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LUNA

Theater in 17 Bildern
aus dem Prosatext Für M und anderen Notizen

© Sabine Vess

Als M meinen Weg kreuzt, beherrscht M noch immer mein Blut. Ganze Tagereisen lege ich zurück um ihm Auge in Auge gegenüberzustehen. Seine Antwort über Wochen, Monate hinweg ist Schweigen.

M bittet mich ihre Arbeiten durchzuschauen. Wir fangen an einander zu zeichnen. Nackt. "Mord auf Papier", sagt jemand lange danach. Sie taucht in meinen Zeichnungen, meinen Bildern auf und ich in ihren. Ich führe sie durch die Strassen, über die Schauplätze, die in meinem Blut brennen, mich mit Kälte schlagen. Hier und da überblenden sich diese Stätten, weisen mörderische Leeren zwischen und in sich auf.

Nie können wir mit Sicherheit feststellen, wo und in welcher Konstellation zueinander wir uns befinden, was wir im anderen, in uns selbst, in dritten heraufbeschwören, was es wo auslöst. Von wo sein Nachhall kommt, wie und wie lange und in wem der Nachhall Einfluss ausüben bleibt.
Hände, Füsse, Gesicht, Stimme sprechen gleichzeitig von verschiedenen Stätten, von verschiedenen Lagen selber Stätte. Sehen schiesst in die Augen, Tod in den Uterus.
Unser Blut haftet an allem und für alles, was wir tun, bindet uns Atem, Zeit, Geschehen. Teilt es sich, zerfallen uns Atem, Zeit und unsere leiblichen Erinnerungsscheunen.

Jahre später hole ich die Gesprächsfetzen und Gedankenketten jener Plätze und Strassen wieder hervor. Aus Maschendraht, Gaze, Papier, Kleister, Farbe kommen ihre Menschen wieder auf. Von manchen bleibt nur die Haut, der Kopf, ein paar Glieder. Manche kommen nicht über den ersten Ansatz hinaus.

Dies Leben gleicht einem Gang durch einen Lunapark, jener Rummelplatzbude mit der Jimmytreppe am Anfang, die wir nur in einer Richtung durchmessen können.

 

Bilder, Geräusche, Dauer

Die Stadt, ihre Leere.
Rummel auf dem Messplatz, durch eine Menschenhautmauer vom Schlachthofgelände getrennt.
Der Lunapark mit Jimmytreppe und Fliessbändern.
Buden.
Altäre an Strassenkreuzungen.
Kammern.
Die Kammer mit dem goldenen Schrein.
Eine Kanzel.
Ein Abteil.

Kreischen von Zügen, Strassen- und U-Bahnen. Rummelplatzgeräusche. Strassenlärm.
Geräuschwände mit Lücken. Gesprächsfetzen. Gedankenketten.
Lieder.
Stillen.

Körper. Köpfe. Glieder.
Zwei Starke: die Hüterinnen.
Schattenkörper. Schattenköpfe. Schattenglieder.
Gerüste. Schattengerüste.
Ein Tisch unter einer Glühbirne.
Masken.

M ist M und M,
S immer nur S.

Es ist immer derselbe Raum und alles immer darin anwesend. Die jeweilige Position von M und S, Geräusche, Licht, Schatten machen aus, wo sie sich befinden.
Es ist möglich, dass sich alles um M und/oder S als Schatten herausstellt, nicht einmal die Schatten mehr sichtbar sind.

Dieses Luna-Leben dauert 60 höchstens 75 Minuten.

 

I. Die Leere der Stadt

das Licht ist schwach grau/violett.
schwach das Kreischen einer U-Bahn.
M und S sprechen dieselben Worte, die manchmal wie ein Nachhall, ein Echo über die weiteren Worte hinweg fallen, sich mit ihnen überschlagen.

M und S
kriecht übereinander her,
zerquetscht,
zerquetscht,
drängt nach vorn,
nach vorn gedrängt,
geschlagen.
zurückgewiesen.
ab!

