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Für M/2 - © Sabine Vess

6. Kammer

Hier herrscht Dunkel. Anstelle von Mündern, Augen, Ohren, Nasen, haben sie Löcher. Auch da, wo die Hände sein sollten, die Penisse, Fotzen, Brüste, herrscht Schwarz. Füsse? Die Restkörper leuchten hell in diesem Dunkel, aufgereiht entlang den Wänden. Sollten sie sich berühren wollen, müssten sie diese unhandlichen Restkörper aneinander reiben. Ob sie von einander wissen? Dies ist der Wartesaal.

 

7. Kammer

Die 6. und die 7. Kammer stehen miteinander in Verbindung.

Hier ist es hell. Die Verbindungstür wird geöffnet und Restkörper nach Restkörper hineingezogen. Hier werden den Restkörpern Prothesen verpasst. Mundprothesen, Glasaugen. Ohrmuscheln, Kunstpenisse, Kunstfotzen, Kunsthände, Kunstbusen. Die Auswahl ist gross. Die meisten wählen allerdings nicht selbst; kein Einwand, keine Extrawünsche. "Beinahe nicht von echten zu unterscheiden. Nach kurzer Zeit schon wissen Sie's nicht mehr. Alle hier haben Glasaugen und Handprothesen und und und." "Zum Berühren, zum spürbaren, alles durchdringenden Berühren?" "Wir betasten diese unsere Hände mit diesen unseren Händen, drücken diese unsere Lippen auf diese unsere Lippen, stecken diese unsere Penisse in diese unsere Fotzen. Das geht alles sehr schnell und sauber und geräuschlos. Unsere Haut bleibt glatt, Temperatur und Pulsschlag gleichmässig. Wir kennen kein Fieber mehr." "Warum das Theater?" "Tradition." "Wie entstanden die schwarzen Löcher?" "Ich weiss nicht, weiss nur: Schwarz saugt alles auf, wahllos auf. Das Sitzen im Wartesaal ist eine einzige Qual. Glasaugen lassen das zu Sehende abprallen. Wir sind sehr glücklich so. Wirklich sehr glücklich so."
Ob Augen schwarze Löcher sind, die alles in mich saugen, mich wehrlos allem aussetzen?
Es hängt von der Zahl der Augen und ihrer Verteilung ab, wie wir uns bewegen können, müssen.
Und wenn ich nicht sehen will?

 

8. Kammer

Hier stehen die Gesprächsautomaten. Für zwei Groschen darf ich alles sagen. Wenn ich kurz innehalte, sagt er mit gedämpfter Stimme: "Ja, ja."

 

Die Sehende mit den sechs Augen und ihrem Sohn

In dieser Nacht der Nächte knien wir nieder vor der Sehenden mit den sechs Augen und ihrem Sohn. Die Kirche ist kalt. Nur das ewige Licht flackert in seinem roten Kelch. Die schwere Tür ihres goldenen Schreins auf dem Hochaltar hat der Priester gerade geöffnet, die goldbetressten Vorhänge zur Seite gezogen. Kerzen in wuchtigen goldenen Leuchtern flankieren den kostbaren Schrein, spiegeln sich wider im blendenden Gold. Wir beugen die Häupter.
Sei gegrüsst Sehende mit den sechs Augen und Dein Sohn.
Lichtbringerin.
Glanz, der unsere Augen blendet.
Du, die alles weiss, weil alles sieht, und Dein Sohn.
Vor Deiner goldenen Pracht beugen wir die Häupter.
In Ehrfurcht küssen wir den kalten Stein.
Oh, Licht.
Weihrauch.
Übelkeit.
Unsere bleichen Gesichter.
Wir harren schon so lange.
Blind sind wir.
Dunkel umgibt uns.
Lichtbringerin.
Erbarme Dich unser.
Der Glanz Deiner Pracht blendet.
Lasset uns die Augen schliessen.
Schliessen wir die Augen.
Lasset uns die Häupter beugen.
Kalt war uns.
Der Glanz der Pracht, mit der wir Dich umhüllen, erfüllt uns mit Glut.
Oh Nacht der Nächte!
Unsere Prozession zieht sich durch die nächtlichen Strassen und Gassen. In deinem Schrein mit den zugezogenen goldbetressten Vorhängen, der verschlossenen schweren Tür tragen wir dich auf der geschmückten Totenbahre auf unseren Schultern durch die Nacht. Dich und deinen Sohn. Sehende! Von Altar zu Altar, aufgestellt an allen wichtigen Kreuzungen. Brennende Fackeln, getragen von Knaben, flankieren uns, die wir dich tragen, werfen unsere Schatten, eine zweite, eine dritte Prozession, auf die Mauern. Vor uns der Diakon mit dem Weihrauchschwenker. Hinter uns schreitet der Priester. Hinter dem Priester der Subdiakon mit Weihwasserkessel und Wedel. Dahinter viel Volk. Über uns halten sie einen Baldachin. An einem Altar angekommen, stellen wir deine Bahre ab. Rechts und links die Fackelträger in Reih und Glied. Die Flammen züngeln in der goldenen Pracht. Wir knien nieder, halten schützend die Hände vor unsere Augen. Der Diakon reicht dem Priester den Schwenker. Mit wehen Schwaden umhüllt er deine Bahre, deinen Schrein, öffnet die schwere Tür, zieht die Vorhänge zur Seite. Seine Stimme schallt durch die Nacht:
"Sehende, schau Deine Gemeinde!"
Damit seine Rufe nicht an uns zerschellen, zurückprallen - die Scherben Dich, ihn womöglich treffen -, werfen wir uns zu Boden.
"Sehende, schau Deine Gemeinde!"
Er taucht den Wedel ins geweihte Wasser, schreitet durch Deine Gemeinde, besprenkelt uns:
"Halleluja! Halleluja!"
Die Nacht saugt seine Rufe auf.

Das Gold überkrustet Dein Gesicht, Deinen Leib wie Blattern. Zwei Augen können sich noch retten. Es ist Blattgold. Imitation. Gold ist so teuer. Deine strammen Schenkel. Den Sohn nehmen wir dir ab. Den Sohn schlagen wir uns ans Kreuz.
Gold, letzte Farbe vor dem Tod. Unbarmherzig, kalt; schlägt grün aus, wird grau, zerfällt.
"Was hast du mit Deinen Augen, Deinem Leib, Deinen gespreizten strammen Schenkeln gesehen? Was war, bevor das Gold kam, die Pracht?"

