index prosa
FÜR M/1© Sabine Vess
kriecht übereinander her, zerquetscht
Ich erzähle gern im Laufen. Ich brauche keinen Tee. Hunger habe ich auch nicht. Der Schlosspark? Der Philosophenweg? Ich verstehe. Während des Aufstiegs könnten wir doch nicht miteinander reden. Wir müssten auch sofort wieder umkehren. Wir können hier einfach auf- und abgehen. Ich mag die Hauptstrasse. Als ich das erste Mal hier lief, wurde mir schwindlig. Jetzt ist alles so glatt. Weiter unten ist vieles geblieben, wie es war. Der Regen? Macht mir nichts aus. All die Menschen? "Verzeihung." Nein. Warum? Was schert es sie schon. Sie sehen ja nur, wenn sie überhaupt etwas sähen, dass ich mit dir zugewandtem Gesicht Gebärden mache, meinen Mund aufmache, Grimassen schneide. Spräche ich geradeaus, ohne Grimasse, ohne Gebärde, müsste ich brüllen oder meine Worte verlören sich und du könntest besser gleich zu deiner Verabredung gehen. Zwei sich doch nichts sagen könnende Menschen, die Hauptstrasse auf und ab. Brüllte ich, könnten die Menschen denken, da wäre was los. Es ist ja nichts, eigentlich. "He!" "Oh, Verzeihung." Da sitze ich. Spreche. Die Leere. Ich kann sie nicht mehr ertragen. Meine Worte: Kapok. Der Kapok füllt die Leere aus. Sie lässt mich taumeln, saugt mich in sich hinein. Zappelnd erst noch stehe ich da, verliere dann doch die Beine, den Grund. Dieser Kapok. Trocken. Schlucke. Neue Worte. Die Worte dringen nicht mehr durch. Und ein Wort zieht das andere nach sich nach. Da sie nicht aufgenommen werden. Hörst du noch? Jedes Mal, wenn ich meinen Mund aufmache, dringt's in ich zurück. Mir ist übel. Und immer diese Mauervorsprünge. Es gibt viele solcher Mauervorsprünge in dieser Stadt. Ich greife mir an die Kehle. Es sticht. Ich huste. Warum antwortest du nicht? Ich darf mich doch einhängen, ja? Hier auf der Strasse verflüchtigt sich der Kapok, kaum bei dir angekommen. Aus dem Rest steigen wir heraus. Es hat kaum Zeit uns zu umhüllen. Ohne Worte stürzten wir auf-, ineinander. Stürzten. Nichts finge uns ab.
Der Käfer Der weissbekopfte Käfer würgt sich aus dir heraus. Du kannst nicht mehr. Wirfst dich mir vor die Füsse. Wendest das Gesicht ab. Gebierst den Käfer. Bist immer halb Käfer. In den Leisten die Risse. Dein Leib: sein Rücken, harter Rücken.
Immer wieder mache ich mich auf den Weg. Immer wieder schreibe ich dir. Erst, wenn ich mit eigenen Augen sehe, dass dein Haus nicht mehr da ist, leer, verwüstet, ich jeden Winkel durchstöbert habe, komme, schreibe ich nicht mehr.
Wenn du umgezogen bist? Ausziehen musstest? Ein anderer, ein ganz anderer drin wohnt? Bist du verschleppt? Verschollen? Tot? Ich muss, wenn der Zug in, unter deiner Stadt ankommt, sofort aussteigen. Ich muss darauf achten den richtigen Bahnhofsausgang, den richtigen Zugang zur Stadt zu nehmen. Städte saugen mich durch ihre Strassen, Gassen, über Plätze hinweg durch Strassen, Gassen. Diese weisse Mutter und ihr Sohn. Ich folge ihnen durch Tunnel, über Rolltreppen. Sie gehen zielbewusst. Man hatte mir einen Stadtplan gegeben. Du hattest mir von der direkten Umgebung deines Hauses eine Vergrösserung geschickt. Sogar die Nummern der Strassenbahnen und Busse, die da halten, hattest du eingezeichnet. Soll ich hier auf offener Strasse zeigen, dass ich fremd bin! Fragen? Man könnte mich wer weiss wo hinschicken. Vielleicht versteht man mich nicht. Kommt kein Wort aus meinem Mund. Die beiden sprechen meine Sprache. Sie wissen es nicht. Sitzen im selben Abteil. Steigen wie ich unter deiner Stadt aus. Sie lässt etwas liegen. Ich nehme es, reiche es ihr, spreche dabei die Sprache deiner Stadt. Sie könnten denken, ich wolle anbandeln. Im Namen der Reinheit meines Volkes schlachteten Menschen meines Volkes ihr Volk ab. Vor unseren Augen, in unserem Namen, unter uns war geschehen. Kaum einer, der es gewusst haben will. Jetzt bin ich auf einem direkten Weg zu dir, kam noch an einem bunten Markt vorbei. Betrunkene liegen quer über den Bürgersteigen neben leeren, neben halbvollen Bierflaschen, schlafen, schnarchen. Manche, den Nacken an die Wand gedrückt, den Kopf auf der Brust, offenen Mundes. Ich trage den Stein den heissen Weg. Ich habe ihn für dich bemalt. Ich trage ihn in einem Netz über die Schulter geworfen. Bei jedem Schritt schlägt er auf meinen Rücken auf. Stein schlägt auf auf Stein. Ich spüre den Stein nicht mehr. Gehe den Schritt zurück. Hocke. Betaste den Stein durch das Papier. Ob er nicht doch beschädigt ist, zeigt sich erst, wenn das Papier ab ist. Ich wickele das Papier nicht ab. Kinder spielen auf der Strasse. Du könntest Ausschau halten. Ich bin schon so nahe. Netze sind Steinen nicht gewachsen und wenn, dann nur für kurze Zeit. Und ganz ruhig müssen sie getragen werden. Diese Verzögerung hatte ich nicht vorausgesehen.
