texte vess/schulz
bruno schulz - sabine vess: bilder einer begegnung

 

DAS PHÄNOMEN BRUNO SCHULZ ODER
MEIN BAUM DER ERKENNTNIS

© Sabine Vess

 

Mein Baum der Erkenntnis ist die Birne, das Zentrum unseres Lebens und somit das unserer Wahrnehmung ist herausgerückt aus dem Schatten ferner Halte. Zeit vergeht, ehe ich es fasse.
Ich spüre die vor Glut zitternden Luftschichten der ersten Seite jenes gerade aufgeschlagenen weissglühenden betäubenden Augusts, höre den Leierkasten, was aber soll ich mit der Klaviatur von Kälberrippen, der reinen Poesie des Obstes, Pomona, der Göttin des Obstes.
Kaum umgeblättert, reisst eine Parade golden maskiert grinsend sich Grüssender mich mit.

Ich blättere zurück, blättere immer wieder zurück.
"Wir blätterten, verrückt vom Licht, in dem grossen Ferienbuch, dessen Blätter sämtlich vor Hitze brannten und auf ihrem Grund den bis zur Ohnmacht süssen Matsch goldener Birnen hatten", berichtet Schulz.
Mein Mund füllt sich mit süssem warmem Matsch. Ich presse diesen Matsch durch die Lücken meiner Zähne. Er tropft mir durch die Finger, rinnt runter an den Ärmchen. Ich schlürfe ihn auf, lecke ihn mir vom Leib. Alles wird durchtränkt und glasiert von jenem süssen Matsch. Das Gesicht kann ich mir nicht ablecken. Nur die Lippen. Ich liege gerade ausserhalb des Schattens des Birnbaums des Nachbarn. Grauchen, hässliche graue Birnchen mit einer harten pickligen nahezu bitteren Haut. Ich stopfe diese Birnchen in mich hinein, eine nach der anderen. Übergebe mich. Stopfe sie in mich hinein. Fünf bin ich in jenem ersten Sommer, nachdem meine Mutter mit ihren drei Kindern im März 1945 Stettin verlassen hatte. Wir wohnen im Schlafzimmer einer Halbschwester meines Vaters, einer frischen Kriegerwitwe mit zwei halbwüchsigen Söhnen, in Göttingen. Süss glasiert, ganz Birne, mein Gesicht spannt, kann ich nur noch die Oberlippe hochziehen, die lückenhafte Front der Zähne hinhalten. Der Schatten des Baumes, dessen Früchte ich gierig verschlinge, deckt mich nicht.

Als ich mit sechzehn den Wunsch äussere zum Theater zu wollen, sagt mein Vater: Du hast kein Talent.
Meine Mutter ist die Tochter eines Konfektionsschneiders. Einer von zwölf, verlässt er die Tucher Heide, zieht nach Stettin. Das ist Anfang des 20. Jahrhunderts.
Die Vorfahren meines Vaters stammen aus Jugoslawien. Von 1825 an sind sie Schauspieler und ziehen in der österreichisch/ungarischen Donaumonarchie und Deutschland von Bühne zu Bühne. Manche von ihnen sind leidenschaftliche Spieler. Es gibt einen Quartalssäufer unter ihnen, eine Souffleuse. Mein Vater hat es satt in möblierten Zimmern zu hausen, in angeschlagenen Familien. Er verlangt nach Normalität, Sesshaftigkeit, einem fest umrissenen rein gezeichneten Leben. In seinen Kindern soll es sich manifestieren. Der Krieg bestärkt dieses Verlangen in ihm. Er ist Gebrauchsgraphiker. In seiner Freizeit malt er Landschaften. Vierzig Jahre rackert er sich für ein normales reingezeichnetes Leben für uns ab. Gefestigtes, Normales sollen wir ergreifen, uns darin verwurzeln. Schaut, sagt er, die weisende Rechte mit seiner Krücke verlängernd, dies ist das gelobte Land! Dann stirbt er. Ehedem hält man sie dazu an die weisenden Rechten mit Gewehren zu verlängern. Extremitäten sind Lebloses. Meine Mutter muss mitansehen, wie ich jenes uns so gelobte Land in erster Generation schon wieder verlasse. Berührung, erhabener Geruch schweisstreibender Intensität, erstarrende Masken, Gesten, Schminke, Puder...