 

In jener Nacht knietest du vor Ihr mit auf dem Rücken gefesselten Händen, gefesselten Füssen, das Kinn auf der Brust. Der goldene Schrein war geöffnet. Das ewige Licht flackerte im roten Glas. Manchmal zuckte dein Leib. Die Stille peitschte dich. Oder war Sie es? Die Striemen auf deinem Rücken. Mit meinen Blicken blätterte ich das Gold ab. Die Augen, sechs Augen, so flach. Schlechte Arbeit, aufgemalt. Wut packte mich. Die Sehende konnte sich, auch als ich das Gold von ihr abgezogen hatte, nicht bewegen. Nicht mehr? Rosa war sie, mit einem grünlichen Schimmer. Gold verstopft die Poren. Ich fasste ihren Arm: hohl. Diese rosagrünlichen Glieder. Ich polkte die sechs Augen ab.

Schweiss steht auf deiner Stirn. Hände, die sich nicht befreien, Füsse, die den Leib nicht wegschaffen können. Dein Mund ist zugeklebt. Du drehst deinen Kopf nach links, nach rechts, nach links, nach rechts, das Gesicht krampfhaft zur Decke gekehrt, links, rechts. Die Goldene mit den gespreizten strammen Schenkeln lächelt, die Stille peitscht. Dein Rücken zuckt. "Wir peitschen Sie auch aus, wenn Sie das wünschen. Wir tun alles, was Sie wünschen." Sie lächelt und du drehst deinen Kopf, wirfst ihn in den Nacken. Rollst deine Augen vor Ihr weg. Fällst um. Schlägst den gebundenen Leib auf die Fliesen. Keuchst ohne Ton. Ich kann meine Augen nicht von dir wenden, kann sie nicht schliessen. Die Goldene lächelt. "Wir peitschen Sie auch aus, wenn Sie das wünschen. Wir tun alles, was Sie wünschen." Ein zuckendes stöhnendes Bündel, liegst du vor Ihr, besudelt von dir selbst.

Auf meinem abgelegenen Zimmer liege ich zitternd zwischen den Laken. Mir ist kalt, mein Mund trocken, pelzig. Morgen gehe ich wieder. Morgen ist der Frühstückstisch gedeckt. Der Duft frischen Kaffees. Morgen sprechen wir miteinander, bis zur letzten Minute. Ob du weisst, dass ich dich gesehen habe? Das Rauschen von Wasser.

Mit Mühe mein Zittern verbergend, schlürfe ich den ersten Schluck heissen Kaffees, halte mich an der Tasse fest, mich zusammen. "Hast du gut geschlafen?" "Ja."

Nur letztes Mal sprach ich von der Unruhe, die mich nicht schlafen lässt. "Ich war oft wach", sagst du, "der Sturm. Ich habe viel über dich nachgedacht." Du brachtest mich zum Zug, wartetest, bis mein Zug abgefahren war. Das hattest du noch nie getan.

Du weisst, dass ich gesehen habe. Was? Nein. Oder doch? Meine Briefe, meine Worte sind voll davon. Ich weiss nicht, ob du dir der Ereignisse bewusst bist. Wenn nicht, sind meine Briefe Berichte aus einer fremden Welt, unglaubwürdige Phantastereien. Beides erklärte dein Nichtantworten auf meine Briefe. Vielleicht ist diese Nacht nicht schwarz genug, verkümmert, verblasst, kann dir nichts mehr anhaben. Auch das machte Sinn. Übrigens, was sehe ich schon, geblendet von der Pracht, befangen durch das Haus, beschränkt durch mein Verlangen.

 

9. Kammer

Er kommt, nimmt sie, presst sie an sich, reibt mit seinen unhandlichen Händen über ihren Leib, küsst ihr den Mund weg. Reisst ihr die Kleider runter, und sich. Seine Augen fiebern. Seine Hände, sein Körper walken den Leib, die Brüste. Er setzt seinen Brustkasten auf, den Bauch zieht er ein. Sie liegt unter ihm auf dem Boden. Er bläht die Nüstern. "Hoi! Hoi! Hoi!" wippt er, aufrecht auf ihr sitzend, schwingt die Rute. Seine Augen quellen hervor. Er wühlt sich in sie hinein, schiebt dabei das Stück Fleisch über den Boden wie ein Raubtier, das seine Beute verschlingt. Ein Zucken durchläuft ihn. Er schreit, winselt. Dann liegt er zusammengerollt, ganz winzig auf ihrem Schoss. Steht auf. Geht. Sie blickt starr vor sich hin, legt sich die Hände aufs Gesicht, drückt die Finger auf die Augen, streicht kräftig das Gesicht wieder heraus.

Er kommt, nimmt sie, presst sie an sich, reibt mit seinen unhandlichen
Er kommt, nimmt sie
Er kommt, nimmt sie

 

10. Kammer

Da kauert der Köter, leckt sich die suppenden Glieder, beisst sich die Haare aus, leckt die sich selbst gerissenen Wunden. Ihre Leiber krampfen sich zusammen. Sie treten ihn weg. Sein Körper, nackter Körper, ist voller eitriger Wunden. Er stinkt. Fliegen krabbeln über ihn.

 

Die Bude der Marktschreier

"Maine zähr värährten Tamen und Cheren! Kommt! Das müssen Sie! Ja! Müssen! Dürfen Sie sich nicht entgehen lassen! Maine zähr värährten Tamen." Unter mir der Platz. Links in ihrem Kabäuschen sitzt die Kartenverkäuferin. Vollbusig. Aufgedonnert. Lächelnd. Blond. Nicht mehr ganz jung. Hinter mir der Vorhang. Ich fuchtele mit den Armen. In der Hand das Mikrofon. Ich soll den Damen und Herren da unten auf dem Platz erklären, was sich hinter dem Vorhang abspielt. Ich weiss nicht, was sich hinter dem Vorhang abspielt. Der, der vor mir hier stand, war grosse Klasse.

"Maine zähr värährten!", verzieht er seinen grossen roten Mund, wirft den Kopf in den Nacken, Kusshändchen ins Volk, rollt die Augen unter die Lider, weist hinter sich auf den Vorhang, erzittert, stolziert auf und ab, bläht die Nasenflügel. "Wollen Sie wissen, was da los ist? Ja? Ja? Ja?" Kusshändchen. Ich hänge an seinen Lippen, stolziere wie er auf und ab, befreie mich aus den Damen und Herren. Bin auf den Brettern. Bauch an Bauch mit ihm. Kreischen von hinter dem Vorhang, Kreischen vom Platz. Die kehligen Laute des Mannes. Er tänzelt hin und tänzelt her und vor und zurück, lächelt, grinst, leckt sich die Lippen, leckt sich die Lippen. Und ich, an seinem Bauch, tänzele mit ihm hin und tänzele mit ihm her und vor und zurück, lecke die Lippen, lecke die Lippen. Er drückt mir das Mikrofon in die Hand, rennt weg. Ich will ihm folgen. Das Mikrofon in meiner Hand. Das Kreischen hinter dem Vorhang. Das Kreischen und Jaulen der Damen und Herren unten auf dem Platz. Schon verläuft sich die Menge, man schüttelt die Köpfe. "Preisen Sie die Show an! Los schon, los! Worauf warten Sie? Preisen Sie die Show an! Wollen Sie warten, bis alle weg sind? Wie Sie dann schreien müssen! Los!" Ich male mir grosse rote Lippen, werfe den Kopf in den Nacken. "Maine zähr värährten Tamen und Cheren!"