Dämmerung. Gewichtloses Grau. Ich zwänge mich durch endlose Gassen. Rissige Patina überkrustet das Mauerwerk. Angenehm kühl ist es hier mit einem Hauch von Moder. Ich hatte mir ein Fahrrad geborgt. Ich stelle es ab. Es ist zu mühsam das Fahrrad andauernd über die in die Gassen ragenden Steintreppen zu tragen. An Türen kann ich mich nicht erinnern. Wie verschnörkelt das Gassennetz ist. Die vielen rechtwinkligen Durchgänge. Diesen Weg bin ich schon einmal gegangen. Ich weiss nur, dass ich ihn schon einmal gegangen bin. Durch dieses Haus muss ich. Es gibt kein Zurück; die gekommenen Strassen, schon in sich zusammengebrochen, heillos verklumpt. Ich betrete das Haus, eine Dämmerung, dunkler als in den Gassen. Es riecht nach Bohnerwachs. Die braune Holztreppe führt direkt zum Dachboden, in den Geruch alter Bücher und Schriften. Keine Fenster. Gedämpftes indirektes Licht lässt nur die vollen Regale erkennen, gerade noch die goldene Schrift auf den schwarzen Rücken. Titel, Namen. Mein Stadtplan, dein Plan. Ich hatte geglaubt die Stadt zu kennen, dabei ist es nie mehr als ein Ahnen: das kennst du, hier bist du gewesen. Die Pläne, die hier hängen, sind sehr alt. Ihr vergilbtes Papier zerfällt. Ich muss ganz dicht an sie heran, meine Augen auf jede Linie, jeden Buchstaben heften. Meine Augen brennen. Vieles zeigen sie noch gar nicht. Und dann wieder verästelte Strassen und Gassen, wo jetzt brach liegt. Einen aktuellen Plan gibt es nicht. Nur noch zwanzig Minuten. Fast beim Markt steht eine der Türen offen. Das ist die grosse Bibliothek. Vorm Eingang stehen die zwei Starken, die Hüterinnen. Starren. Ich bin klebrig, schmutzig, fühle mich klebrig, schmutzig, ihre Blicke auf mir. Ich schaue nicht hin, gehe vorbei. Es gibt nichts Schöneres als diesen Markt. Hoch umgeben spielerische Fassaden sein Viereck, grau wie die frühe Dämmerung, die nicht erdrückt, sich nicht auferlegt. An der Rückseite zur Anhöhe hin ist der Markt offen. Terrassen reichen bis runter auf den Platz. Menschen sitzen, schlendern, schauen. In meiner Erinnerung ist der Markt geschlossen. Ich suche ein Taxi. Bizarre viereckige Vehikel stehen da. Nirgends ein Chauffeur. Hin und wieder fährt eines dieser Vehikel weg. An Fahrgäste kann ich mich nicht erinnern. Wo kam der Chauffeur her? Noch zwanzig Minuten nach meiner Uhr. Ich schaue auf die Turmuhr: nein, eine. Ich suche kein Taxi mehr. Wozu, wohin noch. Wie oft hat meine Zeit sich nicht schon geweigert weiterzulaufen. Ich bleibe auf einem der Terrassenabsätze stehen. Wenn das Grau der Luft dieselbe Dichte hat wie die Fassaden, schluckt es sie auf. In dieser unwiderruflich aufrückenden Nacht stehen die zwei Starken fest und starr auf ihren Posten. Überall liegen nutzlose Türen. Die schmiedeeisernen Girlanden: angefressen. Haufen von Büchern: leer; ein paar Goldbuchstaben. Im Schwarz die lodernde Brunst. Himmel voller phantastisch sich auf- und ineinander stapelnder flammender Städte tun sich auf. Die Starken starren hoch mit Augen wie Kinderaugen vorm Weihnachtsbaum. Hinter ihnen das Krachen. Die Nacht verzehrt schreiend die letzten Worte, die letzten Buchstaben. Aufs Neue müssen sie entstehen. Ich habe nur diese Nacht. Wer nimmt mich mit? Wem muss ich es sagen? Die Strassen lösen sich auf.
