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Wiegenlied der Strasse anno 2005
Gesang aus einem Interview mit einem Ex-Strassenkind
und Berichten über die Schliessung des Kinderhauses von Generación in Magdalena del Mar, Lima, durch die Gemeindeverwaltung
© Sabine Vess
es war die Freiheit
lag bei dir
wolltest du bleiben konntest du bleiben
wolltest du gehen konntest du gehen
auf Treibe solange schon
frei na ja
wir lebten ein unstetes Leben
hatten nie eine feste Stätte
alles verrann
und immer dem Heute und Hier verhaftet
erhofften wir nichts und nie vom Morgen
es herrschte nur jetzt
jetzt
jetzt
und immer Gefahr
Gefahr von den Grossen
den Grossen
ja
ich war damals klein
und viele Grosse
erwachsene Leute
trieben es gern mit uns Kleinen
und wir suchten Schutz
suchten beieinander Schutz
Kinder so im gleichen Alter passten wir aufeinander auf
beschützten einander vor den Grossen
auch den Bullen
immer droschen die auf uns ein
schleppten uns aufs Revier
liessen uns Klos schrubben
vierundzwanzig Stunden
manchmal länger
hielten uns zwei Wochen
drei Wochen
fest
und keiner trat für uns ein
und ich sah diese Frau um mich kämpfen
viele Male
entschieden
bis in den frühen Morgen
sie hatten mich festgenommen
so nachts gegen eins
und keiner kam mich zu verteidigen
und käme keiner mich zu verteidigen
morgen
ging's ab in den Knast
ab in den Knast
ab in den Knast
und es kam dieses Morgen
und wir riefen sie an
und sie kam
und sie sprach mit den Bullen
sagte ihnen alles über meine Rechte
stritt mit den Bullen bis nachts so um zwei
stritt mit den Bullen
stritt mit den Bullen
zu guter Letzt konnte ich gehen
und nicht nur ich
die ganze Bande
wir konnten gehen
und es drang zu mir durch
dass einer uns hilft
einer der sagt
ich bin für dich da
ich bin nicht deine Mutter
ich bin niemand
aber ich bin für dich da
nie hatte sich einer um mich gekümmert
hatten mich meine Eltern gesucht
wenn ich
verloren
durch die Strassen zog
und dieses Etwas das wir nie gekannt hatten
und ich glaube das ist der Punkt
wenn du da raus willst
dass einer sich um dich kümmert
wenn einer sich um dich kümmert
fühlst du dich geliebt
dir geholfen
beigestanden
von einem der dir sagt
weisst du
ich bin für dich da
ich verteidige dich
du bist nicht allein auf der Strasse
und dieses Etwas das wir nie gekannt hatten
hat uns
ein paar von uns
nach und nach verändert
die Hausleute
kamen von der Strasse
wie wir
und mauserten sich
etwa wenn sie aus Unkenntnis Fehler machten
viele Fehler
sie lernten von diesen Fehlern
die Strasse lehrte sie
die Strasse schmiedete sie
wie uns
ihren Charakter
ihre Art das Leben zu meistern
und sie machten sich dran im Haus eine Ordnung zu schaffen
eine Grammatik des Miteinanders
nicht mit solchen von draussen
sondern mit uns
uns
wie gesagt unserer eigenen Lebenserfahrung
ich habe in meiner Kindheit
viel abbekommen
das Leben setzte mir schonungslos zu
Bullen pissten sogar auf einen
versetzten einem Prügel
schlugen einen zusammen
es gab keine Regeln
keiner sagte: Schluss! Aus!
Schluss!
Aus!
Schluss!
