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Luna/2

V. Der Brief

Stille.
auf dem Tisch, an dem M und S sitzen, liegen Masken von M, ein Brief an ihn.
eine nackte Glühbirne über dem Tisch ist an.
S liest den Brief an M.
M, die nach Verwesung riecht, setzt irgendwann eine der Masken dieses/jenes M auf.

S
ich schreibe dir immer wieder. und all die Worte, die ich dir aufschreibe und nicht abschicke: eine Kordel, gedreht aus Worten. nicht ausgestossen zerschellten sie mich. nicht ausgeworfen, fielen sie auf und in mich zurück, erstickten, erdrosselten mich. ich werfe die Kordel aus, mich aus, in deine Richtung, ein-, zwei-, drei-, vier-, zigmal in deine Richtung. die Kordel muss mich halten, muss mich transportieren, ich muss mich halten, ich muss mich transportieren, immer, immer von neuem. manchmal ist die Kordel, bin ich zu brüchig, manchmal zu schwer. fieberhaft bessere ich aus, verbessere, nehme zurück, füge hinzu. hat sie, habe ich dich erreicht? hast du sie befestigt? ein Wort. bitte. ich frage nicht. ich fürchte, dass du sagst: hör auf! - lieber in Ungewissheit. fürchte, dass du dich gezwungen fühlen könntest, meinen Anblick nicht mehr ertragen kannst. dich abwendest. mich abweist. mir Almosen gibst. Almosen stempeln den Bettler. mit Bettlern spricht man nicht. ich kann mich doch nicht einfach so in den Raum auswerfen.

M
du marterst.

S
Wissen martert. das Singen, das es hervorruft, wenn es Raum und Zeit spaltet.

geht es dir gut? du sagst: "jeder Brief, der in mein Haus kommt, wird innerhalb der darauf folgenden vierzehn Tage beantwortet und abgelegt. das ist die Regel." das ist schon lange her, sehr lange. am Anfang. auf deine Briefe antworte ich gleich. wo sind meine Worte. was tun sie dir.
vielleicht träume ich nur, dass ich schreibe. ja, ich schreibe und vernichte das Geschriebene sofort. es gibt Briefe, die, wenn nicht sofort abgeschickt, ihre Gültigkeit verlieren. geschrieben aus Nacht, können sie die kommende oft nicht unbeschadet durchstehen. Nacht leckt an Worten, macht sie fade, bleich. es gibt Nächte, die alle kommende Nacht überschatten, verkümmern, nicht geschehen lassen, den anderen zerschellen lassen, weit ab. und die unbarmherzigen glatten Tage, die keine Runzeln, keine Schatten, nichts, was aus Nacht ist, dulden. manchmal bitte ich Kinder den Brief für mich einzustecken. der Brief muss unterwegs verloren gehen. wieviele mögen unterwegs verloren gehen. Horden von Vögeln umkreisen die Postzüge. die Waggontüren lassen sich nicht mehr schliessen. stehen offen. die Postsäcke, zum Erbrechen voll, auch offen. keiner schnürt sie mehr zu. der Postzug rast durch die Nächte, das Schlagen von Türen, Briefe flattern, rast ohne Halt. ich habe kein Recht so zu sprechen. du schreibst. deine Briefe kommen selten, zu unbestimmten Zeiten. das ist nicht leicht. ich lauere auf den Postboten. jeden Tag. ich nehme die Umschläge an. lächele ihn an. das Blut steigt mir ins Gesicht. Postwurfsendungen, Drucksachen, Mitteilungen. bis zum Mittag kann ich hoffen. die letzte Stunde. ich schaue immer öfter in die Richtung, aus der der Postbote kommt. jede Bewegung, jeder Schatten. das Schauen ist wichtig. oft kommt nichts. dann muss ich aber sicher sein, dass mein Postbote unser Haus auf seiner Runde schon passiert hat. solange er das Haus auf seiner Runde nicht passiert hat, besteht Hoffnung. warte ich. die Lähmung, die dieses Hoffen, dieses Warten auf immer wieder hervorruft, klingt erst ab, wenn ich sicher bin, dass er das Haus passiert hat. manchmal gehe ich weg, tue, als sei es mir egal. nach vier Uhr kommt nichts mehr. noch ein Tag. noch einer. ich starre vor mich hin. ein eingekerkertes Tier, laufe ich hin und her. taub. dein Schweigen peitscht mich. ich kann mich seinen Hieben nicht widersetzen. um mich herum dieser Krach. ich drücke mir einen Stift in die Hand. schreibe dir. habe wieder Grund zu warten, das Gefühl eine Richtung zu haben. ich gebe mir diese Richtung selbst, das Verstehen, mein Kommen.
ein Brief von dir löst alle Spannung, kurz nur. du bist nicht tot, nicht tot für mich! manchmal begreife ich den Inhalt deiner Briefe erst spät.
du hattest gesagt: ich verstehe.
du hattest gesagt: schreibe auf.
du hattest gesagt: ich spreche gern mit dir.
du hattest gesagt: du weisst dass, wenn wir uns treffen, wir immer bis zur letzten Minute unsere Gedanken austauschen.
und: du marterst den Leser.
und: lass uns sprechen, bei nächster Gelegenheit.
und: ich hing meinen Käfig ins Nichts, zwischen Himmel und Erde. ich will frei sein und Schöpfer.
und: du wirst das alles brauchen, irgendwann, wenn du dir deinen eigenen Käfig einrichtest.