In jener Nacht schlafe ich mit all den Leuten in jenem winzigen Raum mit den brüchigen Lappen vor den Fenstern und überall klammer Wäsche. Muss einer nachts raus, steigt er vorsichtig über uns hinweg und wir rühren uns nicht, damit er nicht denkt, es störe uns oder wir ihn hindern wollten, wollten, er bliebe noch. Ganze Menschenscharen klumpen an einem Menschen. Sie sind so mit ihm verwoben, dass wenn wir den einen berühren, wir auch den und den und wieder einen berühren, beruhigen müssen. "Und ich und ich, ich." Ich steige über die Schlafenden, die sich schlafend Stellenden hinweg, meine Kleider zusammengerafft in der Linken, mich mit der Rechten voraustastend, auf Zehenspitzen. Vor der Tür ziehe ich mich an. Das ist ihr Raum. Sie haben nur diesen. Ich musste weg. Ich konnte dein Schweigen nicht länger ertragen. Es peitscht mich. Ich bin nicht fähig mich seinen Hieben zu widersetzen. Und um mich herum dieser Krach. Nachts höre ich das Stampfen der Schiffe auf dem Fluss.
Der Brief Ich schreibe dir oft, immerzu. Und all die Worte, die ich dir aufschreibe und nicht abschicke. Eine Kordel gedreht aus Worten. Nicht ausgestossen, zerschellten sie mich, nicht ausgeworfen, fielen sie auf und in mich zurück, erstickten, erdrosselten mich. Ich werfe sie aus, werfe mich aus, in deine Richtung. Ein-, zwei-, drei-, vier-, fünf-, zigmal in deine Richtung. Die Kordel muss mich halten, muss mich transportieren. Ich muss mich halten, ich muss mich transportieren. Immer. Immer von neuem. Manchmal ist die Kordel, bin ich zu brüchig, manchmal zu schwer. Fieberhaft bessere ich aus, verbessere, nehme zurück, füge hinzu. Hat sie dich, habe ich dich erreicht? Ein Wort, bitte. Nicht, dass ich fragte. Ich fürchte, dass du sagen könnest: "Hör auf!" Lieber in Ungewissheit. Fürchte, dass du dich gezwungen fühlen könntest, meinen Anblick nicht mehr ertragen kannst, dass du dich abwendest, mich abweist, mir Almosen gibst. Almosen stempeln den Bettler. Mit Bettlern spricht man nicht. Ich fürchte mich vor Richtungslosigkeit. Ich kann mich doch nicht einfach in den Raum auswerfen. "Du marterst", schriebst du. Peitschen dich meine Worte? Vielleicht ist das Singen, das die Kordel verursacht, wenn sie den Raum zerteilt, die Zeit, so erschreckend. Ich hoffe, es geht dir gut. Du sagtest: "Jeder Brief, der in mein Haus kommt, wird innerhalb der darauf folgenden vierzehn Tage beantwortet und abgelegt. Das ist die Regel." Das ist schon lange her, sehr lange. Am Anfang. Auf deine Briefe antworte ich gleich. Wo sind meine Briefe, meine Worte? Was tun sie dir? Vielleicht träume ich nur, dass ich schreibe, schreibe und vernichte das Geschriebene sofort. Es gibt Briefe, die, wenn nicht sofort abgeschickt, ihre Gültigkeit verlieren. Entstanden aus Nacht, können sie die kommende Nacht nicht unbeschadet durchstehen. Nacht frisst Worte, leckt an ihnen, macht sie fade und bleich. Es gibt Nächte, die so tief sind, so zerrüttend, dass sie alle kommende Nacht überschatten, verkümmern, nicht geschehen lassen. Und die unbarmherzigen glatten Tage, die keine Runzeln, keine Schatten, nichts, was aus Nacht ist, dulden. Manchmal bitte ich Kinder meinen Brief einzustecken. Der Brief muss unterwegs verloren gehen. Wie viele mögen unterwegs verloren gehen. Horden von Vögeln umkreisen die Postzüge. Die Waggontüren lassen sich nicht mehr schliessen, stehen offen, die Postsäcke, zum Erbrechen voll, auch offen. Man schnürt sie nicht mehr zu. Der Postzug rast durch die Nächte - das Schlagen von Türen -, Briefe flattern, rast ohne Halt. Ich habe kein Recht so zu sprechen. Du schreibst. Deine Briefe kommen selten, zu unbestimmten Zeiten. Das ist nicht leicht. Ich lauere auf den Postboten. Jeden Tag. Ich nehme die Umschläge an. Lächele ihn an. Blut steigt mir ins Gesicht. Postwurfsendungen, Drucksachen, Mitteilungen. Bis zum Mittag kann ich hoffen. Die letzte Stunde. Ich schaue immer öfter in die Richtung, aus der