Als Schulz mir zu Ostern 1971 in die Hände fällt oder ich ihm, bin ich dreissig, unsere jüngste Tochter gerade vier Monate alt. Wir sind in Heidelberg bei meinen Eltern. Wie immer, da, suche ich einen Krimi zum Einschlafen. Dieses Buch ist dicker als ein Krimi üblicherweise ist, das Rot seines Umschlags nicht das feurige Kadmium, dem ich immer wieder verfalle, es ist ein verblasstes Karmin mit einem Stich Blau.
Auf der zweiten Seite jenes Augusts, an jenem Abend noch, weiss ich, dass ich durch jene Welt hindurchmuss, wo ich mich befinde zeichnen und tief in Zinkplatten ätzen muss.
"Die Vorübergehenden, im Golde watend, hatten die Augen vor Hitze halb geschlossen, wie mit Honig verklebt, und die hochgezogenen Oberlippen enthüllten Zahnfleisch und Zähne", berichtet Schulz.
Sie halten ihre glasierten Gesichter der gleissenden Hitze hin, halten sich selbst hin. Versengte Haut atmet nicht. Glasierte auch nicht. Japsend, mit immer kleiner werdenden Schrittchen, flachen wir ab. Bäumen uns hin und wieder auf, auferlegen uns Lächeln. Jede Glasur verlangt ihren Zoll.
Ich bin Teil dieser Parade der verklebt Promenierenden und stehe am Rande und nehme die Parade ab.

Welch Tanz tanzen wir. Wo spielt er sich ab? Wie? Nicht warum. Hinter jedem Warum steht ein weiteres und dann stehen wir mit dem Rücken an der unerbittlichen Mauer unserer Glaubenssätze, der uns eingeflössten Glaubenssätze, erheben sie zu drohenden Waffen. Schauen nicht weiter. Gehen nicht weiter. Und dahinter?
Siehst du, sagt mein Vater und lächelt beschwichtigend sein wissendes Lächeln.
Meine Mutter sagt: Das Eine kann ich dir sagen, hätte ich den Glauben an meinen Gott nicht gehabt, ich hätte jene Zeit nicht überstanden.

Ich nehme Schulz beim Wort, Wort für Wort in meine Hände, entheddere ihre Gefüge, stecke sie mir in den Mund, behalte sie lange auf der Zunge. Schlucke. Sie lösen Schreie, Zittern in mir aus, dämmern lange irgendwo dahin, scheiden Gerüche aus, schmecken.
Das Unternehmen wird ein einziger Tanz mit seinen, mit meinen Lebenden in Toten, Toten in Lebenden, Lebenden unter erstickter erstickender, ganz löchriger Haut, in Hitze, in Kälte. An was ich mich klammere, was ich sich an mich klammern lasse, gebe ich Macht mich zu überschatten, mir die Augen zu verschleiern, mich zurückzuschlagen, sich oder mich zum Herrn über das Atmen, zum Mörder aufzuschwingen. Sterbe ich nicht, schmecke ich den Hauch der zurückgelegten Strecken, fühle das Klopfen in den mir zugezogenen Spuren, dessen Hall und Widerhall alles erdrückende Ausmasse annehmen können.

Ich fange an aufzuschreiben, in Worte zu fassen, was sich mir zeigt.

Zurück zu den goldenen Masken der Sonnenbruderschaft der zweiten Seite jenes Augusts, in denen die Passanten einander grinsend grüssen "in dieser bacchantischen Grimasse eines heidnischen Kults, die ihnen mit dicker goldener Farbe aufs Gesicht gemalt war", wie Schulz berichtet.
Ich sehe solch Grinsen auf Vernissagen, auf Partys, am Strand und verhaltener, viel eher, auf den Weihnachtsgesichtern der Erwachsenen und gezügelt vor Zerriss an äusserster Grenze von Schmerzerträglichkeit auf dem Gesicht meines Vaters. Sein Fuss friert im Winter 1941 vor Charkow kaputt. Sein rechtes Bein ist ein Stumpf. Jeden Morgen zieht er sich sein Holzbein an. Oft helfe ich ihm dabei. Heidelberger Sommer sind heiss und feucht. Meiner Mutter gebricht es an der dazu nötigen Kraft. Bei Wetterumschwüngen wird Vater von elektrischen Schocks erfasst: Phantomschmerzen. Der Stumpf mit dem Holzbein daran knallt von unten an die Tischplatte. Sein Gesicht glättet sich. Wir decken den Tisch noch einmal. Er berichtet von jenen, die nicht weiterwollten, sich nicht mehr aus dem kalten Weiss erhoben. Wie an ein Federbett klammerten sie sich an den Schnee, sagt er. Ich höre, dass, wenn im Erfrierungsprozess ein gewisses Stadium erreicht ist, Wärme die Erfrierenden durchflutet, sie mitnimmt. Es kommt vor, dass Vater sich einbeinig auf Krücken durchs Haus schwingt. Einmal setzt er eine Krücke verkehrt auf, kollert die Treppe runter. Stille. Herbeigestürzt, starren wir auf den Zusammengerollten mit den herausragenden Krücken, eingekeilt auf dem Treppenabsatz. Stille. Dann gibt uns dieses Bündel mit den staksigen toten Fühlern den Befehl zu lachen. Er ist ein Titan. Und da, zusammengerollt auf dem glimmenden Linoleum, Schulz' Küchenschabe. Er ist Schulz' Edzio, der sich durchs Haus hangelt, sein Onkel Edward, gerüttelt von Stromstössen. Sein kleiner Bruder ist Schulz' Cousin Emil, der Spieler.