 

Wie deine Stadt sich vor mir aufwirft. Strassen legen sich mir unter die Füsse, biegen ab ins Zentrum. Ganze Strassenzeilen verludern. Die Luft ist flockig, schlägt sich auf mir nieder. Die Cafés sind mit Brettern vernagelt. "Geschlossen". Wo sind die Besitzer? Die Touristen? Die bunten Farben? Ich streife mit meinen Fingern über verfallende Mauern, Türen, Schaufenster, Schaufenster, zum Erbrechen voll von Ramsch. Nippes, Krimskrams, Andenken stapeln sich hinter staubigem Glas und staubschweren Spinnefäden. Hier liefen wir zusammen, noch gar nicht so lange her. Die Tür ist nur angelehnt. Ich trete ein, stecke meine Hand durch die Gespinste. Ein Andenken. Eines nur. Ich lächele, ziehe die Hand zurück. Gehe, schliesse die Tür. Ich schaue noch einmal durchs Fenster. Da stehe ich zwischen Andenken, Nippes. Ich streiche mir über das Haar, rücke den Gürtel zurecht.

Busse stehen an Strassenecken, die Türen schief in den Angeln.

Die Tür deines Hauses steht sperrangelweit offen. Ich trete ein. Die Tür fällt ins Schloss. Alles ist durchsichtig, durchlässig. Du stehst mit ausgestreckten Armen lächelnd in der Kammer mit dem goldenen Schrein. Alles ist da und doch nicht, nur du und ich. Ich gehe auf dich zu. Die Kammer weicht zurück. Du lächelst. Deine Augen! Ich rufe deinen Namen. Rufe deinen Namen. Jeder Schritt auf dich zu rückt diese Kammer, rückt dich zwei Schritte von mir ab. Auch die geringste Bewegung, einseitig ausgeführt, vergrössert den Abstand. Verdammtes Spiel! Nur wenn wir gleichzeitig aufeinander zugehen, könnten wir den Abstand vielleicht überbrücken. Nur dann.
Ich renne auf dich zu.

 

Der Zug

"Bitte zurücktreten, der Zug fährt an! Zurücktreten!"
Ich springe auf, halte mich fest am Griff. Rammele mit der Klinke. Noch könnte ich abspringen. Ich sah dein Gesicht. Hinter der Tür lief es auf und ab. Sah deine Augen. Ich rammele mit der Klinke, rufe deinen Namen. Schautest du raus, sähest du mich. Du schaust. Unsere Augen treffen sich. Deine Augen liegen tief im Schutz der kolossalen Stirn, der Hutkrempe. Du trägst immer einen Hut. Ich lächele, du lächelst, gehst weiter auf und ab, die Hände auf dem Rücken. Ich presse mich an die Tür. Der Wind. Ich kann meine Finger nicht lösen, rase durch die Gegend, die Menschen, vereise. Erst die Augen. Vielleicht sind dir die Hände auf dem Rücken zusammengebunden. Was werde ich, wenn ich irgendwo, irgendwann noch auftauen sollte, noch mit meinen Händen tun können? Meine Hände, meine Füsse, was wird abfallen, angefressen von der Kälte? Mit brennenden Schmerzen kehrt die Wärme in abgestorbene Gliedmassen wieder. Heisse Tränen schiessen mir in die Augen, rinnen über die Wangen. Die Hände stopfen sich in den sabbrigen Mund. Unter kehligem Winseln verfluche ich das wiederkehrende Leben. Ich schlenkere die Hände, ganz schnell, als könnte ich sie abschütteln. Sie stopfen sich mir in den Mund. Meine Zähne klappern, als wollten sie nicht mehr aufhören zu klappern. Wie lange rast dieser Zug noch weiter? Dieser alles zerschneidende Schmerz beim Auftauen. Kammern sind zu klein für zwei Menschen. Einer steht immer draussen. Dein Gesicht, immer öfter dein Gesicht.

 

ANNONCE:

Durchs Land rast ein leerer Zug. Seine Fenster sind zerschmettert, seine Türen schlagen. Um Unglücke zu vermeiden, sind die Weichen so gestellt, dass er um unsere Städte herumrast. Er lässt sich nicht anhalten.

 

Du gehst vor mir auf und ab.
"Lass mich rein", sagst du.

 

"Sie hassen", sagen sie.
"Was haben Sie gesehen?
Sie haben gesehen!"
Ihre Worte treffen mich wie Kieselsteine.
"Sie hassen", sagen sie.

 

Wie dein Leib sich aus deinem Leib schiebt. Eineinhalb Du. Durchsichtig, schimmernd. Du löst dich aus dir heraus. Obwohl meine Augen auf dich gerichtet sind, sich nicht von dir lösen können, sehe ich durch dich hindurch wie durch einen Film. Du grinst breit, ziehst deine Augenbrauen hoch. "Ist etwas? Was ist mit dir?" Ich zucke mit den Achseln, hebe die Hände, die Handteller drehen sich nach oben. Die Hände fallen neben mir auf die Bank. Ich schüttele den Kopf, ziehe die Augenbrauen hoch, das rechte höher als das linke. Senke die Augen. Zeige dir lächelnd die Zähne.

 

"Was haben Sie gesehen?"

 

Dein nächtlicher Ritt durch die Stadt

"Ich trete meinen nächtlichen Ritt durch die Stadt an. Mein persönlicher Ritt gegen die Kräfte und Mächte der Finsternis. Mein Kostüm sitzt tadellos. Käppi. Stiefel. Sporen. Weisse Handschuhe. Die Peitsche. Dem Ross hatte ich Scheuklappen angelegt. Ich schnalze mit der Zunge, drücke ihm die Flanken. Mein Galopp hallt durch die Strassenschluchten. Galopp hallt von allen Fronten. Ganze Horden! Ich peitsche nach rechts: Zack! und nach links: Zack! Zack! Stehe keuchend in den Steigbügeln, peitsche. Es peitscht über Galopp zurück. Rufe hallen. Ich straffe die Zügel. Das Ross bäumt sich auf. Sein Gewieher. Und Gewieher von allen Fronten. Sie preschen auf mich zu. Mein Ziemer zischt auf euch nieder: Zack! Euch nieder: Zack! Zack"