der Postbote kommt. Jede Bewegung. Jeder Schatten. Das Schauen ist wichtig. Oft kommt gar nichts. Ich muss also sicher wissen, dass mein Postbote unser Haus auf seiner Runde schon passiert hat. Solange er das Haus nicht passiert hat, besteht Hoffnung, warte ich. Die Lähmung, die dieses Hoffen, dieses Warten auf, immer wieder hervorruft, ebbt erst wieder ab, wenn ich sicher bin, dass er vorbei ist. Manchmal gehe ich weg, tue, als sei es mir egal. Nach vier Uhr am Nachmittag kommt nichts mehr. Noch ein Tag und noch einer. Ich starre nur noch vor mich hin. Laufe auf und ab. Taub. Drücke mir einen Stift in die Hand, schreibe dir. Habe wieder Grund zu warten, das Gefühl eine Richtung zu haben. Ich gebe mir diese Richtung selbst. Habe sie eingeschlagen. Ein bisschen ruhiger werde ich, wenn ich das Ankommen eines Briefes befestigt habe. Der Brief an sich löst alle Spannung. Kurz. Manchmal begreife ich den Inhalt deines Briefes erst spät. Der Brief an sich, dieses Zeichen: du bist nicht tot, nicht tot für mich. Du hattest gesagt: "Ich verstehe." Du warst zu mir gekommen. Ich habe dich gesehen. Du verstehst. Du hast zugelassen, dass ich zu dir komme, dir schreibe. Vielleicht gebe ich mir dieses Verstehen, mein Kommen nur selbst. Du bist auf unerklärliche Weise in mich eingedrungen, hast dich verankert in jeder Faser meines Ichs. Es ist geschehen. Beim ersten Sehen. So durchdrungen von dir, weiss ich nicht, wo du bist. Ich suche ein Haus im andern und kann keines finden. Für ein paar Stunden nur. Bitte. Ich gehe ja wieder. Verwische meine Spuren. Vor sechs Wochen schriebst du: Es gibt Leute, die, wenn sie einen Brief erhalten, sofort antworten, spontan. So entsteht eine Art Gespräch. Früher tat ich das auch. Das waren Antworten auf die Briefe meiner Mutter. Ich hatte damals Zeit genug immer wieder zur Post zu gehen, meine Briefe aufzugeben. Das war eine Kordel, ein Weg zurück in die Richtung meiner Herkunft. Das ist lange her. Jetzt sind meine Tage, meine Wochen vergeben. Ich tue viel. Ich tue es gern. Unter diesen Umständen... Lass uns miteinander sprechen, schrieb ich zurück, sag, wann es dir gelegen kommt. Unsere so langen, so guten, so erschöpfenden Gespräche. Ich will dir nicht wehtun. Aus mir heraus werden abscheuliche Mengen geboren. Auf dem Papier sind sie nicht mehr von mir. Dieses nicht mehr von mir Sein, selbständig, wie schwer das ist. Ich schicke sie weg und will wissen, wo sie sind, was sie anrichten. Will wissen, was ich mit meinem Tun anrichte, womit ich weitermuss, kann. Ich frage nicht.
Zigmal vierzehn Tage verstreichen. Ich packe das Nötigste, steige in den Zug nach Osten. Es ist später Abend. Bald schon überqueren wir die erste Grenze, fahren in der Nacht durch mein frühes Land, das zerteilte, entlang der trennenden Mauer, bleiben lange auf dem östlichen Bahnhof meiner Geburtsstadt stehen. Noch ist es dunkel, der Tag kaum zu ahnen. Ich kann da nicht aussteigen, nicht einfach so. Auf dem Rückweg steige ich da aus, auf westlicher Seite, begebe mich in den östlichen Teil, durch die Mauer, die strengen Kontrollen, bezahle. Bleibe nur wenige Stunden. Ich muss die Sterbende noch einmal sehen, muss noch einmal mit ihr sprechen, sie noch einmal umarmen. Dann sehen wir uns nicht mehr. Wir kennen uns erst seit letztem Jahr - schon immer. Damals, auf meiner Rückreise, sahen wir uns zum ersten Mal. Sie war schon krank. Wir wussten es nicht. Im Morgengrauen erreicht der Zug die Grenze deines frühen Landes. Am späten Nachmittag steige ich in der Hauptstadt aus. Ich schlafe da in diesem winzigen Raum auf einem Klappbett. Im Dunkel werde ich wach. 5 Uhr 45 entziffere ich. Vor Angst zu verschlafen, wenn ich die Augen wieder schliesse - es gibt jeden Tag nur einen Zug zurück, und meine Frist läuft heute ab - vor Angst schliesse ich die Augen nicht. Lange später, eine Stunde, mehr, ist es 3 Uhr. Zeit, die zurückläuft, ist grau, schwer, lähmt, ist bitter.