während der letzten Sätze trifft der weisse blasse Lichtstrahl auf M als M.
ein Ansatz von Leierkastenmusik.
M
schön bin ich, stolz, die Welt liegt mir zu Füssen.
"nimm mich", schreit die Welt.

 

VI. Das Haus

in diesem Haus ist das Licht immer gleichmässig hell und klar, auf eine Weise, dass man das Gefühl hat, es gäbe keinen Schatten, keinen Staub.
das pralle Geräusch von draussen dringt hier nicht ein.
M als M empfängt S lächelnd mit nach vorn gestreckten, ausgebreiteten Armen. ein Kuss rechts, ein Kuss links. beider Hände gleiten für eben an die Kehle des anderen.

M
mein Haus hat ungeschriebene Regeln,
du kannst dich ihnen nicht widersetzen.
gehe in den Duschraum,
ziehe dich aus,
wasche, spüle den Strassenstaub, den Reisegeruch von dir ab.

S
ich

M
deine persönlichen Sachen, Papiere kannst du solange da hinlegen. du brauchst sie hier nicht.

auf dem Dachboden spielten wir Doktorchen.
als ich ein Knabe war, fing ich die Fische mit blosser Hand.
an der Ecke wohnte der Kinderlocker.
er liess die Mädel zu sich kommen, gab ihnen Äpfel.

S
du saugst den Mund ein.
rollst die Augen weg.

M
nun kommt doch nur und seht mich an, bin ich nicht ein schöner Mann.
willst du spielen?

S
ich schaue.

M
willst du essen?

S
ich habe keinen Hunger.

M
es gibt hier keinen Staub, keine Dämmerung.
willst du spielen?

S
du hast Angst.

M - den ersten Satz wie aus anderer Ebene heraus sprechend.
im Morgengrauen bringen wir dich zur Mauer!
willst du spielen?

wozu bist du gekommen?
wozu bist du hier?

S
wozu hast du mich gerufen?

M
ich kenne das Leben.

nun kommt doch nur!

S
mit brennenden Schmerzen kehrt das Leben in abgestorbene Gliedmassen wieder.

M
nun kommt doch nur und seht mich an!

S
ganze Menschenscharen klumpen an einem Menschen. sie sind so mit ihm verwoben, dass wenn wir den einen berühren, wir auch den und den

M
Chimäre, Ungeziefer!

S
und wieder einen berühren
- deine Augen! -,
beruhigen müssen.

M
nun kommt doch nur!
willst mich zu dir in den stinkenden Schlamm zerren.

S
und ich!
und ich!
und ich!

M
ich gebe dir, was du brauchst, gern.

S
dein Lächeln!

M
mein Ziemer zischt auf dich nieder.

S
es ist schwer die Hand des anderen zu berühren.

M
dich
nie-
der!

musst du nichts essen?

S - fängt an eine 'lustige' Geschichte zu erzählen, eine Begebenheit mit drei möglichen Abläufen.
ich reisse die Tür auf. auf dem Tisch liegt die Fliege, auf dem Rücken. die spillerigen Beine zappeln in der Luft.
"ich habe solange auf Sie gewartet", sagt die Fliege.
"vertrieb mir die Zeit mit Summen", sagt die Fliege.
"sehen Sie, wie mager ich bin. nur Panzer. noch."

