs von anderen gebracht.

Als ich Ende 2004 beschliesse aus ihrem Leben Theater über mit ihnen zu machen, fange ich an die Kinder und Jugendlichen zu zeichnen und zu malen.  

 

die Welt der Kinder und Jugendlichen der Strasse während der Proben 2005

die der Strasse haben eigene
Bewegungen
Rhythmen
Sequenzen

schaffen an
kämpfen
schnüffeln
rauchen
drängen
rein
raus
gehen
kommen
liegen
übereinander in Ecken - das hält auf der Strasse nachts warm

Hunde streunen
Busse kreischen
Autos hupen
Schritte
irgendwo

die Spastische mit Rucksack läuft hin und her, treppauf, treppab, wimmert, schlägt ihre Hand gegen den Schädel. der Kretin kreischt, lacht. Kinder in, vor Kinderbäuchen. die Dreizehnjährige, gerade auf der Strasse vergewaltigt, hört, ihr Vater sei nicht ihr Vater, dreht durch, wirft sich Männern an die Hälse, tanzt in durchsichtigem Kleidchen.
Schlurfen, Rumliegen, Aufkommen, Aufsagen.
Seifenopern im Fernsehen. der Ton zerknallt mir die Ohren; ich drehe ihn ab, sie drehen ihn auf.
sich bewegen wie die Schönen, die Rapper. sie
greifen nach allem: ihr Mikro. öffnen die Lippen.
kommen müde vom Job. wollen nicht, nichts. kriechen ins Bett. machen Hausaufgaben, üben Zirkusnummern, trommeln, rütteln an verschlossenen Türen.
im Gefängnis stumpfen sie ab.
was sie erfahren haben, erfahren, steht in ihren Leibern, spielt mit, legt sich auf Bewegungen, Rhythmen, Sprache. alles kann gleich wieder abbröckeln, genommen werden, sich endlos verzögern.
in diesem instabilen Raum fangen sie an ihr Leben zu spielen.
ihr Rappen ist eher ein rhythmisches Sprechen sich die Texte ihres Lebens in die Gehirne zu rammen. ihr Gesang ist atonal, sie können Töne nicht halten.

 

Reihenfolge der Szenen

  1. hier herrscht Freiheit
  2. vom Schaffen eines Zuhauses für die der Strasse in bürgerlicher Umgebung
  3. aus dem Leben auf der Strasse und eher zuhause
  4. über Schule gesprochen
  5. Rapper Rappos Schicksalssong
  6. das Tischgebet
  7. die Proklamation
  8. Geduld
  9. vom Malochen auf der Strasse
  10. vom Kleinsein auf der Strasse
  11. die Drogen
  12. vom Klauen auf der Strasse
  13. wo wir auf der Strasse schlafen
  14. vom Ausstieg aus den Drogen
  15. Rapper Rappos zweiter Song
  16. die Schliessung dieses Zuhauses auf Erlass der Obrigkeit
  17. die Folgen der Schliessung des Zuhauses
Zahl und Können der Spieler schwanken von Mal zu Mal. ein sich verschiebender Kern trägt die Oper.

 

1. hier herrscht Freiheit

hier herrscht Freiheit

willst du bleiben, kannst du bleiben
willst du weg, kannst du weg

lange schon leben wir frei auf der Strasse
   frei!
   frei!
   frei!

unstetes Leben
kein fester Platz
alles ist flüchtig und immer dem Heute und Hier verhaftet
erhoffen wir nichts und nie von morgen
was zählt, ist jetzt
   jetzt!
   jetzt!
   jetzt!

und immer droht uns Gefahr von den Grossen
den vielen grossen
erwachsenen Leuten
die es gern mit Kleinen treiben
   es gern mit Kleinen treiben
   es gern mit Kleinen treiben
   es gern mit Kleinen treiben

und Kinder suchen wir Schutz bei Kindern
haben Acht
schützen einander vor den Grossen
auch den Bullen

immer dreschen die auf uns ein
   dreschen
   dreschen
   dreschen

führen uns ab aufs Revier
lassen uns ihre Klosetts scheuern
vierundzwanzig Stunden lang
   länger
   länger
   länger

sperren uns zwei
drei Wochen ein
und niemand ist für uns da

da kommt diese Frau
für mich
streitet sich rum
mit den Bullen
ganze Nächte
lässt nicht locker