Gross, blond, ungekämmt, verheulten verquollenen Gesichts voller roter Fleken, stöckelt sie durch die Sonntagsmenschen auf diesem Platz ohne sichtbare Zu- und Ausgänge. Zerstört bis auf wenige Skelette, die Schatten seiner Fronten eingebrannt ins Pflaster, hat man ihn nach seinem Ebenbild aus seinen Trümmern, seinem Schutt wieder aufgebaut. Generationen liegen zwischen dem ursprünglichen Platz und seinem jetzigen Ebenbild. Die Grosse reisst ihren sehr roten auslaufenden Mund auf, brüllt wässrig, rückt dabei kerzengerade, gleichmässig vor. Die Menschen drehen sich empört zu ihr um, schauen von ihr weg in die Richtung, in die sie brüllt, aufrückt, sehen ihn weglaufen, sich halb noch umdrehend, geduckt. Ihr Brüllen wird nasses Schluchzen. Sie zieht Rotz und Wasser grunzend durch die Nase in den Mund, schluckt. Das Wasser, das ihr aus den Augen fällt, wischt sie nicht ab. Mit beiden Händen hält sie sich an der Handtasche vor dem Bauch fest. Ihr Mantel ist nicht zugeknöpft. Der breite Rücken. Ich hatte Wein getrunken. Hatte gegessen. Hatte lange noch dagesessen. Hatte Hunger gehabt, gefroren, war lange ziellos durch die Stadt gelaufen. Auch letztes Jahr, bevor ich dich noch eine Tagereise weiter östlich bei deiner Familie traf, war ich hier. Ich erkenne die Klänge, die Melodie, die Gebärden der Menschen. Auch du kämst immer wieder her, sagst du, um in der Fremde nicht auszutrocknen. Ich gehe in das Lokal, gebe meinen Mantel ab, frage, ob ich hier essen und trinken könne. "Ja." Gedämpftes Licht, gedämpfte Musik. Ich finde eine schwach beleuchtete Nische. Das ist gut. Ich will nicht, dass die Menschen mein Fremdsein bemerken, mich anstarren; wie ich esse, trinke. Ich will nicht, dass jeder Bissen vom Teller bis in meinen Mund hinein verfolgt wird; wie ich kaue und dann schlucke, die Schlucke Wein. Ich will mich ungestört laben. Es gibt hier nicht so viel. Nur wenige können es sich leisten in solch ein Lokal zu gehen, meist Fremde. Ein Stück Strasse kann ich überschauen und den grossen Essraum. Da essen die Menschen direkt an den Fenstern. Und die hinter den Scheiben schauen, schwere Taschen schleppend, rein. Stellen die Taschen ab. Drücken ihre Gesichter, ihre klammen Hände an den Scheiben platt. Die Augen aus diesen zerquetschten Gesichtern bohren sich in den Raum, in die Menschen an den Tischen, in das Essen. Gelabt, erwärmt, hole ich meinen Mantel, knöpfe ihn gut zu, verlasse das Lokal, höre Brüllen, Schluchzen, das harte gleichmässige Aufrücken von Stöckelschuhen.
Ich bringe dir jedes Mal etwas mit. Ein Zeichen. Manche meiner Zeichen liegen in den Räumen, die jeder betreten darf. Das tut mir gut. Dein Haus hat Räume, Kammern, die ich noch nie gesehen habe. Ich weiss nur, dass es sie gibt. Wie viele es sind, weiss ich nicht. Eine Kammer durfte ich einmal, das allererste Mal, kurz betreten. Da steht ein goldener Schrein. Das Haus hat ungeschriebene Regeln. Ich kann mich ihnen nicht widersetzen. Ich gehe in den Duschraum, ziehe mich aus, wasche, spüle den Strassenstaub, den Reisegeruch von mir ab, trockne mich gut ab, schlüpfe wieder in die Kleider. Meine persönlichen Sachen, Papiere, lege ich ab. Ich brauche sie hier nicht. Wenn ich länger als heute bleibe, erst morgen wieder gehe, schlafe ich in einem Raum, der weit von den anderen entfernt und nur durch schmale Gänge und Treppenhäuser mit ihnen verbunden ist. Es gibt da ein Stofftier. Nachts ziehe ich die Vorhänge nicht ganz zu, sehe die Häuser der Umgebung: dunkle Festungen. Auf einmal Licht. Nur kurz. Das Licht muss aus deinem Haus gekommen sein, die anderen waren dunkel geblieben.