Oranges Neonlicht liegt über der Stadt, saugt alles grau. Hier in den Gassen warte ich auf deinen Vorübergang. Erhobenen Hauptes, deine Hände mähen links, rechts, hauchst du heissen Atem ruckweise durch die aufgestülpten Lippen. Dein Kostüm, dein Hut sitzen tadellos. Du trägst immer einen Hut, Glacéhandschuhe. Deine Augen sind nur noch Schlitze. "Chimären!", zischst du, "Ungeziefer!" Dein Kopf dreht sich nach rechts, dreht sich nach links. "Wollt mich zu euch in den stinkenden Schlamm zerren. Ich kenne das Leben." "Zack!", knallt die Peitsche." Und: "Zack!", knallt die Peitsche" von allen Fronten her. "Zack!" Du holst nach rechts aus und nach links aus, drehst dich, drischst auf das Pack ein. Das orange Neonlicht hat auch dich fahl gesogen. Asche, rast du durch das Spalier der steinernen Fronten. Erreichst den Markt. Rast entlang den gespenstischen Fassaden. Kalt werfen sie dein Rasen auf dich zurück. "Tot, tot", trampelst du. Krampf verzerrt dein Gesicht, es ist nass. Du sinkst zu Boden. Diese kehligen Schreie. Würgst den letzten die Hälse, kniest dich in sie hinein. Drückst fest und lange noch zu. Mühsam erhebst du dich, klopfst dir den Staub von den Kleidern, schlägst die behandschuhten Hände aneinander, verlässt diese Stätte, stehst still, kommst zurück, zückst den Hut, drückst ihn an die Brust, lächelst ermattet, beugst vor jeder der grauen Fassaden dein Haupt. Setzt den Hut wieder auf, gehst ab.

"Und ich rase hinein in die Arena. Mein eiserner Galopp und das Knallen meiner Peitsche treffen das Volk auf den Rängen. Sie klatschen in meinem Rhythmus. Und noch eine Runde. Ich habe den Mächten der Finsternis getrotzt. Nichts konnten sie mir anhaben. Hier bin ich! Noch eine Runde. Das Ross trägt mich hinter die Kulissen. Ich sitze ab, erschöpft. Kämme mir das Haar. In meinen Ohren tosen die Ovationen. Das Volk versteht! Ich geleite das Ross zurück in die Arena, zücke das Käppi, drücke es an die Brust, verbeuge mich tief nach allen Seiten, werfe den Kopf in den Nacken."

Du siehst mich nicht. Still, lächelnd, die Hände auf dem Rücken, läufst du durch die leeren Strassen. Den Blick weit weg. Die Lippen saugst du zwischen die Zähne.

 

11. Kammer

Hier liege ich, zermürbe die letzten Fasern. Wischt mir den Schweiss von der Stirn, nur das. Ihr entblösst eure Zähne, sprecht mir vom guten Leben, sagt, ich kehrte zurück. Bestimmt. Ihr legt mich auf die Schlachtbank. Das Licht ist grell. Nase und Mund verbergt ihr hinter Lappen. Das Messer geht von Hand zu Hand. "Das Beste", sagt ihr, "es ist das Beste." Eure Betäubung wogt weitab - worein denn sollte sie sich verankern?
Ihr schneidet den Leib auf, zersägt die Rippen.

 

"Lass mich rein", sagst du.

 

Der stärkste Mann der Welt

Seine Muskeln, geschützt, gestützt von Ledergurten, liegt er auf der Strasse, setzt den Brustkasten auf, zieht das Brett über sich. Mit seinen linken Rädern rollt der Lastwagen über das Brett.

 

12. Kammer

Bänke voller regungsloser Menschen. Auf der Kanzel, links, der Graugesichtige in weissem Hemd.
"Selig, die tot sind im Herrn.
Der Tod hat keine Macht über Tote.
Tote brauchen das Sterben, diesen schmerzhaften Alleingang, dieses einsame Verbrechen nicht zu fürchten.
Tote sterben nicht, nie.
Tote sind unsterblich. Im Paradies. Immer.
Tot sein bedeutet im Recht sein, da unveränderlich und ohne eigene Schuld mehr."

Ohne eigene Zeit mehr.
Ohne eigene Bewegung.
Ohne eigenen Willen.
Ohne eigenen Entschluss.
Ohne weitere eigene Worte.
Für alles einsetzbar, da ohne Protest.

Ich gehe. Angesichts des Sterbens ist alles nichtig. Im letzten Gang ist kein Ausweg. Da heraus besteht nichts. Wir wissen nicht, was Sterben ist, nicht, solange wir am Leben bleiben. Dies Wissen ist mit dem Wissen aus, ist ohne Aussage und unantastbar.
Sein Sterben gehört nur dem, der stirbt. Er ist ihm verhaftet. Er kann sein Sterben nicht geben. Niemand, nichts kann es ihm nehmen.

Wir übertragen die Unantastbarkeit des Sterbens, jenes Wissens, das mit sich aus ist, auf den Toten. Der Tote hat, nimmt nicht teil. Kann nicht tragen. Nichts. Tote können nicht geben, nicht vergeben, nicht empfangen. Keine Hingabe kann sie rühren, kein Handeln an und mit ihnen ihren Zorn erwecken.
Wir besteigen den Toten in uns, legen uns unter ihn, stöhnen, zucken.

Immer bleiben wir mit etwas in uns, das es noch nicht geschafft hat zu sterben, zurück: Bruchstücke, kalte Larven. Wir müssen sie zerleben. Bei der geringsten Berührung kommen sie auf; für, gegen uns, stellen sich zwischen uns, gebären sich aus unserem Blut. Wir halten sie in Ehren, geben ihnen die Brust.
Entkräftet, bauen wir uns unsere geweihten abschreckenden Kammern aus ihnen, beschlagen die Wände mit Leben, das Leben mit Wänden, beschlagen mit Leben. Halten Ehrenwache. Schlagen zu. Unser Argwohn nährt sich von fast nichts.

Wir erheben die Toten, die Wiederkehr dessen, jener ohne Wiederkehr, bieten, türmen sie auf, legen sie über das Sterben, jetzt, schmücken sie aus, knien nieder.
Der Tote trägt nicht länger Name. Der Name ist nichts ohne den, der ihn trägt. An der Scheide des Todes hört unsere Ewigkeit auf.
Manchmal zerbricht der Turm. Wir reissen ihn ein. Wir errichten ihn wieder. Ihn, einen anderen, nach seinem - nach unserem Bild. Stehen Wache. Lächeln.

Deine Augen sind ohne Weite mehr.