abgeführt
nachts gegen eins und
keiner kommt mich verteidigen
kommt keiner mich verteidigen
geht's morgen ab in den Knast
   ab in den Knast
   ab in den Knast
   ab in den Knast

und morgen ist jetzt
und ich rufe sie an
und sie kommt
spricht mit den Bullen
klärt sie auf über meine
Rechte
lässt nicht locker
   lässt nicht locker
   lässt nicht locker
   lässt nicht locker

das geht so bis nachts gegen drei

endlich kann ich da raus
   alle können wir raus
   alle, alle können wir raus
   alle, alle können wir raus

da kapiere ich
dass jemand uns hilft
dass da eine Person steht und sagt:
hier bin ich
bin nicht deine Mutter
bin irgendwer
aber ich bin für dich da

nie kümmerte sich jemand um mich
nie suchten mich meine Eltern

und sowas, unsereins nie geschehen
und ich glaube, das ist es,
willst du weg von der Strasse
dass jemand sich um dich kümmert
denn
wenn jemand sich um dich kümmert
dann fühlst du dich
geliebt
gesehen
dir unter die Arme gegriffen
von einer Person, die dir sagt:
ich bin für dich da
ich verteidige dich
du bist nicht allein auf der Strasse
das, dass einer sich unsereins annimmt
macht dass wir uns ändern
   uns ändern
   uns ändern
   uns ändern

nicht heute
nicht morgen
nein
nicht alle

die Angestellten der Häuser sind von der Strasse wie wir
die Leutchen machen sich
mit jeder Scheisse, die sie bauen, weil sie's nicht besser wissen, werden sie besser

durchtränkt der Strasse
geschmiedet im Feuer
der Kälte da
Verachtung und
Tritte gewohnt und
Freiheit - ja doch
fangen sie an Hausregeln zu schreiben
eine Grammatik des Miteinanders
wir miteinander
aufgrund unserer Erfahrungen, den
von uns gesammelten Erfahrungen

 

2. vom Schaffen eines Zuhauses für die der Strasse in einer normalen Umgebung

Chor der Kinder und Jugendlichen und zwei, drei Nachbarmädchen
während des Singens bauen die Kinder und Jugendlichen an ihrem Zuhause, üben Zirkusnummern, malen. die Nachbarmädchen fallen mit einem Abzählreim ein, mit Worten, die für sie noch keine Bedeutung haben.
(die Melodie ist von Paul Hindemiths Singspiel: 'wir bauen eine neue Stadt'. ich sang dieses Lied kurz nach dem Krieg.)

wir bauen hier ein neues Haus
es soll das aller schönste sein
es soll das aller schönste sein
   aller schönste
   aller schönste
   aller schönste

wir bauen hier ein neues Haus
es soll das aller schönste sein
es soll das aller schönste sein
   aller schönste
   aller schönste
   aller schönste

wir bauen hier ein neues Haus
es soll das aller schönste sein
es soll das aller schönste
   aller schönste

Nutten
   aller schönste
Nutten
   aller schönste
Dreckschweine
Schläger
Drogensüchtige
Schwule
Scheissratten!
ab!

Nutten
Nutten
Dreckschweine
Schläger
Drogensüchtige
Schwule
Scheissratten!
ab!

Nutten
Nutten
Dreckschweine
Schläger
Drogensüchtige
Schwule
Scheissratten!

 

3. aus dem Leben auf der Strasse und eher zuhause

mein Gott!
der Polizist pisst auf die Göre
zieht seinen Knüppel

nicht hinschauen
nicht hinschauen
schon meine Kindheit war nicht gerade rosig
das Leben setzt mir schonungslos zu
Polizisten pissen, bepissen mich
verpassen mir ordentlich Prügeln und Tritte
Ratten haben keine Seele
es gibt keine Regeln
und keiner sagt:
Schluss!
aus!
   Schluss!
   aus!
   Schluss!
   aus!
   Schluss!

niemand begegnet uns mit Respekt

die wollen Respekt
wollen Respekt
wollen Respekt
wollen Respekt
Prügel rechts
Prügel links
lautet das Gesetzt der Strasse
Ratten haben keine Seele
Ratten haben keine Seele
Ratten haben keine Seele
und all die Heime
wo du kaum da
Misshandlungen zur Ordnung zählen
Misshandlungen rechts
Misshandlungen links
Spritzen rechts
Spritzen links
lautet das Gesetzt der Heime
Ratten haben keine Seele
Ratten haben keine Seele
Ratten haben keine Seele