Fetzen. manches sind nur
Fetzen. herausgerissen, durchlöchert, vergilbt.
nichts ist abgerundet.
dauernd hört auf, verblasst,
bricht
ab.
Rosa.
Rot.

 

II. Die eingeblendete Geburt des Käfers aus M

ein Strahl weissen blassen Lichts richtet sich auf die Geburt des Käfers aus M. meine Zeichnungen von ihr zeigten mir die Geburt. auch ich bin geneigt das, was sich aus dem Kriechen erhebt, in sein Kriechen - vor mir - zurückzuschlagen. Menschen gebrauchen das sich Herauskehren ins Kriechen um sich der mitleidigen Gunst des anderen zu versichern.
alle Geräusche sind abgeschaltet.

S
der weissköpfige Käfer würgt sich aus dir heraus.
du kannst nicht mehr.
du wirfst dich mir vor die Füsse.
du wendest das Gesicht ab.
du gebierst den Käfer.
du bist immer halb Käfer - in den Leisten die Risse.
dein Leib: sein Rücken, harter Rücken.

M
tritt zu!
zertrete,
erwürge ihn!

S
die Vorderbeinchen, heraus schon, frei,
bewegen sich weg vom Leib,
zappeln.
kratzen, zerkratzen die Stille.

den Käfer hätte ich zertreten.

der weisse Lichtstrahl, diese Szene fallen weg.

 

das Licht ist jetzt nur noch grau,
das Kreischen der U-Bahn, wieder hörbar, geht über in Rummelplatzgeräusch.
scheinbar unbeeinflusst von der gerade nicht endgültig vollzogenen Geburt und Zertretung des Käfers, nehmen M und S den Faden wieder auf.

M und S
manches scheint immer.
Zerstörung,
Vernichtung.

kriecht übereinander her,
zerquetscht,
zerquetscht. ein

Ende? aus?
leere Zeiträume liegen dazwischen - voller
Ungerührtsein, voller gellender
Angst, beherrscht von
Durst, von
Gier aus Angst vor Durst.

Schritte, schallend hohle
Schritte.

S
hinter mir.
von rechts kommen sie.

M
geh!

S
von links. sind
über mir.
und sähe ich nicht, dass

M
geh!

S
niemand mir entgegenkommt,
ich liefe mit offenen Armen auf ihn zu.
sie laufen in meinem Schritt, meinem Rhythmus.
zögern mit dem Einsatz,

nur noch das Rummelplatzgeräusch, immer schriller.

fallen ein und über meine Schritte hinweg auf mich zu.
laut.
hohl.

ich setze die Füsse immer sachter auf.
sie auch.
ich schleiche nur noch,
geduckt,
unter ihnen. ihr
Keuchen!

in einem Geräuschloch und dann gegen den Krach an.

Gegend, wo alles versandet, sich
hoffnungsvoll verrennt, nicht die
Zucht aufbringt beisammenzubleiben,
versteinert vor
Angst vor
Angst: Halte ohne Erbarmen.

 

III. Auf der Jimmytreppe des Lunaparks

einer Fata Morgana gleich, an den Rändern der Leere der Stadt. das Licht wechselt dauernd und abrupt von weissem in oranges Neon. die Strahlen drehen sich horizontal wie vertikal um selbe Fixpunkte.
Rummelplatzgeräusche.
die Stimmen von M und S überschreien die Geräusche, sind in Geräuschlücken hörbar. M als M kommt die Stimme wie sirenhafter Narkosesingsang schon aus dem Mund. beider Gesprochenes überlappt einander hier und da.
S ist noch gar nicht da, wo sie ist.

M
meine sehr verehrten Damen und Herren!

S
Stille!
aus!

M
sensationell, das ist
sensationell! rechts und
links ist ein rotes Ge-
länder. die Damen und
Herren direkt an dem
Geländer können sich
an dem Geländer fest-
halten. heben Sie die
Füsse! nicht auf den Bo-
den schauen! das rote Ge-

S
(die leere Stadt schrickt mich nicht ab.)

