index prosa

Ein Abschied zu Zeiten der Corona

aus zwei Briefen von Ende 2020
© Sabine Vess



21.09.2020





26.11.2020

Nach und nach, seit langem schon, hatten wir Abschied von ihm genommen und er von uns. Irreparabel zerbröckelten Teile seines Gehirns, stürzten ein. Jede nächste Stufe liess mich aufschreien, lautlos, singend, doch schreiend. Warum schreist du so, fragte er. Der Schrei musste raus, sagte ich.

Die Entscheidung über eine angemessene Zeremonie der Bestattung nahm Corona uns ab.

Tag und Nacht, wieder und wieder, immer aufs Neue hatte ich ihm bestätigt, er bliebe zu Hause. Nach einem Sturz und einem Tag im Krankenhaus starb er am vierten Tag gegen Mitternacht.
Wir legten ihn ab. Bahrten ihn auf.
Wer ihn warm, dann kalt noch sehen wollte, mit oder ohne Worte, vielleicht einem Gläschen, sah und hörte die Mühe, die es dem Sterbenden kostete, und dann das friedvolle Gesicht, in dem er sich nicht mehr befand.
Wir hatten seine Lippen genässt. Wein, hatte er noch gesagt, und wir hatten seine Lippen dann mit Wein genässt, Tränen weggewischt, gelacht.

Beide Töchter und ich begleiteten seinen Leichnam zum Krematorium. Da standen wir zu Füssen des Sargs. Eltern sind gleich Felswänden entlang eines Tals, sagte ich. Das Tal reagiert auf Wetterumschwünge und andere Veränderungen, die über die Wände hereinbrechen oder lange schon an ihnen nagen, nicht dass es begreift, was sich da abspielt. Auch die Felswände begreifen im Grunde nichts voneinander und dem Tal. Menschen können sich ihre Gehirne über das Warum ihrer Eltern zermartern; begreifen ist nicht nötig. Immer exaktere Analysen ermöglichen es Menschen exakter vorherzusagen und dem Nachwuchs die als nötig erachtete Hilfestellung zu leisten. Es handelt sich immer um Rechnungen mit wenigstens einer Unbekannten. Und der Mensch hat Recht auf Geheimnisse, eine Kammer ohne Zutritt, auch stehen die Türen offen, liegt alles bloss da.
Ich drückte meine roten Lippen auf den Sarg.

Wir fuhren heim, sein Leichnam ins Feuer. Die Enkel hatten den Leichenschmaus zubereitet. Wir stiessen auf Papa, Opa, meine andere Hälfte, das Leben an.

Der Tod des anderen stösst dich raus in die Welt: Geh!

 

21.12.2020

Es wurde dunkler, kälter, man rückte zusammen, als ginge das noch zu elft auf knapp 50 Quadratmetern und Leopold, dem Holzbein unseres Vaters. 1953, zu Beginn unserer Zeit in Heidelberg. Zwei Jahre später zogen wir in das Haus, in dem unsere Mutter blieb, bis wir sie abgelegt hatten, die Krähen kamen. Das war 1997.

Ich spielte Blockflöte, sang im Kirchenchor.
In jenen so dunklen Tagen begaben wir uns von unserer Schule im Zentrum der Stadt ins Armenhospiz ein paar Stassen weiter, spielten an Betten von zahnlosen Ausgemergelten, begleiteten in der angrenzenden Kirche die Organistin. Ihre Beine waren kurz. In kalten Kirchen hörten wir Orgelkonzerte, mussten die Schokolade bis Weihnachten bewahren. Knecht Ruprecht steckte ungezogene Kinder am 6. Dezember in Säcke, brachte sie zur Hölle und rechtzeitig zum Heiligen Abend geläutert wieder nach Hause, zum Weihnachtsbaum mit den brennenden Kerzen, dem Eimer Wasser daneben, stille Nacht Heilige Nacht süsser die Glocken nie klingen und Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen und den noch abgedeckten Gaben.
Ich liebte und liebe diese dunkler, wieder heller werdende Zeit, die Gaben; nicht die Kälte.

Ob es ein bisschen gehe und was ich jetzt, herrschte Corona nicht, getan hätte, hätte tun wollen? Von heute an, drei Monate nach seinem Tod, werden die Tage wieder länger.

Nach der Einäscherung, allein, in einer Einsamkeit gleich der, in die mich jeder Strich, den ich aufs Papier setze, schlagartig versetzt und ich nie weiss, was mich von daher dann anstarren wird, hatte ich in den nur mehr meinen Räumen und Zeiträumen, im Haus und also in mir, mit dem Umräumen und Entrümpeln auch meiner Sachen angefangen.

Ich darf noch zum Supermarkt, das Auto auslassen wie einen Hund, zur Abfalldeponie, über die Stadtwälle laufen wie einst Karl Marx mit seinen Furunkeln, entlang des Flusses, durch die Strassen dieser kleinen Stadt, Menschen zuwinken und in vorgeschriebenem Abstand, hinter vorgebundener Maske Worte wechseln.

Ich hatte ihn eher gezeichnet, gemalt, in Zink geätzt. Er hatte zu meinen in ihren Bewegungen erstarrten weiss transparenten fleckigen Kumpane meines 'Karnevals' auf der Bühne gehört und im Saal am Mischpult dafür gesorgt, dass meine Stimme im 'Humba Humba' der von ihm zusammengebrauten Geräuschkulisse nicht unterginge.
2011 zeigten sich deutliche Veränderungen in einem Portrait. Vier Jahre danach konnte er nur mehr gut zwei Stunden allein gelassen werden. Das wurden weniger. Orchester traten 'Humba Humba' Tag und Nacht aus Wänden, verschwanden in Verliesen unter der Treppe. Dass ich sie nicht hörte, sah! Und die Wesen, Schatten... Sie kommen für dich, sagte ich.
Schliesslich musste immer jemand in Rufweite sein. Die drei Mal Tagesstätte pro Woche, gegen Ende, halfen mir, schluckte er.
Diese Einstürze in seinem Gehirn belegten unser beider Raum, Zeit und Bewegungsfreiheit, verschieden, mehr und mehr mit Beschlag.
Mit dem ersten Strich weg, doch da, zeichnete, malte ich ihn, schrieb auf. In allem, was ich zu Papier brachte, tauchte er auf. Da stand und steht, was auf uns zukam, und ich nahm seinen und meinen Prozess in mich auf, setzt die Hand ja jeden Strich, jeden Buchstaben, den sie aufs Papier setzt, auch das Ausradieren, Streichen, Übermalen, auch in mich.

Bis in sein Röcheln hatten wir immer auch gelacht.
Als er tot da lag, stand auch in der Zeichnung, dass er tot war.

 

index prosa .......karneval theater