In dem Haus, wo wir dann wohnen, gibt es noch einen Krüppel. Aus dem ersten Weltkrieg. Herr Ludwig aus den Sudeten. Herr Ludwig hat keinen Stumpf mehr wie mein Vater. Jeden Morgen gurtet er sich ein Lederkorsett mit einem Bein daran an. Mit dem Schuh ohne Falte. Die Gurte laufen über die Schultern. Gurtet er es ab, gurtet er auch diese kolossalen ungestalten Frauenhüften ab. Auch er wird regelmässig von elektrischen Schocks erfasst. Herr Ludwig steckt sich eine Trompete ins Ohr, richtet die Trompete auf den Mund des Sprechers. Der Bass seiner Frau lässt das Haus erdröhnen. Zu Weihnachten, Silvester, Ostern, Pfingsten sitzen sie in der guten Stube. Dann erklingt das 'Horst-Wessel-Lied'. Zu Silvester trinken sie Sekt. Darin schwimmen rosa Marzipanschweinchen. Immer schwarz gekleidete Frauen mit schwarzen Kopftüchern kommen zu ihnen: Witwen. Ihre Worte kommen in einem fremdartigen Singsang. Ganze Reihen Kirchenbänke sind voll von ihnen. Die meisten sind dick. Sie können köstliche Kuchen backen.

Ich lege meine Hand in die tiefen Harmonikafalten Tlujas' Gesicht, fühle das Zittern vor Plärren, das diesen faltigen Balg überhuscht, den zornig siedenden Unterleib dieser irren Götze, wenn sie ihre nach Befruchtung lechzende Erde in der Schwüle der schier unerträglich überreifen Sommertage höllisch schreiend gegen den Stamm des wilden Flieders rammt und unbefruchtet, ohne Aussicht auf endliche Wehe, zurücksinkt auf ihr Lager aus Kehricht, umschwirrt von Fliegen. Ich schlüpfe in die safrandurchtränkte Haut ihrer Mutter, die pergamenten die ausgelaugten Fleischfasern dieser Frau umspannt. Manchmal schnellt ihre Hand wie in einem Reflex hoch, sinkt zurück. Wieder und wieder folge ich den Spuren des Vaters ausgemergeltem Gesicht. Dieses Vaters, der, wie Schulz feststellt, im Herzen keiner Frau verwurzelt ist und deshalb in keine Realität hineinwächst und ewig an der Peripherie des Lebens in halbrealen Regionen an den Rändern der Wirklichkeit dahinschwebt. "An den gemauserten Stellen war die grobe Sackleinwand zu sehen, aus der schon die Hanfbüschel zum Vorschein kamen", steht zu des Vaters Aussehen im Kapitel der Küchenschaben. Es könnte auch das Aussehen des Kondors gewesen sein.
Das Gesicht meines Vaters prägt sich mir, als er Ende 1945 in Göttingen bei seiner Halbschwester zu uns stösst - zurückkommt, wie er sagt - tief ein. Diese graue über die hervorstechenden Knochen geworfene Haut sagt: Ich bin dein Vater. Es ist alles vorbei. Alles wird wieder normal sein, wie es war. Sein offener Fuss suppt. Meine erste Normalität sind lodernde Himmel, Sirenen, das Kreischen von Frauen, Trümmer. Wo soll er schlafen? Göttingen, das nicht bombardiert wurde, mutet mich unwirklich an.
Meine Eltern, die Menschen ihrer Generation, wollen nicht wahrhaben, dass sie, ihre Kinder und Kindeskinder an der Hand, eine Grenze durchbrachen, hinter die sie sich nicht mehr zurückziehen können, weder geographisch noch mental. Niemand mehr. Die Wucht ihres massiven Gleichschritts zerriss die Grenze. Sie greifen auf alte Blaupausen zurück, steigern sich in sie hinein. Das Zentrum des Lebens liegt jenseits des schützenden Schattens ferner Halte. Der Kontakt ist direkt, die Verantwortung für unser Tun, die Entscheidung zu handeln oder nicht, eine persönliche, Konsequenzen sind persönlich zu tragen. Noch glauben sie dem entkommen zu können, sprechen von Wiederaufbau, Reparation, Wiedergutmachung, überspielen den Riss. Die zur Verfügung gestellten Mittel lassen diesen Wahn und das sich Manövrieren in diesen Wahn gedeihen. Was tun sie nicht alles das Zentrum in die ihnen ehedem vertraute Position zurückzudrängen, leben, als wäre es so, krümmen die Blicke. Das Material stimmt nicht mehr. Ganze Saiten sind gesprungen. Sie flicken sie, schweissen sie aneinander, ziehen neue ein, schlagen sie an wie ehedem. Alles was sie eingedenk jener Normalität so wiederaufbauen und leben, ist als Kopie zu erkennen. Aus eigener Erfahrung habe ich keine solche Blaupause in mir. Der Klang, den ich höre, ist rissig, glatt. Ich höre ihr Ach und Weh.