Der Lunapark Du kannst ihn nicht willkürlich betreten. Es gibt Eingänge.
Das Stück Strasse, das ich nicht, nie betreten kann ohne es zu zerstören. Unter meinen Füssen zerbröckelt es, treibt ab.
Die Treppe Irgendwie sind wir draufgekommen. Sie befindet sich in einer braun gestrichenen Bretterbude mit rot/weiss gestreiften verblichenen Markisen. Das Gedränge vor der Bude ist unerhört. Eine Horde ineinander verklemmter Menschen. Rein in die Bude, weg von der Bude. Die Bretter können das Getöse des Geschehens, das sie umschliessen, nicht daran hindern nach draussen zu dringen. Die Bude kracht, stöhnt, schwankt. Gequetschte Schreie, Quietschen, Sirenen, "Aaaaah..." Ich schliesse die Augen. Unter tausend Kissen möchte ich meinen Kopf begraben. Sirenen durchdringen meine letzten Winkel, krallen sich mir ins Fleisch. Ich kann nicht weg, bin eingekeilt zwischen Leibern. Meine Augen liegen bloss, mein Mund hat keine Lippen. Die Bude tanzt, kreischt: "Maine zähr värährten Tamen und Cheren!" Wieder dieses Aufheulen, das in Schwindel erregenden Höhen jaulend über uns hängen bleibt. Wir pressen uns durch die niedrige Türöffnung. Unser Strom reisst nie ab. Wer daussen ist, kann nicht reinschauen, weiss nicht, was ihn erwartet. Das Kreischen. Sieht nur die Rücken im Türrahmen. Wer drinnen ist, hat nur noch seine Erinnerung. An was schon. Kaum drinnen, ruckelt es uns nach oben, nach unten. Rechts und links ist ein rotes Geländer. Die, die direkt am Geländer stehen, können sich daran festhalten. Ich hebe die Füsse, setze sie auf. Sehe die Stufen nicht. Das immer wechselnde Licht, das alles bewegt, rot, orange, gelb, grün, blau, violett, grau, schwarz, aus. Grau... ich erkenne kaum etwas. Jede Farbe frisst ihre eigene Farbe, löscht sie aus. Auf den Boden schaut man nicht. Unsere Leiber werden durch- und durch- und gegeneinander gerammelt. Die in der Mitte können sich nur aneinander festhalten. Die Sirene! Scharfe Kurve rechts. Scharfe Kurve links. Hoch. Runter. Dieses Ruckeln. Die ersten verlieren das Gleichgewicht, greifen nach einer Jacke, einem Hosenbein. Die zitternden jackelnden Leiber rappeln sich auf, grinsen. Licht, Licht, Kreischen, Grau, Sirenen, Schwarz, Sirenen, Grau. "Maine zähr värährten." Ich stehe auf Weichem. Dieses Kreischen. Hinter, über alledem spielt eine verborgene Kapelle. "Warte, warte nur ein Weilchen." "Auf einem Baum ein Kuhukuk." Ganz Spassige treten einen Schritt zurück, prallen auf die der Nachrückenden, die sich noch aufrecht halten können, stramm, fest, grinsend, den Blick nach vorn. Die, die sich nicht mehr aufrappeln können, klammern sich an unsere Beine - wir schlagen sie ab -, versinken winselnd. Und ununterbrochen rücken Menschen nach. Sie wissen nichts, sehen nichts, auf den Boden schaut man nicht. Licht, Licht, Grau, Schwarz, Licht, Licht, rücken über uns hinweg auf, unsere Kehlen, unsere letzten Schreie zertretend. Der Keil rammt sich immer tiefer in die Treppe. Ich spüre keine Stufen, geebnet, glitschig, ein Band, manchmal - stolpere vom Rot ins Gelb ins Grau, Blau, Grau, Violett, Schwarz, "Aaaaah...", Grau, dieses Kreischen, "maine zähr värährten", das Geländer bewegt sich schneller als die Treppe, das Band. Die, die vergessen zurückzufassen, werden vom Boden gerissen. Wir rücken auf, werden aufgerückt, gezappelt. Hunger? Durst? Jede unserer Fasern ist beansprucht. Gestank? Ausdünstung? Die Ekel erregende Süsse des Blutes? Der Verwesungsgeruch der Zertretenen? Mit glänzenden Augen, den Blick nach vorn, Blechmusik.