Gewalt!
Gewalt!
Gewalt!

meine Eltern kreischen
schlagen sich die Schädel ein
Hände
schlagen
Hände
betatschen mich
Mama!

wir schänden Gören
dreizehn
vierzehn
Jahre alt
Mama schreit
du Schlampe du!
ich klage an!
wir bestechen!
ich will Liebe
Liebe
Liebe
Liebe
Liebe
Ratten haben keine Seele
Ratten haben keine Seele
Ratten haben keine Seele

wollen Respekt
wollen Respekt
wollen Respekt

ich klage an!
wir bestechen!
ich will Liebe!

 

4. über Schule gesprochen

wir von der Strasse studierten gern
die Schule schon ist uns versagt
wir haben keine Schuhe
keine Uniformen
oft habe ich vor Ohnmacht geheult
konnte nicht denken

Ohnmacht
Ohnmacht
   Wut
   Wut
Ohnmacht
Ohnmacht
   Wut
   Wut

Rappo!
Rappo!
Rappo!

 

5. Rapper Rappos Schicksalssong

O.K.
O.K.
hier bin ich
euer Rappo Original!
ich singe Euch jetzt die Geschichte meines Lebens
eines Lebens
vieler Leben in
diesem prächtigen Land

kaum hält meine Mutter mich liebevoll im Arm
1982
überkommt das Land ein grausamer Alptraum

Soldaten der Regierungstruppen
ermorden
unschuldige
Väter
Mütter
Söhne
Töchter
ermorden meinen Vater
ermorden meine Mutter
es fliesst viel Blut

ganz klein noch und
ohne Erklärung für all die verschwundenen Leben, das viele
Blut
stehe ich in der Stadt meiner Leute, Ayacucho,
allein

wo bist du Regierung
wenn deine Soldaten unschuldige Bürger
niedermetzeln und
Waisen, des Laufens kaum fähig,
ziellos der Strasse anheim-
fallen

ich weiss
ich weiss
ich bin nur einer
der Familie beraubt
der Familie beraubt,
vor Armut der Strasse Beute
gibt's ganze Heere auf Erden

behandele uns mit Sorgfalt
meine Leute fordern das
Kinder werden geboren zu leben
nicht misshandelt
missbraucht zu werden

der Kinder Stimme erhebt sich
doch du Regierung zeigst uns die kalte Schulter

Ihr da oben
was ich Euch sage
wisst Ihr:
Korruption herrscht weiter
landauf
landab
lasst uns kämpfen ihrer Macht zu widerstehen

Ihr seht
hört
sagt ja und
tut nichts
Eure Hände sind schmutzig schmutziger Geschäfte
ist Euer Lieblingsspiel doch Korruption

auf die Strasse gespuckt
nicht die leiseste Spur von Verständnis
lassen Scharen Kinder
sich ein auf Drogen
unterwerfen sich deren Gesetzen, deren
mörderischen Gesetzen
das Erlittene zu vergessen
Hunger und Kälte nicht länger zu spüren
nicht länger dran denken zu müssen
schauen die sie liebende Mutter
die lange schon tot
verkümmern massenhaft
krepieren unter Ratten

die Droge ist
Weltseuche, keine
Lappalie, hart die
Therapie, immer
unterbrochen, jede
Unterbrechung von jetzt an der
sichere Tod, es ist
schwer mit zerfressenen Lungen zu
sprechen

wir der Strasse brauchen
Hilfe, brauchen
Verständnis, brauchen
Liebe

unsere Rechte missachtend, ja, die
Rechte sind auch unsere
Rechte
schnauzen
Ordnungshüter uns an
schlagen
treten uns
führen uns
ab

nichtsnutzige
Scheissratten!
wir kennen nur eine Frau
die mit uns für unsere Rechte kämpft
die jedem von uns ihre Liebe schenkt
wie eine Mutter
uns Schutz und Obdach bietet

verehrter Herr Richter
verehrter Herr Staatsanwalt
wir sind müde aller Misshandlungen
müde aller Korruption

es wachse die Armut
bereichere sich der Reiche
werde habsüchtiger und
erbarmungsloser

 

6. das Tischgebet

Vorsänger und Chor der Kinder.
gregorianischer Gesang.