 

Die Mauervorsprünge

Sie gehören zu dieser Stadt, zu allen Städten. Nirgends sind sie eingezeichnet, auf keiner Karte, diese Mauervorsprünge auf halber Höhe. Du kannst nicht einfach sagen: Jetzt gehe ich dahin, ich will dahin, und dann dahin gehen. Erst spät wird dir bewusst, dass du dich da befindest. Es ist eine Galerie ohne Balustrade. Nur mehr diese Richtung. Die Menschen hier - wir tasten uns entlang der Mauer. In der Mauer sind Türen und Schaufenster wie in den Strassen unten, aus denen wir kamen. Du kannst die Strasse nicht überqueren. Siehst du jemanden auf dem Mauervorsprung der gegenüberliegenden Strassenseite, kannst du nicht zu ihm. Dein Winken, Rufen macht alles nur schwerer. Der Fall vom Turm dauert und während du fällst, kannst du nicht zurück, dich nirgends festhalten. Kaum einer läuft am Rand. Unsere letzten Groschen geben wir aus für Schnaps und Weiber. Manchmal steht da ein Menschenauflauf. Was ist? Von hinten rücken neue auf. Die Schreie sind entsetzlich. Irgendwann, es gibt kein Geld mehr, kein Entkommen. Diese Wucherpreise. Manche haben viel Geld bei sich. Wir sprechen nicht über die Stätte, auf der wir uns befinden. Nicht über uns selbst. Geschichten erzählen wir, lustige Geschichten, wenn wir überhaupt miteinander sprechen. Es gibt sehr Mutige. Es gibt hier viele Bettler. Sie schauen einen aus hohlen Augen an. Strecken die Hand hin. Wir schmeissen ein paar Münzen hin. Nur das. Schauen nicht hin. Keine Bindung! Das ginge hier nicht. Auch hier gibt es Schacherer. Manche geben ihr ganzes Vermögen dem, der bereit ist sie zu schubsen. Sie wollen jedoch ganz sicher sein. Die Bürger dieser Stadt? Sehen nichts, wissen nichts von diesen Mauervorsprüngen. Und wir auf den Mauervorsprüngen sagen nichts. Das ist nicht wahr. Wir sind so voll davon, sie sickern aus uns heraus, aus jedem unserer Worte, aus jeder unserer Gebärden. Wir sagen nur noch das Allernötigste.

Du kauerst vor mir, starrst mich gross an. Unsere Augen finden sich. Ich streiche über dein Haar.

 

Ich fahre in deine Stadt, fahre hin. Ich hatte solange nichts von dir vernommen. Ich konnte mich nicht anmelden, schaffte es nicht, konnte den Brief nicht einstecken. Anrufen? Es gibt Telefonzellen am Bahnhof. Dann wähle ich deine Nummer, Ziffer für Ziffer. Ja. Und dann das Kreischen in regelmässigen Abständen: 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10, 11, 12, aus. Vielleicht meldet sich eine Stimme, die ich nicht kenne, nennt einen Namen, den ich nicht kenne, plärrt die gequetschte weibliche: "Kein Anschluss unter dieser Nummer." Oder du meldest dich: "Nein! Es ist nicht möglich. Ausgeschlossen. Wie schade, aber." Ich muss etwas trinken, gehe in ein Café. Graue, müde Ober in weinroten Jacken lehnen an der Theke. Die Stühle stehen noch umgekehrt auf den Tischen. Ich warte. Die Ober rühren sich nicht. Ein Mann kommt rein, knallt Münzen auf die Theke: "Ein Bier!" Er sammelt sein Geld wieder auf, geht. Ich gehe auch. Ich komme nur bis zu den Spielhallen. Das hatte ich mir vorgenommen. Ich hatte mir gesagt: du kannst nicht einfach in seine Stadt fahren. Du brauchst ein Ziel, ein Alibi. Ich dachte an die Spielhallen. Spielen sollte ich. Ich will spielen! Die Spielhallen liegen auf dem Weg, halbwegs zwischen Bahnhof und Palast, ganz am Anfang. Ich trete ein. Keine Beleuchtung. Vielleicht bin ich zu früh. Aufgebrochen, zerschlagen, die Arme herausgerissen, stehen die einarmigen Banditen in Reih und Glied. Ich laufe durch die Halle, gleite mit meinen Fingern über ihre zertrümmerten Leiber. Nie habe ich mit euch gespielt. Ich war schon vor euch stehen geblieben, schon im Begriff eine Münze in einen Schlitz zu stecken. Jetzt greife ich in euch hinein, lasse eure Innereien durch meine Finger rieseln.

Vom Palast her kommen die weissen Drei tänzelnd die Anhöhe hinab. Sie hatten Gold genommen, ihre weissen Gesichter damit geschminkt, wollten Farbe. Nur wenig blieb über den Augen haften. Das Material ist minderwertig. Es gibt kein Bindemittel mehr. Sie nehmen Spucke. Das bisschen, das haften bleibt, schlägt grün aus. Sie können das Grün nicht mehr abwischen. Sie schminken sich knallrote Lippen, wollen Münder. Schneiden sich Augenlöcher. Blau ist noch da, Orange, Gelb, Grün, Violett. Sie wollen gern bunt sein. Sie stellen die Pigmente wieder weg. Wissen nicht, wo sie sie auftragen sollen, haben keine Spucke mehr. So, in ihrem weissen Fleisch mit dem grün ausgeschlagenen Gold über den Augen, den knallroten Lippen, vollkommen nackt, bewegen sie sich, eng aneinandergeschmiegt und hoch das Bein, tänzelnd, schwingend auf die Stadt zu. Mitten auf dem Fahrdamm. Ich tänzele hinter ihnen her, schwinge die Hüften, schleudere die Arme, die Beine, die Tasche von einer Gosse zur anderen, verliere sie aus den Augen.

Hier bin ich mit dir gelaufen. Ich taumele vor Müdigkeit, möchte mich an dich lehnen. Meine Augen klammern sich an die Schaufenster. Hier ist das Hurenviertel. In den Schaufenstern stehen Spielkarten. Manche sind umgefallen. Das Purpur der Veloursvorhänge ist verblichen. Überall schweben Staubwolken. Die Vorhänge reissen sich von den Stangen. Die Tür steht offen. Ich trete ein, steige auf einen der Hocker, bringe die Haken in Ordnung. Ich stelle den Hocker vors Fenster, stelle eine der Karten vor eins der krustig ausgetrockneten Gläser. Der rosa volle Leib in wollüstiger Pose, spärlich bekleidet, das lange blonde Haar. Ich nehme sie noch einmal auf, wische sie auf meinem Hintern blank, stelle sie wieder hin, gehe raus, schaue sie durchs Fenster an. Sie hat Chancen. Ich zwinkere ihr zu. Lächele. Man hatte die Huren vor die Stadt geschafft, vor langem schon. Jetzt stehen sie draussen auf dem Messplatz, entlang der Mauer des Schlachthofs.

Das Quietschen von ungeschmierten Rädern. Das Gerüst! Eine der Starken! Du! Was soll das hier. Sie ist fett. Den geilen Blick auf die Schaufenster gerichtet, saugt sie das zur Schau Gestellte, immer zu kurz gekommen, in sich auf, bläht die Nüstern, lässt nicht ab von den Karten. Sie ist so fett, so unbeweglich. Ihre goldberingten Finger mit den rot lackierten Nägeln liegen aufgedunsen auf den Lehnen. Jede Unebenheit des Weges lässt sie schwabbeln. Du schiebst das Gerüst durch die Strassen. Deine Augen sind leer, deine Wangen eingefallen. Die paar weissen Strähnen. Du lächelst dein ewiges Lächeln.