M
du!

S
"drehen Sie mich um.
ich brauche Nahrung.
so komme ich nicht vom Fleck."

M
tot!
tot! trampele dich
tot!

S
ich fege die Fliege vom Tisch.
widerlich.
ich zertrete die Fliege.

M
das Volk versteht.
du

S
zweite Möglichkeit:

M
bedrängst mich.
höhlst mich aus.
wucherst von meiner Substanz auf meinem Weg.

S
"... schliessen Sie die Tür.
drehen Sie mich um!
setzen Sie sich zu mir an den Tisch."

M
Huren schaffen wir vor die Stadt.

S
ich schliesse die Tür - ich mag keine geschlossenen Türen.
ich drehe die Fliege um - ich muss mich überwinden.
ich setze mich zu ihr an den Tisch.

M
schön bin ich, stolz.

S
"dein Panzer glimmt.
die Tür ist geschlossen.
du hast keine Hand sie zu öffnen.
du kannst mich nur ganz verzehren.
und wenn du damit fertig bist?"
"machen Sie die Tür auf!", sagt die Fliege.

das Telefon klingelt.

M - geht ans Telefon.
nur das Frühstück.

kommt zurück.

S
ich muss gehen.

M - nimmt rasch ein Buch zur Hand, liest vor.
"aufgegangene, noch ungebackene Milchbrote
fallen sie aus ihrer Bluse.
und zwischen ihren Beinen,
olé! olé!"

S
dritte Möglichkeit:

M
das Volk versteht!

S
ich hätte dir die Hand nicht entgegenstrecken dürfen.
ich habe es getan.
ich habe die Hand zurückgerufen.

M
musst du nichts essen? die Reise ist lang.

S
du bist gut zu mir,
wie gut du zu mir bist.

wenn ich komme und kurz vor Ablauf meiner Frist, legen wir für winzige Augenblicke Hand an die klopfende Kehle des anderen, Auge in Auge, stumm. in diesen Augenblicken, die die Ewigkeit sind, liegt alles offen. ich bange vor diesen Augenblicken, bange, dass es sie nicht gibt, unsere Blicke sich meiden, dass sie mich wegsaugen. diese zwei Augenblicke, verlangte man von mir die ganze Frist über regungslos dazusitzen, nur vor mich hinzustarren, ohne Laut, ich käme.

zwei Heere kommen aufeinander zu,
zwei Heere ziehen dicht aneinander vorbei,
ziehen durch zwei verschiedene Städte in einem Raum.
du in dem deinen, ich in dem meinen.
auf dem Rummel geraten sie kurz durcheinander.

M
willst du spielen!

S
wenn wir erschöpft schweigen, die Stätten, die Wege abbröckeln, die Heere verblasst, verstummt, ohne Kommando -
das Gewicht der Leere drückt uns auf unsere Plätze.

M
willst du spielen!

S
ich habe kein Heer.

 

VII. Die Kanzel

ihr erstes Aufkommen in der Helle des Raumes, in einer Lichtaussparung. das helle Licht drum rum wird streifig, staubig.
nach dem Schlussakkord eines Kirchenliedes - auf einer Orgel oder einem Harmonium - der letzte noch angehaltene Ton bricht ab - spricht M oder ihre, seine Stimme vom Band; wer, kann nicht wirklich festgestellt werden.
die ganze Atmosphäre atmet Weihrauchschwaden.

M oder M's Stimme - wie vom Band.
selig, die tot sind im Herrn.
der Tot hat keine Macht über Tote.
Tote brauchen das Sterben, diesen schmerzhaften Alleingang, dieses
einsame Verbrechen, nicht zu fürchten.
Tote sterben nicht, nie.
Tote sind im Paradies, von Anbeginn.
tot sein, ist unbelangbar, unbestrafbar sein.

S
dritte Möglichkeit:
... ich drehe die Fliege um.
ich setze die Fliege auf meinen Handrücken.
"Sie dürfen meine Hautschuppen essen", sage ich.
sie haut in mein Fleisch.
ich schlage sie von mir ab.
sie kommt wieder.
ich verlasse diesen Raum.
sie bleibt um mich herum.
frisst meine Hautschuppen.
auch ich habe Hunger.
was ist schon an einer Fliege, für mich?
wir laufen durch die Korridore.
ihr Panzer glimmt!
finde ich keine Nahrung,
mache ich mich irgendwann mit brennenden Augen über sie her.