Vater unser
   Vater unser
wir danken Dir
   wir danken Dir
für das Essen
   für das Essen
mögen alle Kinder
   mögen alle Kinder
Essen haben
   Essen haben (und Saft)
im Namen des Vaters
   im Namen des Vaters
und des Sohnes
   und des Sohnes
und des Heiligen Geistes
   und des Heiligen Geistes
Amen
   Amen

was ist Heiliger Geist?

 

7. die Proklamation

ein Sprecher, eine Stimme, Chor von Leuten, ein Kind.
eine Szene wie im Hyde Park.

wir internieren alle
Armen
Schwachen
Kinder
Alten
dass die Welt vor Freude erstrahle
vor Freude erstrahle

dass die Welt vor Freude erstrahle
vor Freude erstrahle
noch hat die Kastration nicht begonnen
es geht um die Hälfte
Zweidrittel der Weltbevölkerung

hiermit erklären wir die Strasse zum Internierungslager
sie ist das reinste Gefängnis

das reinste Gefängnis
im Namen der frohen Botschaft
schnüren wir allen den Mund
schnüren sich alle den Mund von selbst
schlachten unsre tapferen Soldaten
Hunderte
Millionen
ein Heiliger!
ein Heiliger!
was ist ein Heiliger?

 

8. Geduld

das Problem ist
wir wollen alles schnell, schnell
sind immer in Eile
müssen Geduld
üben
uns in Geduld
üben
Geduld mit uns selbst
Geduld mit denen
die uns helfen wollen
gewohnt von der Hand in den Mund zu leben
und nur das Jetzt zählt
schaffen wir knapp die kalte Nacht wie
die Mädchen und Jungs im Zentrum
auf dem Strich
die sich zu dröhnen
klauen

 

9. vom Malochen auf der Strasse

Bauchladen-Händler, Bettelkinder, Bettler, ein Tanzlehrer mit Mädchen, der Kretin...
diese Szenen werden von Kindern und Jugendlichen als Spiel im Spiel gespielt.
seit 2008 ist dies, wenn möglich, der Teil derer, die auf der Strasse leben.

im Minibus - 1
meine sehr verehrten Damen und Herren
mit allem Respekt
der Ihnen gebührt
guten Tag
ich verkaufe Bonbons
Bonbons?
Bonbons?
Bonbons?

im Minibus - 2
meine sehr verehrten Damen und Herren
mit allem Respekt
meine Geschwisterchen, ich, wir
haben keine Brot
Brot?
Brot?
Brot?

im Minibus - 3
verehrte gnädige
Frauen
Eltern
Herren
bitte
zwei Cent

zwei Kleine tanzen im Stau auf der Strasse zu Musik von Kumpels, andere sammeln Geld ein.

im Minibus - 4
meine sehr verehrten Damen und Herren
mit allem Respekt
der Ihnen gebührt
ich habe AIDS
Tuberkulose
bin drogensüchtig
noch eben
dann kratze ich ab
ich brauche Essen
ich singe Ihnen jetzt die Geschichte meines Lebens

der Mann erhebt den Bus zur Bühne, singt/spielt
Mutter/Tochter.

ich bin geschändet
Mamachen

dein Vater ist nicht dein Vater mein
Mädchen
das Mädchen bietet sich an:

ich tue alles, was Sie wünschen
ich tue alles, was sie wünschen

du Schlampe du!
ich rasiere dir den Schädel
kahl
ich zittere
glühe
schreie
schreie
stosse die Faust in die Luft
ich will einen Macho
will einen Macho
Ma-
cho!

ein Tanzlehrer mit Mädchen kommt auf, spricht und klatscht dabei den Rhythmus.

Hacke
Zehe
Hacke
Zehe
vor
vor

Hacke
Zehe
Hacke
Zehe
vor
vor

Hacke
Zehe
Hacke

der Kretin tanzt zu einer Schnulze, schmeisst Kusshändchen ins Publikum.