 

"Sie hassen uns.
Was haben Sie gesehen?
Sie haben kein Recht.
Sie haben kein Haus.
Sie haben nicht einmal ein Gerüst."
"Ihre Hände!"
"Warum haben Sie kein Haus?"
"Häuser beengen. Alle Häuser beengen. Häuser weisen ab. Häuser vertreiben. Aus Häusern wird man vertrieben. Häuser schliessen sich, werden geschlossen, umschliessen uns endgültig. Wir vertreiben aus Häusern. Wir schliessen sie ab. Wir geben ihnen unantastbare Endgültigkeit. Die Kammern liegen voller stöhnender Leiber. Wir kommen nicht weiter, gehen nicht weiter."
"Warum haben Sie kein Gerüst?"
"Ich bin nicht so stark."
"Warum sind Sie nicht so stark."
"Sie isst nur wenig, isst keinen Kuchen."
"Sie müssen Kuchen essen und Fleisch und Kartoffeln. Müssen essen!"
"Ich kann nicht."
"Das ist ja lächerlich."
Sie grabschen das Fleisch vom Teller, stopfen es sich in die Münder, lecken sich noch kauend die plumpen Finger ab, die Lippen, schaufeln Kuchen und Schlagsahne in sich hinein, schlürfen süssen Kaffee.
"So müssen sie das machen!"
Sie halten mir die Kuchenplatte hin.
"Langen Sie zu, es ist gut für Sie. Wir meinen es gut mit Ihnen. So werden Sie stark, brauchen ein Gerüst, einen Diener, der Sie schiebt. Wir meinen es nur gut mit Ihnen. Es ist unhöflich nichts zu nehmen."
Ich stochere in meinem Kuchen.
"Iss, iss, damit du was wirst. Iss! Iss! Iss!"
"Ich hasse Sie nicht. Hass schliesst aus. Hass schliesst ab. Hass lässt uns Mauern errichten, in uns. Unsere Mauern sind hart. Unsere Mauern verlangen ihren Zoll. Ihr Errichter verlangt seinen Zoll. Zonen voller Bitterkeit stauen sich auf, stocken uns auf. Erst war der Anspruch. Anspruch, Recht auf, Recht, wichtig - und wenn anders geschieht?"

Scharen von Dienern schieben Scharen von Gerüsten mit Starken durch die Strassen. Manchmal sind es komplette Häuser, gute Stuben, Paläste.

"Ich liebe es mich in grosse weiche Frauen zu stürzen.
Chaos ist schlecht, du musst es aufräumen. Du solltest dich hüten es entstehen zu lassen, dann brauchst du nicht aufzuräumen.
Ich fühle mich wohl in starken Frauen.
Meine freundlichen warmen Augen."

Ich gehe ohne Adieu. Warum läuft hier niemand? Auf einer Brücke sehen wir uns. Wir stürzen uns uns entgegen.

Ich irre durch die Strassen, erkenne sie nicht wieder. Als ich mit dir hier lief...
Dieser Hut! Dieser Mantel! Ich renne hinterher, rufe deinen Namen. Diese langen Beine. Ich tippe dir auf die Schulter. Du drehst dich um. Das ist nicht dein Gesicht. Dieses ist weich - die wulstige Unterlippe - ich kenne das Gesicht nicht. Ich fasse mir an die Kehle. Drücke zu. Es sticht. Ich huste.

"Sie hassen.
Sie sind eine Verbrecherin.
Sie zerstören."
Und sie befehlen dir mich durch die Stadt zu führen, eingehakt. Sie laufen voraus, halten die Passanten an: "Schaut nur! Schaut!"

Etwas zerpresst mich, kommt vom Rücken über die Rippen, setzt sich dumpf am Brustbein fest. Unwirtliche Nacht, halb Schlafen, halb Wachen. Ich spüre deine Hand auf meinem Gesicht. Das tut gut. "Was ist?" Ich will deine Hand fassen. Sie ist nicht da. Nur ich bin im Zimmer.
Das Licht aus deinem Haus.

 

Als ich meinen Mund auf dein Flehen hin öffne, habe ich keine Laute. Nur die Gebärde, die Bewegung des Mundes.

 

Der Totempfahl will nicht länger abseits stehen. Als wir ihm Form gaben, berührten wir ihn, fassten ihn an. Spielten mit ihm, staunten wie er sich im Laufe der Zeit unter unseren Händen veränderte, hielten uns an ihm fest, liebkosten ihn. So war er schön. Wir hoben ihn auf den Sockel, verankerten den Sockel. Wir bleiben nur noch in ehrerbietigem Abstand vor ihm stehen, knien nieder, werfen uns zu Boden. "Warum spielt ihr nicht mehr mit mir", fragt der Totempfahl. "Fasst mich an, liebkost mich, spielt weiter mit mir!", sagt er. Wir hören ihn nicht, liegen auf verkarsteter Erde. Da wir ihn nicht mehr berühren, weder ihn noch die Erde, aus der heraus er uns erwachsen war, gibt er, gibt uns die Erde keine Kraft mehr. Er steigt von seinem Sockel, verlässt den Tabernakel - wo immer wir ihn aufgestellt hatten. Das ist nicht leicht. Er kommt auf uns zu, berührt uns, spricht auf uns ein. Schlägt. Schreit. Ob wir uns nicht tief genug vor ihm verbeugen? Wir wollen in unserer Erde versinken, uns in sie hineinwühlen: "Nimm uns auf, Erde." Sie ist hart, nimmt uns nicht mehr auf. Wir kaufen Blumen, stellen die Blumen zwischen ihn und uns.

 

Denen, die tatsächlich hinabstürzen, sich hinabstürzen, ziehen wir die Haut ab. Machen Luftballons draus. Fleisch und Knochen werfen wir den Hunden hin.

Kinder kommen mir entgegen, mit kolossalen Ballons: verzerrte Gesichter. Ich will wissen, wer diese Gesichter sind. Abends sind es monströse Lampions. Dann singen die Kinder mit strahlenden Augen: "Ich gehe mit meiner Laterne und meine Laterne mit mir. Da oben leuchten die Sterne und unten leuchten wir. Mein Licht ist aus, wir gehen nach Haus' rabimmel, rabammel, rabumm."

 

Als ich gehe, rollen Lastwagen, voll gepfercht mit Männern, durch die Strassen. Ganze Kolonnen. Unrasiert, zerfleddert, Haut über Knochen, Zahnlücken, bittere Lippen. Die Züge weit weg, grau. Ich laufe neben ihnen her. Winke. "Juhu!" Ihre Augen sind leer. Ich weiss nicht, wer sie sind. Ich weiss nicht, woher sie kommen. Ich weiss nicht, wohin man sie schafft, wo sie hinter diesen leeren Augen sind. "Juhu!" Ich winke.