Sie schliessen die Augen. Was ist? Dämmern auf Couchen vor sich hin. Widmen sich fieberhaft der Wiederinstandsetzung. Die Zimmer liegen voller Menschen. "Wir schliefen in jenen Tagen unaufhörlich Tag und Nacht und holten die verlorene Zeit nach", berichtet Schulz gegen Ende seines Kometen.
Ich ziehe ihnen die Augenlider hoch. Wo sind ihre Augen? Was tun Augen, wenn sie geschlossen sind? Oft sehe ich nur das Weiss des Augapfels, manchmal die Pupille, die sich durch den plötzlichen Lichteinfall zusammenzieht. Lass das! sagen sie. Die Zeit meiner wortlosen Erinnerung ist tabu. Das begreife ich, als meine Kinder, als sie dann über Worte verfügen, mich immer wieder fragen, was in der Zeit vor ihren Worten war, wie sie waren. Aus Brennholz schnitzt mein Vater Handpuppenköpfe: Die Toten, die Toten, die haben weisse Pfoten, sie haben an ein weisses Hemd, die Unterwäsche ist ihnen fremd! Das lässt uns den Hunger und die Kälte vergessen, eben. Abends im Bett spinnen meine Schwester und ich uns in normale Familien ein. Unsere Männer haben gehobene Positionen, unsere unartigen Kinder werden am 6. Dezember von Knecht Ruprecht in Säcke gesteckt und in die Hölle abtransportiert. Dort reisst man ihnen die Kleider vom Leib, peitscht sie aus, zerhackt sie und schmeisst sie in siedendes Öl, bis ihnen Hören und Sehen vergehen, um sie rechtzeitig, geläutert und perfekt wieder zusammengefügt, zu Weihnachten zu entlassen. Zur Bescherung, dem Riegel Schokolade aus dem Carepaket, den wir ihnen als Weihnachtsmann und Christkind gönnerhaft lächelnd geben und gleichzeitig geläutert lächeln und knicksen zum Glöckchen am Weihnachtsbaum und Stille Nacht, Heilige Nacht und Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen.

Verfallene versengte Häuserfronten, verfallene versengte Gesichter und Leiber, geduckte Leiber, verrenkte Leiber. Nicht nur die Stätte, auf der wir uns befinden, liegt in Trümmern, auch ihr schützender Schatten. Die Schatten der Menschen sind nicht weniger gespenstisch. Man betäubt sich, wie man es immer tut. Wir wachsen im Zeitalter der Krüppel unter vorgehaltener Vollkommenheit auf. Die Haut wird schnell wieder glatt. Dann fängt sie an zu glimmen. Auch die meiner Grossmutter. Als mein Vater sie 1946 zu uns holt, ist sie ein Strich. Dann kommen die Kartoffeln. Oma, sage ich, wenn das Kind kommt... Oma bekommt kein Kind, Opa ist tot, sagen sie. Was hat Opa damit zu tun? Und Maria? Daran darfst du nicht rütteln, glaube! sagen sie. Sieben bin ich. Wenn sie einschnappt, sagt sie tagelang kein Wort, setzt sich nicht mit uns zu Tisch, streift aufgequollen, mit roten Flecken im Gesicht, schwarzem Kleid und weissem Kragen uns Essende. Ihr Umfang ist stark. Unter ihrem immer wiederholten wässrigen 'Ihr lasst mich verhungern!' - diese hängende Lippe werde ich nicht mehr los - stochern wir auf unseren Tellern herum, stecken das Fleisch in den Mund, schlucken runter. Als mein Vater die Mädchen nur zur Mittelschule schicken will, setzt sie sich für uns ein. Sie ist noch, wenn auch dem Gesetz nach nicht mehr, Leibeigene gewesen. Bleibt ihr sitzen, ist Sense! droht er.