 

VIII. Wieder die Jimmytreppe

das Licht ist so gut wie aus.
das Geräusch der Jimmytreppe von irgendwoher im Dunkel, noch hinter dem dunkleren Flecken, in dem die Kanzel steht oder stand, woher, ist nicht wirklich festzustellen, ist auch egal.

sensationell, das ist
sensationell! rechts und
links ist ein rotes Ge-
länder. die Damen und
Herren direkt an dem
Geländer können sich
an dem Geländer fest-
halten. he-
ben Sie die Füsse! nicht
auf den Boden schauen!

meine sehr verehrten Damen und Herren!
zertretet ihnen die Kehlen, die letzten Schreie!

 

IX. Das Getanztwerdenwollen der Hüterinnen, der zwei Starken in ihren Gerüsten

grelle Scheinwerfer leuchten alles schlagartig gnadenlos aus. Trommelrhythmus.
abwechselnd sprechen M und S, monoton, immer in der gleichen Tonlage, zum Rhythmus der Trommel oder sprechen so, dass man eine Trommel vermutet. die Stimmlage von M ist tiefer als die von S - oder umgekehrt.

S
sie sind stark. sehr stark. essen Stärke. brauchen Gerüste um ihre Stärke leichter tragen zu können.

M
da die Gerüste nicht leicht sind, brauchen sie Stärke.

S
die Gerüste machen sie ziemlich unbeweglich. sie laufen nur mit den Beinen. sie seufzen und prusten dabei.

M
bei allem, was sie tun, prusten sie.

S
allein das Prusten kostet schon Stärke. ihre Gesichter sind rot. sie greifen noch einmal zu. sie laufen nicht wirklich. die Füsse erreichen den Boden nicht mehr.

M
sie hängen in ihren Gerüsten und zappeln.

S
sie können sich nicht mehr absetzen.

M
von nichts.

S
Füsse brauchen immer einen Grund zum Laufen.

M
in ihren Gerüsten hängend, werden sie geschoben - je ein Diener.

S
zwei, drei, vier.

M
die Diener stehen auf Abruf bereit. sie sind nicht angekettet.

S
nein.

M
die Gerüste?

S
Qualität. bei guter Pflege halten sie ein Leben lang.

M
zwei, drei, vier.

S
es ist schwer Tote aus ihren Gerüsten zu befreien. man muss sie herauszerren, heraus brennen. muss die Gerüste auseinanderschrauben. muss sie verbrennen, samt den Gerüsten. man kann

M
auch warten, bis sie verwesen. dann rieseln sie von selbst heraus. der Gestank? der süssliche Verwesungsgeruch? merkwürdigerweise

S
ist der schon nach drei Tagen nicht mehr zu riechen. das Herausrieseln kann allerdings sehr lange dauern.

M
wie lange?

S
wir können nicht soviel vertragen. eigentlich ist es so, dass, wenn

M
Gestank vorbei ist, alles ziemlich schnell geht. der Gestank ist Ekel erregend. und der Anblick, den der Verfall bietet! das Gewebe

S
löst sich von den Knochen, die Haut zeigt Risse, Löcher. die Farbe ist jetzt grau. erst

M
war sie noch gelb und blau und grün. golden könnte man denken, bei richtiger Beleuchtung.

S
Gold, wer verfügt schon über Gold? dieses Material schlägt

M
grün aus, wird grau.

S
das ist zuviel für uns.

M
wir restaurieren.

S
wir verfügen über ganze Kolonnen Restaurateure.

M
Blattgold.

S
echtes Blattgold haben wir nicht, das ist zu teuer.

M
dafür putzen wir.

S
dass wir restaurieren, ist wirklich das beste, das wir tun können. was sollten wir mit all den leeren Gerüsten? sie sind wertlos aber nicht zu vernichten.

M
sie waren nicht billig.

S
nach dem Anblick des Elends, des Verfalls derer durch sie Getragenen würde niemand solch ein Gerüst mehr berühren wollen, geschweige denn gebrauchen

M
wollen, besitzen wollen.

S
in der Nähe von Getragenen ist es

M
immer kühl.

S
ob sie schon tot sind?

M
ob sie schon gestorben sind?

S
jung waren sie, schön. wir lagen in ihren Armen, ergossen uns in sie. ganze Nächte lungerten wir vor ihren Türen. mein Gott! wie schön sie waren.

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