'Hier baut...', der Rest ist nicht mehr zu entziffern. Drahtgeflechte, Zement. Die Züge fahren noch. Man muss einfach auf den Bahnsteig gehen, warten. Nur ist nicht mehr mit Bestimmtheit zu sagen, in welche Richtung die Züge fahren und ob sie das angegebene Ziel je noch erreichen können. Meist wird ein Zielbahnhof nicht mehr angegeben.

Wann hatte man diesen elenden Lappen gehisst? Das ist dein Gesicht. Durch den ständigen Windzug flattert es rührend bewegend. Was ich nicht weiss, ist: war er mir nur nicht aufgefallen, als ich ankam, oder hat man ihn erst jetzt gehisst? Letztes Mal brachtest du mich zum Zug, wartetest mit mir. Das hattest du noch nie getan. Du standest noch da, als der Zug schon angefahren war. Wir winkten. Ob du wissen wolltest, dass ich weg war. Weg aus dieser Stadt. Als ich ging, sagte mein Vater: "Es ist endgültig. Hier bist du nicht mehr zuhause. Baue dein eigenes Haus. Allein darfst du nicht mehr herkommen. Tust du es doch, setze ich dich in den nächsten Zug zurück." Er drückte mich an sich, ich ging. Als er gestorben war, ging ich hin ihn zu begraben, nur allein, berührte seine Hand - sie war kalt -, streute meine Erde auf ihn.
Warum hatte ich den Wimpel bei meiner Ankunft nicht gesehen? Ich hätte gewusst, wäre vielleicht auf dem Bahnhof geblieben, wäre nicht ausgestiegen, wüsste jetzt nichts von dem, was ich gesehen habe - anderes. Was? Wie kann ich das wissen? Ich muss selbst sehen, allein, sonst sehe ich nicht. Ich muss selbst laufen, allein, sonst laufe ich nicht. Laufe ich allein, selbst, verliere ich den vorgeschriebenen Weg, die angegebene Richtung, mich.
Ich hatte den Wimpel gesehen.

Der Zug ist leer. Die Fahrt unter der Stadt hindurch dauert. Oft bleibt der Zug stehen. Sein Kreischen wird von den Fliesenwänden der Schächte ständig zurück gebrochen. Das Licht in den Schächten ist orange, die meisten Lampen kaputt, das im Zug ist weiss, doch so schwach, dass es nur Dämmerung erzeugt. Mir gegenüber setzt sich ein Knabe. Er starrt mich an, schiebt seinen Fuss zwischen meine Füsse. Dieses wesenlose Starren. Drückt sein Knie gegen mein Knie. Unsere vom Neon aschenen Gesichter dämmern bei jeder kaputten Lampe auf. Der Zug verlässt diese Schächte. Der Knabe steigt aus.

Bald müssen wir an der Grenze sein. Oft bleibt der Zug auf offener Strecke stehen. Der Grenzbahnhof. Ich muss umsteigen. Überall Krüppel, Rollstühle und Männer und Frauen, die mit entrückten Augen schieben, und Priester. "Lourdes" steht in grossen Buchstaben auf zwei Zügen, die so lang sind, dass sie vorn und hinten aus dem Bahnhof ragen.

Ich komme wieder. Komme immer wieder. Erst, wenn ich deinen Leichnam aufgebahrt sehe, deine Hand berühre, fühle, dass du kalt bist, deine Wunde dich nicht mehr schreien lassen kann, streue ich meine Erde auf dich, gehe. Warum muss ich mit dem Berühren deiner Hand, dem auf dich Werfen meiner Erde warten, bis du tot bist? Die leere Stadt schreckt mich nicht ab. Nächstes Mal wage ich mich ein Stückchen weiter vor und beim darauf folgenden noch weiter, bleibe, falle in Schlaf, wo ich bin, gehe morgen weiter.
Ich fürchte mich davor in deine Stadt zu gehen, fürchte, dass sie immer weiter vor mir zurückweicht. Es kein Hin mehr gibt. Deine Stimme zu schwach ist, ich sie nicht vernehme, du mich nicht empfangen darfst, kannst, willst. Die Hüterinnen mich schon am Bahnhof in eine andere Richtung, zurück in den Zug drängen, mir die Fahne hinhalten, zum Gruss. Sie werden dir den Gruss überbringen.

Könnte es sein, dass meine Wochen, Monate für dich nur Sekunden sind? Umgekehrt? Ich habe nur mein Tempo, meine Schritte, Schritt für Schritt, meinen Rhythmus. Ich kann rennen, tanzen, springen, mich im Kreise drehen. Taumele, falle, stehe auf, nehme den Faden auf, schlage seine Richtung ein. Ich kann mein Tempo dem eines anderen unterordnen, mich ihm unterwerfen - bis der Leib es dann nicht mehr aushält, der gemeinsame Zeitraum verfällt.

 

Du sagst: "Ich verlange nach dir." Ich fühle alle deine Regungen in mir. Sie vermengen sich mit meinen in mir. Zeichnen ist Sehen, ist gnadenloses Aufspüren im andern, in mir. Ich kann meine Augen nicht von dir abwenden. Alles Berühren ist zu viel, zu wenig, vernichtend. Ich lasse mich berühren, berühre.

Ich kann mich betäuben, betäuben lassen, versteinern, doch geschieht, verändert, vergeht unaufhaltsam und unwiderruflich.

"Du würdest mir tatsächlich die Kehle durchbeissen, mir den Rücken mit deinen scharfen Nägeln aufreissen, das Gesicht zerkratzen. Du denkst, dass du auf die Tür meines Hauses einschlägst, du schlägst auf mich ein. Denkst, dass du die Mauer zerkratzt, den Putz."
"Ich will. Ich kann."
"Ich weiss, dass du willst."
"Hast du keine Angst?"
"Deine Nägel sind nicht scharf genug."
"Sie sind scharf."
"Ich habe nur diesen Leib."

Süsse Fäulnis entströmt dir. Transparente Farbflecken, stehst du auf einmal im Raum. Mir ist schwindlig. Unter meinen Blicken, meinen Händen zerfällst du so schnell. Deine Haut zeigt Risse. Du wirfst dich mir vor die Füsse.

Du rufst mich an: "Du fuhrst weg, wurdest immer kleiner, ein winziger blauer Fleck. Bist du noch da?"
Du rufst mich an: "Ich habe die Zeichnungen von dir noch einmal durchgesehen: die Hände haben sehr lange Finger, der Kopf ist nur winzig. Du kannst dich nicht von mir zurückziehen."

Ich kann nur frei, schuldlos umgehen mit dem, was der andere mir freiwillig gibt. Auch Nehmen und Annehmen müssen im Grunde freiwillig sein.
Ich kann dich zum Bettler machen, kann dich Illusionen aufbauen lassen, vor denen du auf die Knie gehst, kann dich mich nehmen lassen.