In Heidelberg werden Flüchtlinge und Umsiedler in Wohnungen gepfercht, die die Stadt im Schatten des Gaskessels für sie bauen lässt, 1953. Sie stehen noch immer da. In den Baracken am Anfang dieser Strasse, einer Mulde, gibt es, als wir und wie wir viele andere in der Bundesrepublik umgesiedelt werden uns einen zweiten, einen besseren Start zu ermöglichen, kaum einen Mann. Die Männer sitzen. Der Anfang der Strasse heisst im Volksmund 'das Loch'. Flüchtlinge sind Verbrecher. Immer sind Flüchtlinge Verbrecher; wo sie herkommen, wo sie hinkommen. Den Gaskessel haben sie abgerissen, im Loch stehen Steinbaracken. Die Strasse atmet noch immer Misstrauen aus. In unserer winzigen Dreizimmerwohnung, in der wir, gegen Ende unserer Zeit da, mit der frisch aus der DDR geflüchteten Familie der jüngsten Schwester meiner Mutter zu elft wohnen - zwei Väter, zwei Mütter, sechs Kinder im Alter von vier bis neunzehn und unsere Grossmutter und im Sommer noch ganze sechs Wochen Grosstante Lotte, die Souffleuse - wohnen jetzt die Roma (Zigeuner, sagten wir damals). Damals stehen ihre Wagen auf dem Hof, klopfe ich oft bei ihnen an. Im Herbst 1959, ein halbes Jahr vor meinem Abitur, sagt mein Klassenlehrer: Die Flüchtlinge sollen sich kuschen, insbesondere die Berliner, sollen froh sein hier überhaupt geduldet zu sein. Mein Vater stellt den Lehrer zur Rede. Der fragt ihn, ob das so kurz vor dem Abitur nicht riskant sei.

Ich blättere zurück zu meiner ersten Nachkriegsseite, der des Baumes meiner Erkenntnis.
Göttingen wird von Amerikanern befreit. Ich habe nie etwas anders gehört, als dass wir befreit wurden. Erst später. Frauen verbarrikadieren sich kreischend in Kellern. Man kreischt, wenn man befreit wird. Das Dröhnen endloser Reihen schwerer Fahrzeuge. Dann ist es still. Die ersten, die die Häuser verlassen, sind ganz alte Männer und dann wir Kinder unter acht. Eine stille Parade, Jeep an Jeep. Die Männer in den Jeeps lächeln uns zu. Kilometerlang. Geben uns Schokolade, Chewinggum. Streicheln uns die Köpfe. Dann kommen die grossen Brüder und Schwestern und Neffen und nehmen sich ihr Teil. Ich piesacke dich bis zur Vergasung, sagen die grossen Jungen. Ich sehe meinen ersten Schwarzen. Im Weiss jenes Winters gibt es Graugesichtige, die reglos unter Bäumen stehen, den Kopf beinahe auf der Brust, die Füsse erreichen den Boden nicht. Hier gibt es Schwarze in Jeeps. Witwen jammern, manch eine schmeisst sich an den ersten Männerhals. Junge Mädchen bekommen Kinder und haben keinen Mann. Berliner machen sich dicke. Weihnachtsfeiern. Schwarzmarkt. Ehemalige Parteianhänger hängen sich während der Entnazifizierung in ihren Gärten auf. Auf endlosen Regalen in Kellergewölben verschimmelt Eingewecktes von vor dem Krieg. Wir spielen unter der alten Gerichtslinde, hören in ihrem Schatten die Stimme Wotans durch die Blätter rauschen, singen 'Oh, Heideröschen', ein paar Schritte von der Mauer des jüdischen Friedhofs entfernt. Wir klettern rüber. Jener Friedhof ist still, verwildert. Niemand kommt die Gräber zu versorgen. An seinem anderen Ende stösst er mit seiner Mauer an unseren Friedhof. Auf dem liegt meine in Wien geborene Urgrossmutter, eine Schauspielerin, ihr Budapester Cousin, ein Cellist. Was sind Juden, frage ich.

Der Milchmann, Herr Gottmann, war Clown, sagen sie, Musikclown. Seine Frau trug in spärlicher Bekleidung die Nummern der Auftritte durch die Piste. Das erste Beinahe-Revue-Girl, das ich sehe, ist alt, sein runzliges Gesicht fällt in einer Hautschluppe aus seinem Rahmen. Es trägt ein Dekolleté. Anna. Die erste Piste, die ich betrete, ist ihr Milchladen. Ich stecke mein Gesicht in dampfendes Brot, es macht mich irr. Endlose Litaneien unter zum Husten und Brechen reizenden Weihrauchschwaden dröhnen durchs Kirchenschiff: ora pro nobis. Dieser oder jener wird trotz allem doch noch gegen Ende ins Gas geschickt. 'Trotzallemdochnoch', wo liegt das?