Jungs
wir spucken auf den Boden
spucken auf den Boden

ein Mädchen mit Brüderchen und Schwesterchen
auf der Strasse
auf der Strasse, immer
auf der Strasse
Mama
Brüder
Schwestern
ich

nein, das mag die Tante nicht
dass wir auf der Strasse schlafen

 

10. vom Kleinsein auf der Strasse

als ich klein war
gaben mir alle was
ich schlief an Strassenecken

armes Würstchen!
suchte Anschluss bei Kinderbanden
die stürzten sich auf mich
filzten mich
ich hatte doch nichts
schubsten mich rum
machten mich an
nahmen mich nach und nach auf

 

11. die Drogen

beim ersten Mal Kleister kotzte ich
griff wieder zum Plastikbeutel
schnüffelst du nicht, bist du draussen
sie lachten mich aus

tief in der Scheisse
schafft Kleister Zerstreuung
ich sehe meine
Mutter, sehe
ihr Gesicht
ihr schönes
Gesicht
sie ist tot, sagen sie
sie ist tot
ich schaue in den Himmel
schaue in den Himmel
sehe ihr Gesicht

mein Stoff ist
Kleister
mit Kleister bin ich
bei meiner Mutter
meiner Familie

mit Koka-Pasta läuft bei mir nichts
die Pasta radiert dich aus
meine Kumpels verstummen
ich kann nicht sprechen
mit Kleister schaue ich geil drauf los
meine Mutter
das Meer  

Kinder schnüffeln, fallen um. eine Mutter mit Baby kommt, sucht ihre Kinder, hebt schliesslich das Baby gen Himmel. die Jungs erheben sich, gehen zu ihr hin, wollen das Baby berühren, schreien, grabschen nach ihren Brüsten: wieviel? die Mutter schmettert das hochgehobene Baby zu Boden, geht. Der Balg wird hin und her getreten. die Mutter ist weg. die Kinder liegen wieder am Boden.  

ein Mädchenchor.

immer sehen wir wie
sie uns misshandeln
uns verprügeln
dass die Festzen fliegen
unsere Papas

immer sehen wir wie
sie uns misshandeln
uns verprügeln
dass die Fetzen fliegen
unsere Papas

immer sehen wir wie
sie uns misshandeln
uns verprügeln
dass die Fetzen fliegen
unsere Papas

die Jungs erheben sich, rennen wie unter Fausthieben, schreien.

rennen
rennen
unter
Prügel
rennen
rennen
unter
Prügel
rennen
rennen

 

12. vom Klauen auf der Strasse

ein Junge, eine schicke Frau.

als Kind ist es manchmal nicht leicht
wenn einer um seine Sachen flennt
das geht mir an die Nieren
besonders bei Frau'n
da kratze ich einer
beim Kette Klauen die Haut auf
beim Runterreissen der Kette
kratze ich ihr die Haut auf
kommt Blut raus

elende Ratte
gib mir...
beruhigen Sie sich, gnädige Frau
bitte
verzeihen Sie mir

die anderen Kinder lachen sich kaputt

er kann die Kette nicht verkaufen
kann die Kette nicht verkaufen
kann die Kette nicht verkaufen

 

13. wo wir auf der Strasse schlafen

Kinder, ein Maskottchen, ein Hund.

wir liegen zuhauf in Verschlägen am Fluss
auf Plätzen und Strassen auf Bänken
tauchen im Dunkel zu Horden da auf
hauen uns hin
dröhnen uns zu
bis wir schlafen bleiben

die Kinder schlafen mit ihrem Maskottchen, mit irgendetwas, das lebt, vielleicht das Baby. der Hund kommt auf, umkreist die Kinder, schnüffelt an ihnen, knurrt sie an, hebt das Bein, pisst. die Kinder schmeissen ihm das Maskottchen hin. der Hund zischt ab, in der Schnauze das Maskottchen. die Kinder schlafen weiter. es können auch zwei Hunde sein.

 

14. vom Ausstieg aus den Drogen

tagaus
tagein
Beutel nach
Beutel
viele Kumpels schaffen sich weg

'Kleiner Fels' starb hustend
'Alte Fratze' kratzte ab
im Maul die Koka-Zigarre

ich kriege Schüttelfrost
Pusteln
das dauert
immer
greife wieder zum Plastikbeutel
mir ekelt
ich kotze
kotze
greife wieder zum Plastikbeutel
Blödmann, ich
Blödmann!