Das Spiegellabyrinth Nicht genug, dass es Spiegel sind, es sind Zerrspiegel und überall. Auf dem Boden, an der Decke, rechts, links, vor, hinter mir, in allen Durchgängen. Kein Flecken ohne Spiegel. Manche sind blind. Je weiter ich eindringe, desto stärker verzerren sie. Mein Schrecken vor jenem Wesen, das mich von daher anstarrt, mit verrenkten Gliedern, verzogenen Zügen, ungestaltem Leib Schritt für Schritt auf mich zukommt - mein Schrecken fährt in das Wesen, fletscht ihm die Zähne, bläht es auf, bläht mich auf, pralle auf. Kalter Schweiss. Pochen! Pochen! Schreie! Schreie! Die Ohren zuhalten! Hände tasten. Irres Lachen.
Leere, nie gekannte Strassen türmen sich vor mir auf. Dein Haus samt seinen, deinen Kammern, dir weicht vor mir zurück, gebiert Strassen um Strassen. Manchmal weiss ich nicht, ob ich mich im Lunapark, noch auf einem der direkten Wege zu dir oder schon in deinem Haus befinde.
Du empfängst mich. Wir setzen uns einander gegenüber. Der Raum ist hell und klar. Wir sitzen auf den schmalen Steinbänken. Zwischen uns vergeht keine Minute ohne Worte. Es gibt hier keinen Staub, keine Dämmerung. "Schön war ich, stolz, die Welt lag mir zu Füssen." Wir formen Menschen aus Worten, Gebärden, Grimassen, bevölkern mit ihnen unsere Plätze und Strassen, bevölkern den Raum. Es sind nicht nur unsere Menschen, es sind auch die Menschen unserer Menschen. Zwei Heere kommen aufeinander zu, zwei Heere ziehen dicht aneinander vorbei, ziehen durch zwei verschiedene Städte in einem Raum. Du in dem deinen, ich in dem meinen. Auf dem Rummel geraten sie kurz durcheinander. Kurz, wenn ich komme, und kurz vor Ablauf meiner Frist legen wir unsere Hand an die klopfende Kehle des anderen. Auge in Auge. Stumm. In diesen Augenblicken, die die Ewigkeit sind, liegt alles offen, ist alles so klar. Ich bange vor diesen Augenblicken, bange, dass sie nicht kommen, ausfallen, es sie nicht gibt, dass sie mich so weit wegsaugen. Diese zwei Augenblicke, verlangte man von mir die ganze Frist über regungslos dazusitzen, nur vor mich hinzustarren, ohne Laut, ich käme. Meine Zeit mit dir geht zu Ende. Wir gleiten ab in den Abschied, sprechen voller Inbrunst, verlieren uns in unseren Strassen. Als gäbe es keinen Abschied. Das Telefon klingelt. "Das Telefon klingelt." Es ist schon das zweite Mal. Das erste Mal war vor dem Frühstück. "Nein", sagst du, "nur das Frühstück." Wenn du mir wieder gegenübersitzt, sage ich: "Ich muss gehen." "Musst du nichts essen", fragst du, "die Reise ist lang." Ich schüttele den Kopf. In dem Zimmer, in dem ich geschlafen hatte, habe ich meine Spuren schon beseitigt, habe meine persönlichen Sachen, meine Papiere wieder eingesteckt. Das mit den Heeren, mein Heer, ich habe oft darüber nachgedacht. Ich habe kein Heer. Manchmal habe ich probiert mich einem bestehenden anzuschliessen. Manchmal habe ich einen Herold, aber der weiss kaum, worüber er spricht.
Verhörfetzen "Bitte, nicht. Und wozu dieses Licht!" "Sie hassen." (Das sind die zwei Hüterinnen, die zwei Starken. Sie fahren mich durch deine Stadt.)