Unter dem von meinem Vater angestrebten rein gezeichneten Leben schwelt es. Ad absurdum verschwören wir uns diesem rein gezeichneten Leben. Beichten, erhalten die Absolution. Es gibt Fortschritte in der Herstellung von Prothesen. Sie sind beinahe nicht mehr von echten Gliedern zu unterscheiden. Sogar den Phantomschmerz schliessen sie, später dann, kurz. Die Bezüge der Federbetten werden gestärkt und geplättet und für die Parade des Tages mit einem Besenstiel glattgestrichen. Es gibt Kissen, die Paradekissen heissen. Sie werden nie benutzt. Die langen Sonntagnachmittage, an denen wir die heile Familie mit 'Mensch ärgere dich nicht', 'Fang den Hut', 'Doppelkopf', 'Rommee', 'Canasta' in Szene setzen. Es gibt kein Entweichen aus dieser Normalität in Sonntagskleidern, die wir im Sitzen nicht zerknittern dürfen, zwischen Kaffee und Kuchen und Abendessen. Nur das Klo. Das Ziehen der Karten ist während Stunden die einzige Bewegung. Wir stürzen uns auf sie. Manchmal färbt sich das Gesicht eines Verlierers rot. Jede Andeutung von Dekolleté wird mit Tüchern bedeckt. Der Anflug eines Lidschattens bringt uns ein zischendes 'Solch Eine' ein. Die Leute sollen wohl denken, unsere Tochter sei 'Solch Eine'! Wir veressen, verschlafen, verspielen den lieben langen Sonntag gemeinsam. An den hohen Feiertagen verlassen wir den Tisch fast nie.
Diese Normalität, die nur Ruhe will, nirgends anecken, nicht angeeckt werden will, ist zäh, unerbittlich, verstümmelt das Herz, ist Grenze. Und jedes Mal, wenn ich sage: Es schmerzt mich, sagt mein Vater: Was weisst denn du von Schmerz! Wir haben keinen Schmerz zu haben, haben keinen Schmerz.

Wer die Hand gegen Vater und Mutter erhebt, dem wächst sie aus dem Grabe. Tag für Tag streife ich, kaum bei Bewusstsein, über die Friedhöfe, erst den unseren und dann, auch wenn es verboten ist - Lass sie ruhen! -, über den jüdischen. Nirgends sticht auch nur eine Hand aus einem Grab.

 

Da sitze ich mit unseren Töchtern auf der Treppe, wir schauen, was in meinen Zeichnungen, meinen Radierungen geschieht. Sie sollen wissen, woran ich in dem Raum, durch den sie rausgehen und reinkommen, in dem wir essen, arbeite. Die ältere ist nahezu zwölf, als ich gegen Weihnachten 1977 dann meinen Zug durch Schulz' Welt antrete, die jüngere sieben. Ich frage sie: Was fühlt dieser Mann? Wie fühlt er sich? Sie bringen ihre Leiber, ihre Gesichter in die Position der von mir Gezeichneten, tasten den Leib ab, sagen mit schiefem, mit sabberndem Mund, mit geschürzten Lippen, wo es sie presst. Laufen auf meine Bitte hin so. Wir lachen Tränen. Sind still. Reiben uns unsere Gesichter wieder heraus. Aus beiden kommt purer Schulz, in ihren Worten. Sie haben ihn nicht gelesen.

 

1983, in Warschau, zum Abschluss meiner Zeit mit Schulz, zu Anfang einer Tournee von achtzig meiner 300 Schulz/Vess-Blätter durch Polen, kommt der Anstoss zu meinem Theater. Wir wollen sowohl von meinen Bildern als auch meinen Texten ausgehen. Sowohl Figuren als auch Schauspieler sollen eingesetzt werden. Es soll in Warschau geschehen.
Ich entscheide mich für meine Prosa 'Karneval - Das weisse Gesicht'. Zeichne alles durch. Mit Maschendraht, Gaze und weissem Acryl fange ich an die Bewegungen in Gesichtern und Leibern in ihrer räumlichen Begrenztheit zu erfassen. Diese Körper haben keine Knochen, haben Unterhautrahmen aus Maschendraht. Damit sie stehen können, stütze ich ihre Knie- und Fussgelenke, ihre Kreuze extra ab. Damit die Schultern die Arme tragen können, ziehe ich Schulterblätter ein. Dann spanne ich die Haut aus Gaze darüber, verklebe die Nähte mit weissem Acryl. Die Beschaffenheit des Materials stempelt sie zu Riesen mit weisstransparenter fleckiger Haut. Ihre Schatten sind, abhängig vom Lichtfall und der Stärke des Lichts, von veränderlicher Körperlichkeit. Rotes Licht färbt auch die Schatten rot. Die ersten zwei, erst die Frau, dann der Mann, stehen selbständig und je auf zwei eigenen Beinen. Doch versackt der Unterhautrahmen noch wie die Knochen alternder Menschen. Ich reisse die Haut wieder auf, versteife Gelenke und Kreuze radikal. Der - die dritte tanzt und schwingt mit den Hüften, ein Standbein, ein angewinkeltes. Sie kann nicht stehen. Will ich diese sich Bewegende nicht nur rumliegen lassen, muss ich sie entweder auf eine Hellebarde spiessen und auf einen Untersatz montieren oder aufhängen. Ich hänge sie an die Treppe. Diese drei Menschen nach Menschen und der Verlauf meines Karnevals für die Bühne liegen im April 1984, als ich wieder in Warschau bin, vor.
Um in Bewegung hineinzuwachsen zeichne ich Ballett. Das tue ich seit 1973, seit ich mit unserer älteren Tochter einmal pro Woche Ballettstunden nehme. 1985 fange ich an das Nationale Ballett beim täglichen Training zu zeichnen. Einmal pro Woche darf ich kommen. Ich zeichne fast ohne aufs Blatt zu schauen. Je schneller ihre Bewegungen, desto geballter, nahezu statisch, die Leiber. Im Adagio fliessen die Leiber aus sich heraus. Ich sehe, dass, wenn Ballung und Adagio nicht bis in die letzten Fasern gelebt werden, die Bewegungen hohl und hölzern sind, Flug und Herausfliessen nur Gesten. Eine Marionettenhaftigkeit, die die Leiber zerreisst. Die Rissstellen sind sichtbar.