Ich entdeckte, dass ich nur jeweils das direkte Netz, die Fäden in der unmittelbaren Umgebung wahrnehme. Was weiter vom fixierten Zentrum entfernt ist, verblasst in meiner Wahrnehmung. Ich weiss allerdings: da ist, herrscht und gibt es Verbindungen. Die Schwere aller Fäden machte unfähig. Ich tiefe die Linien aus, weide sie aus, sie werden reissende Klüfte. Die Erde treibt auseinander. Es war nur eine dünne Linie, der Hauch einer Spur. Eine weitere Lage treibt an die Oberfläche. Das blosse Auge erkennt noch nichts - ahnt, vielleicht. Der Abdruck macht es schon sichtbar. Was? Noch zeigt sich nur ein schmales weisses Band, auch im Abdruck.

Nichts lässt sich abrunden. Mit meinem Todessturz, nein, erst mit meinem Tod ist alles aus, für mich. Habe ich die Linien nur vertieft oder habe ich sie erst eingezeichnet? Alles ist in uns, jedes Wort, jedes Zeichen, die Wucht, die Zartheit, mit der sie gezeichnet, die Härte des Zeugs, in das - mit dem - sie geschlagen. Es prägt unsere Worte, Gesten, Züge, trifft den, auf den wir treffen. Schlägt zurück, erst mit dem Rückstoss des eigenen Schlages, dann mit dem Schlag des anderen.

Ich streiche über dein Haar: "Steh auf, dein Liegenbleiben macht dich und mich unfähig."

 

Die Ausstellung: Dresden zertrümmert, die erste Atombombe, Doppelköpfe, aus Ton geformte Fossilien, New York. Dazwischen meine verlassenen, vielleicht nie bewohnten, vielleicht sogar unbewohnbaren zerreissenden Städte und der Mensch allein auf der Treppe nach unten. Das alles in einer gedämpften warmen freundlichen Atmosphäre.

 

Aus einem Brief

Ich sitze im Zug zurück. Ich musste kommen. Der Zug hierher war kalt. Ich zitterte bis ins Mark. Die anderen schienen die Kälte nicht zu spüren. Wohlig sassen sie da. Ich stieg aus. Irgendwo trank ich ein Glas heissen Tee mit Zitrone. Du wusstest, ich würde kommen, irgendwann in dieser Zeit. Ankündigen wollte ich mich. Ich schaffte es nicht. Ich konnte nicht länger warten. Jetzt, nach knapp zwei Stunden, sitze ich wieder im Zug. Als ich einstieg, hatte ich das Gefühl, als hinge dein Gesicht auf dem Bahnsteig, irgendwo: ein verschossener flatternder Fetzen. Ich treibe mich gern in der Nähe von Zügen herum. Es macht mir Spass Leute zu beobachten, die auf Züge warten. Die Spannung in den Gesichtern der Zurückbleibenden, in den Gesichtern der Wegfahrenden.

Vorgesternabend hatte ich ein Selbstporträt, ein Spiegelbild, gezeichnet. Es ist entsetzlich. Ich weiss ja nicht, was mich hinterher anschaut. Es geht mir schlecht, das ist deutlich. Das Atmen fällt mir schwer. Etwas zerdrückt mich. Ich wollte, ich hätte weniger Angst. Bin ich auf dem Seil, hat der Tanz begonnen, ist es gut. Stehe ich auf der Plattform um auf Atem zu kommen, mich zu sammeln, neuen Mut zu sammeln, wird mir schwarz vor Augen. Ich kann nicht ausruhen. Ob ich dazu verdammt bin immer auf dem Seil zu leben? Die Plattform ist übrigens so klein, dass niemand zu mir kommen kann um mir die Hand zu halten, mir den Schweiss von der Stirn zu wischen. Die Plattform hat keine Balustrade. Es führt keine Treppe hierher. Sie werfen mir die lange Balancierstange zu. Mir ist so schwarz vor Augen. Tusch! Mein Auftritt! Auch besondere Kunststücke mit Stühlen und Leitern und Fahrrädern schaffe ich nicht. Und zu zweit auf einem Seil? Der Rhythmus muss dann wirklich ganz gleich sein.

Der Grenzbahnhof, ich umarme dich.

Ich denke noch oft an den Seiltänzer. Die Plattformen haben keine Balustraden. Was die Kunststücke betrifft, kann ich natürlich so tun, als hätte ich eine Leiter, als stellte ich sie auf mein Seil, als klömme ich die Leiter empor. Das muss rasend schnell gehen. Mehr als drei Schritte in die Höhe sind nicht möglich. "Nein", sagt jemand, "es gibt keine solchen Luftschritte auf dem Seil." Das Seil? Eigentlich ist es nicht da. Es wird nicht zur Verfügung gestellt. Mir nicht. Ich spinne meine Fäden, drehe das Seil, werfe es aus. Dann kann ich nicht länger warten: mein Auftritt! Ich begebe mich auf das Seil. Hat jemand es festgemacht, hat es sich irgendwo verfangen, erschlägt es jemanden, ist zu kurz, flattert noch, bevor es lotrecht hängt? Zurück ist nicht möglich. Und das mit dem gleichen Rhythmus? Ich muss mein eigenes Seil selbst auswerfen. Wie andere das tun, tun müssen, weiss ich nicht. Die Chancen, dass sich zwei Seile zu einem zusammendrehen, sind äusserst gering. Sich verheddern, ja. Vielleicht ist es so, dass manchmal zwei Seile für kurze Zeit nebeneinander herlaufen, sich kreuzen, der Rhythmus zufällig für wenige Augenblicke der gleiche ist, zu sein scheint. Schon geben wir uns dem Wahn hin, die Seile seien eins, der Rhythmus der gleiche. "Meine Damen und Herren, ein Kunststück zu zweit!" Das Publikum kreischt, pfeift auf den Fingern, klatscht. Schon laufen wir aneinander vorbei. Ein jeder auf seinem Seil. Der Rhythmus hängt auch von der Länge des Seils ab, von der Länge des jeweils zurückzulegenden Weges. Die Länge ist uns nicht bekannt. Auf jeder Plattform spinne ich neue Fäden, werfe sie aus. Mein Auftritt! Wenn wir ganz dicht beieinander sind, können wir natürlich spielen, springen, Seile vertauschen, bis vor lauter Übermut die Sprünge immer höher werden. Hoch und hoch. Dann muss jeder wieder auf sein eigenes Seil. Da wir den Rhythmus des anderen nicht wirklich, nicht aus uns heraus, in uns haben, können wir uns auf dem Seil des anderen auf die Dauer nicht handhaben.
Vielleicht scheint es nur so, als seien unsere Seile ganz dicht beieinander, wissen wir nichts vom eigentlichen Abstand, von der eigentlichen Nähe.

 

Zaltbommel, November/Dezember 1981

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