Sie sind stark. Sehr stark. Essen Stärke. Brauchen Gerüste um ihre Stärke leichter tragen zu können. Da die Gerüste nicht leicht sind, brauchen sie Stärke. Die Gerüste machen sie ziemlich unbeweglich. Sie laufen nur mit den Beinen. Sie seufzen und prusten dabei. Bei allem, was sie tun, prusten sie. Allein das Prusten kostet schon Stärke. Ihre Gesichter sind rot. Sie greifen noch einmal zu. Sie laufen nicht wirklich. Die Füsse erreichen den Boden nicht mehr. Sie hängen in ihren Gerüsten und zappeln. Sie können sich nicht mehr absetzen. Von nichts. Füsse brauchen immer einen Grund zum Laufen. In ihren Gerüsten hängend werden sie geschoben. Je ein Diener. Vielleicht auch mehrere, ich bin nicht sicher. Ich glaube, es verhält sich so: die Diener stehen auf Abruf bereit. Sie sind nicht angekettet. Nein. Die Gerüste? Qualität. Bei guter Pflege halten sie ein Leben lang. Zwei, drei, vier... Ich weiss nicht wie lange. Es ist schwer Tote aus ihren Gerüsten zu befreien. Man muss sie herauszerren, heraus brennen. Man muss die Gerüste auseinanderschrauben. Man muss sie verbrennen samt der Gerüste. Man kann auch warten, bis sie verwesen. Dann rieseln sie von selbst heraus. Der Gestank? Der süssliche Verwesungsgeruch? Merkwürdigerweise ist der schon nach drei Tagen nicht mehr zu riechen. Das Herausrieseln kann allerdings sehr lange dauern. Wie lange? Wir können nicht so viel vertragen. Eigentlich ist es so, dass wenn der Gestank vorbei ist, alles ziemlich schnell geht. Der Gestank ist ekelerregend. Und der Anblick, den der Verfall bietet. Das Gewebe löst sich von den Knochen, die Haut zeigt Risse, Löcher. Die Farbe ist jetzt grau. Erst war sie noch gelb und blau und grün. Golden könnte man meinen, bei richtiger Beleuchtung. Gold, wer verfügt schon über Gold? Dieses Material schlägt grün aus, wird grau. Das ist zu viel für uns. Wir restaurieren. Wir verfügen über ganze Kolonnen Restaurateure. Blattgold, echtes Blattgold haben wir nicht, das ist zu teuer. Dafür putzen wir. Dass wir restaurieren, ist wirklich das Beste, das wir tun können. Was sollten wir mit all den leeren Gerüsten? Sie sind wertlos aber nicht zu vernichten, nicht einfach so. Sie waren nicht billig. Nach dem Anblick des Elends, des Verfalls derer durch sie Getragenen, würde niemand ein solches Gerüst mehr berühren, geschweige denn gebrauchen wollen, besitzen wollen. In der Nähe von Getragenen ist es immer kühl. Ich weiss nicht, wann die Restaurateure hinzugezogen werden. Sicher schon vor Eintritt des Todes. Seit langem wissen wir nicht mehr, was Verwesung ist. Es stinkt auch nicht mehr. Schreie? Ob die Starken schon tot sind? Ob sie schon gestorben sind? Jung waren sie, schön. Wir lagen in ihren Armen, ergossen uns in sie. Rissen uns um sie. Ganze Nächte lungerten wir vor ihren Türen. Mein Gott, wie schön sie waren.
1. Kammer Das Licht ist lange schon grau. Früher war es weiss. Gnadenloses glattes Weiss. Ritzt du es an, zerfällt es in eine bunte Kirmes. Seit das Licht grau ist, sitze ich hier, starre, die Hände im Schoss.
2. Kammer Alles ist blau, kalt. "Ich bin mit dem Mund über den Lippenstift gefahren." Im Schoss die Hände: ein Etwas mit zwei Rücken. "Ich kriege sie nicht auseinander." Das Rot des Mundes läuft aus.
3. Kammer Ich halte die Fenster geschlossen, die Rollläden heruntergelassen. Neben mir eine Kerze, eine rote Rose. Mein Gesicht ist wie die Luft hier, abgestanden und schal, nur dichter. Ist grau wie das Licht. Durch langes Nichtessen bin ich dürr. Die Flasche Cognac: noch ein, zwei Schlucke. Die offenen Augen brennen. Fahre mit der schrumpligen Hand über die Haut. Die Zeit dauert, ist ohne Schlaf. Dunkle Schatten kommen, waschen den Leib, streifen ihm das weisse Hemd über, weiss, gestärkt, glatt wie die Laken zuhause. Sie legen mir Rouge auf: "Jetzt hat sie Wangen", schminken knallrote Lippen, schliessen die Augen, schütteln das Deckbett auf, zünden die Kerze an. Weihrauch. Mir ist übel.
4. Kammer Stöhnend erwache ich, die Arme ausgestreckt, die Knie im Leib, auf dem Rücken in zähem Schlamm. Grauer Lehm, lehmiges Licht. Auf Schritt und Tritt begleitet mich dieses Fieber. Schlägt immer wieder zu. An manchen Tagen klopft und tropft es bis in meine Hände. Es durchwühlt mich, rast, zerfrisst meinen Leib, alles, alles, mich. Meine Aussenseite ist glatt.
5. Kammer Rote Lippen, auffällig geschminkte Gesichter. Rauchschwaden. Blinde Fenster. Dies ist das Reich der im Rücken Durchlöcherten. Freundlich lächelnd kommen sie auf mich zu. Pein unter Schminke. Ihr Atmen erzeugt einen metallenen Klang. Sehr rhythmisch, sehr beklemmend. Sie lächeln. |