Dieses Theater geschieht in Amsterdam.
Da entstehen noch zehn Menschen nach Menschen. Wer von ihnen nicht auf eigenen Beinen stehen kann, hängt von der Decke wie damals die Graugesichtigen an Ästen. Ich muss das Stück übersehen können. Mein Karneval wird zum Monolog eines Spielers inmitten meiner Menschen nach Menschen. Die Verdichtung des Prosatextes legt Geschehen ohne zeitliche Bindung aufeinander. Lage schimmert durch Lage wie beim Malen. Noch weiss ich nicht, wie jemand diesen Karneval bringen könnte. Noch mit keiner Faser denke ich daran es selbst zu tun - oder doch? Das Urteil meines Vaters, die Körperlichkeit stellt äusserste Anforderungen und in Holland spricht man Holländisch, und immer, wenn ich perfekt Holländisch sprechen muss, belegt Angstschweiss die Worte in meiner Kehle mit schwerem deutschem Klang. Es gibt noch keine Übersetzung.

Ich tue es selbst, in meiner Muttersprache, bin Material und Einsatz. Noch einmal drei Monate sind uns in dieser Phase gewährt. Ich kenne noch nicht einmal das ABC, erfahre, wie viele Muskeln, wie viele Wissensgebiete und Anlagen der Mensch ungenutzt lässt. Wie diese nicht durchströmten Gebiete seinem Gang eine sichere Steifheit verleihen, ihn erschweren, zur Abschottung eingesetzt werden. Und hinter jeder überwundenen Barriere liegt eine weitere. Mit brennenden Schmerzen kehrt das Leben in abgestorbene Gliedmassen wieder. Es gibt Durststrecken. Uns wird eine zweite Phase gewährt. Schwer ist der Gebrauch der Stimme. Malen, Schreiben geschehen nahezu autistisch. Der Klang der Stimme zerreisst einen, kommt jedoch nicht über die Lippen. Immer wieder rutsche ich in glättende Monotonie ab, muss mich da herausreissen. Ich erfahre, dass Schminken, abgesehen vom Anlegen der Farbe, Waschung ist.
Im Anfang wusch ich mich, bis auf die aufgetragene weisse Lage auf meinem Gesicht, rot, jetzt wasche ich mich weiss, ganz weiss. Jede Spur muss sich schliesslich immer wieder unter den Blicken des Publikums aufs Neue einzeichnen.

Ich trage mir meine Haut auf. Schlucke meine eigenen Worte. Zeichne täglich auf, was sich da abspielt. Sterbe ich an dieser Rückkoppelung, das heisst: dieser Wiederverkopplung, dieser Handlung gemäss meiner Worte, ist es Selbsttötung. Jeder gesetzte Schritt ist ein endgültiger: er bringt uns her oder um. Meine Stillen, mein Lachen, meine Hilflosigkeit, Ausweglosigkeit, Ohnmacht - der Zuschauer ist Zeuge, ohne Trennwand.
Ich gehe raus zu meinen Menschen nach Menschen.