M
länder bewegt sich schnel-
ler als die Treppe. die
Damen und Herren, die
vergessen zurückzu-
fassen, werden vom Bo-
den gerissen.

S
(Schritte, Kreischen schrecken mich nicht ab.)

M
meine sehr verehrten Damen und Herren!
zertreten Sie ihnen die Kehlen, die letzten Schreie!

Seitentreppen stossen
senkrecht auf die Haupt-
treppe. die Zusammenpral-
le direkt an dem
Geländer sind die heftigsten.
der Rückstau ist tödlich.

Kopf hoch!

S
erst wenn ich mit eigenen Augen sehe, dass dein Haus nicht mehr da ist, leer ist, verwüstet, ich alle Ecken durchstöbert habe, komme ich nicht mehr her.
wenn du umgezogen bist, ausziehen musstest,
ein anderer drin wohnt,
ein ganz anderer.
bist du verschleppt? verschollen? tot?

M
manchmal kommen die Sei-
tentreppen von rechts. manch-
mal kommen die Seiten-
treppen von links.

ihre Richtung hört auf!

 

IV. Auf den Galerien ohne Rückkehr, Brüstungen, Auswegen

das Licht ist grau. ein weisser blasser Strahl folgt den beiden, wird heller, schwächt streifig ab; gegen Ende ist es nahezu schwarz.
alles Geräusch ist schlagartig abgeschaltet.

M
du kannst die Leere nicht überqueren,
sie ist ohne Abstand.
Winken, Rufen, die

S
Strassen ohne Ausweg, dringst du in mich ein,

M
Schreie!

S
stehst da,

M
nicht über die Stätte, auf der du dich befindest.
nicht über dich selbst.

S
lächelst.

M
Geschichten erzählt man sich,
lustige Geschichten erzählt man sich, wenn man überhaupt miteinander spricht.

nur noch diese Richtung.
kaum einer läuft am Rand.
seine letzten Groschen gibt man aus für Schnaps und Weiber.
es gibt sehr Mutige.

S
"... wenn wir vor der Kaserne stehn..."

M
der Andrang ist stark.
es gibt keine Wehe mehr.
es gibt hier viele Bettler.
sie starren einen aus hohlen Augen an.
strecken die Hand hin.
man schmeisst ein paar Münzen hin.
sieh mich nicht an! keine Bindung! das geht hier nicht.
irgendwann - es gibt kein Geld mehr, kein Entkommen.
auch hier gibt es Schacherer.
die Bürger dieser Stadt? wissen nichts, sehen nichts von dieser Stätte.
diese Stätte ist nirgends verzeichnet.
diese Stätte gibt es nicht.
was wir sagen können, gibt es nicht.

einer kommt, ringt sich zwischen deine Schenkel.
einer kommt, ringt sich zwischen deine Schenkel.
einer kommt, ringt sich zwischen deine Schenkel.

Kleines!

S
bitte!

M
das Messer geht von Hand zu Hand.
vor unseren Augen,
in unserem Namen,
unter uns geschieht.
wir sagen nichts.
lachen stark. klopfen uns stark auf die Schenkel.
reden, reden.
es gibt kein Erbarmen.
die Gesichter decken wir ab.
sagen nichts.

das ist nicht wahr:
diese Stätte sickert aus uns heraus, haftet an jedem unserer
Worte, an jeder unserer
Gebärden.
wir sagen,
tun nur noch das Allernötigste.

S
er ist ganz billig.

M
erst spät dringt zu dir durch, wo du dich befindest.

S
bitte.

M
...

das Grau der Luft wird dichter, verschluckt die Fassaden. die Wege zerfallen.
von irgendwoher ein Frauenchor:
"kein schön'rer Land zu dieser Zeit, als hier das unsre weit und breit, wo wir uns finden wohl unter Linden zur Abendzeit."

S
einer kommt, nimmt mich.
einer kommt, nimmt mich.
einer kommt, nimmt mich.

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