mein Stoff ist nicht mehr mein Stoff

nein, da ist kein Ziel
weswegen
ich habe es satt
bin müde der Zeit auf der Strasse
des Schlafens im Dreck
mit Ekel erregendem Leib
verklebtem Gehirn

der Auslöser?
ich hörte
ich könne echt raus da
ab von den Drogen
weg von der Strasse
setze alles auf alles
will raus da

ich schnüffele nicht mehr
rauche nicht mehr
bin Umweltkind
wir pflegen die Grünanlagen der Stadt
gehören der
'Nationalen Gewerkschaft arbeitender Kinder und Jugendlicher'
unseres prächtigen Landes an
ich gehe zur Schule
will studieren

die Mädchen da?
arbeiten
dreizehn
vierzehn Jahre alt
haben ihre Kinder bei sich
gehen zur Schule

 

15. Rapper Rappos zweiter Song

auf der Strasse leben ist schwer
mach's nur
es sei leicht, denkst du
meine eiskalten
Kinderfüsschen erinnere ich genau
mein einziger Trost ist der Wunderkleister im
Plastikbeutel
rechts
links
alle mit
Plastikbeuteln
Freunde
alles
Freunde

ich bin das leibhaftige Zeugnis
dieser in Lupen gehüllten Gestalten
die sich stark wähnen, so
   stark
   stark
   stark

viele Kumpels hat sich der Tod
schon geholt

mörderische Gesetze
keine Lösung
so ist das Leben
wer nicht kämpft
geht vor die Hunde

nur noch berauschen

na ja
ich wusste nicht ein noch aus
brauchst 'ne Menge Zeug als Kind
jagst hierhin, dahin
in der riesigen Stadt

so viele Stimmen

vermaledeiter Kleister du
wie oft habe ich dich nicht geschnüffelt
mich voll zu saugen der Illusionen
mich wohler zu fühlen
zu denken es gäbe kein Übel

auf der Strasse leben ist schwer
du hast keine Wahl
musst aushalten

nachts weinen meine Augen
weint der Himmel
weinen alle über irgendetwas

muss weitermachen
'ne Lösung suchen

da richtet der Bulle
die Knarre auf mich
im Anschlag
Mann, frage ich
was haste
was is
Chef!
ich bin knapp elf
hab nichts aufm Kerbholz
er drischt auf mich ein
führt mich ab
zack!
ich kriege kaum Luft
zack!

bis heute erinnere ich diesen Idioten
der meine Aufsässigkeit schürte
meine Wut
hat sich mir eingekerbt

die Grau
der Platz Bolognesi
meine Gehege erinnere ich gut
mein Gott!
all die Strassen
all die Nächte im Loch
misshandelt

mich trifft keine Schuld an meinem Schicksal

da gab jemand meinem Weg 'ne andere Richtung
ein Ziel
die Erinnerung bleibt

 

16. von der Schliessung des Zuhauses auf Erlass der Obrigkeit

die Front der Kinder steht der der Nachbarn unter Polizeischutz gegenüber.

am 17. Mai 2005
rückt eine Hundertschaft an
mit Richterin
feuern uns raus
aus dem Haus
auf die Strasse

weg mit diesen
stinkenden Armen
Nutten
   Nutten
Nutten
   Nutten
was sind Nutten?
Dreckschweine
   Dreckschweine
Schläger
   Schläger
Drogensüchtige
   Drogensüchtige
Schwule
   Schwule
Scheissratten
   Scheissratten
was sind Scheissratten?
verpisst euch
   verpisst euch
die Gemeinde will Ruhe
   will Ruhe
ab in den Knast
   ab in den Knast
da gehört ihr hin
   gehört ihr hin
zur Hölle mit euch
   Hölle mit euch
verpisst euch
   verpisst euch
wir arbeiten
gehen zur Schule
wir arbeiten
gehen zur Schule
wir arbeiten
gehen zur Schule

gebt uns unser Haus zurück!
gebt uns unser Haus zurück!
gebt uns unser Haus zurück!

 

17. über die Folgen der Schliessung dieses Zuhauses

wieder leben wir auf der Strasse
das ist hart
Herr Richter
Herr Staatsanwalt

wir kämpfen weiter
für ein besseres Morgen
wo immer wir sind
stehen nicht länger allein da
werden geliebt!

ich bitte um eine Minute Stille für unsere Kameraden
Hermann
Josef
Jesus
Isabella
Peter
schutzlos
beraubt unseres Hauses seitens der Obrigkeit
starben sie
vor Hunger
vor Kälte
an Tuberkulose

 

hier herrsch Freiheit

willst du bleiben, kannst du bleiben
willst du weg, kannst du weg

 

letzte Korrektur Januar 2023

 

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