Kunst ist Wissen Schaffen, Aufschluss erhalten. Der Vorgang spielt sich nicht in verbal rational erfassbaren, ideellen Räumen ab, auch nicht, wenn Sprache das gebrauchte Mittel ist.
Kein Gesicht, keine Gebärde, keine Form, kein Schrifttum, kann schliesslich über die wahren Verhältnisse hinwegtä:uschen.
Die Tiefen, in denen die systematische Vernichtung des anderen aufkeimt und die Liebe, gehören zu einem jeden von uns. Jeden Tag aufs Neue gestalten wir unser Leben, leben unabdingbar mit und aus ihnen heraus. Bei jeder Berührung wallen sie auf. Alles was wir erleben, mitmachen und erfahren, formt uns mit; und unser Handeln, unsere Worte. Alle Folgen werden sofort mit einbezogen, schwingen mit, tönen den weiteren Verlauf.
Alles, was es gibt, macht uns zu Zeugen, Mitwissern, Komplizen. Kein System, kein Glaube, keine Vergangenheit, keine Zukunft nimmt uns die eigene Entscheidung ab, rechtfertigt unser Tun und Lassen dem andern und uns selbst gegenüber. Mit allem, was wir tun oder lassen, zulassen, befürworten oder abweisen, mit jeder Gebärde, jedem Wort, schaffen wir mit an Voraussetzungen für kommende Formen, unter und in denen das Leben sich weiter entwickelt.
Mit jedem Schritt betreten wir ein anderes, ein neues Kräfteverhältnis. Eines jeden Kampf spielt sich an seinen Grenzen ab.

Sehen lässt sich nicht zugestehen, liegt vor jeder Moral, vor jeder Religion, vor jeder Mythologie.

Keine Erfahrung, kein Wissen, das sie birgt, lässt sich auf ein Parallelgleis abstellen, sicher verwahren, auf Dauer verdrängen. Was ich erhebe, schwinge ich auf zu rechtfertigender Waffe. Missachtung und Negation ist Missachtung und Negation in mir selbst.

Wissen muss dauernd von Neuem erworben, der Prozess dauernd aufs Neue angegangen werden. Wissen Schaffen und Leben sind keine voneinander zu trennenden Einheiten.

Sehen und Wissen an sich ist nichts. Was zählt, ist, was wir damit tun, wie wir uns persönlich dazu verhalten, wozu wir es und uns einsetzen oder hingeben.
Dieses Wissen einzusetzen um Entscheidungen bewusst zu fällen bedeutet, dass Regierungen und Instanzen, dass wir persönlich - die persönliche Verantwortung lässt sich nicht überantworten - Kunst als aktives Gegenüber, als aktiven Verbündeten sehen; von Herzen.

 

Ein Epilog

"Wir schliefen in jenen Tagen unaufhörlich Tag und Nacht und holten die verlorene Zeit nach", sagt Schulz in seinem 'Koment'.
Zeit, Leben, lässt sich nicht nachholen. Immer brechen wir mit dem, was jetzt da ist, so wie wir bis soweit geformt sind, auf.

"... In der dunklen Wohnung wachte lediglich der Vater, Archivar in der grossen Registratur des Himmels, der leise in den Zimmern voll harmonischen Geschnarchs auf und abging. Von Zeit zu Zeit öffnete er das Kamintürchen und schaute lächelnd in die dunkle Tiefe, wo in lichten Träumen ein ewig lächelnder Homunkulus schlief, eingesperrt in eine gläserne Ampulle, von einer Fülle strahlenden Lichtes wie ein Neon umflossen, schon abgetan, abgezeichnet und zu den Akten gelegt."
Hinter schützender Scheibe, lächelnd, Zuschauer und doch nicht dabei, gerettet, das Däumchen im Mund, im wohligen Rausch gegorener Birnen - von sicherem Alter an, lassen wir sie lieber erst gären - rein im Blut, das gegen die Scheibe spritzt. Eitler Wahn! In der Hitze jenes Sommers schmilzt das Glas, birst. Homunkulus wird im Feuer, das aus unserem Himmel fällt, unter Trümmern der Freiheit preisgegeben; der Freiheit in uns.
Er und das Wissen, das er uns schafft, ist bar jeden Schutzes; sein Tanz offen und nah. Wir speisen ihn ab und uns, tragen die Haut und uns zu Markte, geben ihm und uns Almosen. Almosen stempeln den Bettler, mit Bettlern spricht man nicht.

Die Karte dieses Wissens ist in jedem von uns, dauernd zeichnet sie sich uns, gemäss unserer Merkmale, weiter ein. Sie besteht nur in ihrer Gesamtheit. Wir können ihr nicht entkommen. Auch wenn wir die Karte nur teilweise anerkennen, uns nur beschränkt zu ihr bekennen, sie beschränkt aufdecken und vermeinen nur so einzusetzen. Wissend verhaften wir uns, geben der verschwiegenen, der überspielten Kunde Macht über uns, ganz zu schweigen von dem, was wir nie wissen können.

Zaltbommel, Ostern 1991

 

letzte Korrektur 2023

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