Aus!
und all die Anstalten
wo ich kaum da
schon verdroschen wurde
immer umgab mich Feindseligkeit
so viel Feindseligkeit
nie erfuhr ich Ruhe in mir
nie das Mitleid anderer Menschen
meine Eltern stritten sich
schlugen sich die Schädel ein
ich erfuhr nichts als Gewalt
und noch mehr Gewalt
nie Ruhe in mir
nie das Mitleid anderer Menschen
ich landete auf der Strasse
Prügel hier
Prügel da
landete in Anstalten
Misshandlungen hier
Misshandlungen da
Ratten haben keine Seele
nie erfuhr ich Ruhe in mir
nie das Mitleid anderer Menschen
wir von der Strasse studierten gern
das war uns von Anfang an versagt
ohne Schuhe
ohne Uniform
ich heulte vor Ohnmacht
konnte nicht denken
mit keinem Satz
keinem Wort
ja du kannst das
kannst da raus
gib dich nicht auf
mach
weiter
dein Hirn schafft das
glaub diesem Mythos
dass dir die Droge das Hirn zerfrisst
nicht
ja die Droge zerfrisst dir das Hirn
schaffst du es so nicht
schaffst du es so
gewohnt dass nur heute zählt
es gibt nur heute
und heute muss alles geschehen
schaffen wir knapp die kalte Nacht
wir müssen Geduld üben
uns in Geduld üben
Geduld mit uns selbst
Geduld mit denen die uns helfen wollen
als ich klein war gaben mir alle was
ich schlief an Strassenecken
Ärmster
suchte Anschluss
bei Kinderhorden
die fielen über mich her
was konnten die mir schon klauen
sie stöberten mich wieder und wieder auf
setzten mir zu
nach und nach akzeptierten sie mich
beim ersten Mal Kleister
kotzte ich
griff wieder zum Plastikbeutel
denn ohne den Stoff war ich anders
sie lachten und lachten
und ich war nirgends
immer erinnerst du eine bestimmte Person
die du beklaut hast
gib mir die Kette wieder
sie ist wertlos für dich
beruhigen Sie sich bitte
oft heulten die Personen die ich beklaute
das ging mir an die Nieren
besonders bei Frauen
als Kind ist es manchmal nicht leicht
wenn einer um seine Sachen flennt
Ratte
verpiss dich
ich kauf mir 'ne andere
behalte sie nur
'nem Mädchen kratzte ich
beim Ketteklauen
die Haut auf
beim Abzerren der Kette kratzte ich ihr die Haut auf
ich zerrte und zerrte
sah Blut
ich konnte die Kette nicht verkaufen
ein Kerl griff sich ans Herz
blieb niedergestreckt
zitternd
liegen
oh Gott!
Kleister schafft Ablenkung
von Misshandlungen
der Kälte
der Strasse
dem Hunger
und dauernd sah ich meine Mutter vor mir
rief sie auf
erfand ihr Gesicht
ihr schönes Gesicht
sie hatten mir gesagt
sie sei tot
und ich schaute in den Himmel
schaute immer in den Himmel
und sah sie
und Kleister und Kokapaste
zusammen
mit Kokapaste fing ich an
mit elf
beim Fluss
nach und nach gewöhnte ich mich an das Zeug
beim Fluss gab's Verschläge
zum Schlafen
auf der Strasse schliefen wir bloss auf Bänken
auf der Strasse der Einheit
dem Sankt Martinsplatz
zu Scharen
viele Horden kamen zum Schlafen dahin
und alle berauschten wir uns am Kleister
die ganze Nacht
bis wir schlafen blieben
beim Fluss drinnen rauchten wir Paste
die ganze Nacht
Paste liess mich kalt
ich nahm sie
ich wollte dazugehören
mein Stoff war der Kleister
mit Kleister begegnete mir meine Mutter
meine Familie
mit Paste niemand
ich begriff nur zu gut dass die anderen verstummten
manchmal wollte ich sprechen
und konnte nicht
mit Kleister halluzinierte ich wie verrückt
meine Mutter
das Meer
ich spielte mit meinem Kindchen
Nutten
Nutten
Saukerle
Diebe
Süchtige
Homos
Scheiss-
ratten
wir pumpten uns voll
auf düsterem Brachland
in zerstörten Gebäuden
getreue Spiegelbilder
unserer ganzen Welt
umschlossen von vier Wänden
im Kleisterrausch erscheint dir was du nur willst
besorgt dir Alpträume
mit Leib und Seele konzentriete ich mich
auf das Erscheinen
dieser Bilder
manchmal erschrak ich
rannte wie irr übers
ganze Gelände
anderen ging's auch so
manchmal halluzinierten wir zusammen
manche von uns halluzinierten
wie sie misshandelt wurden
ich wie mein Vater mich drosch
dass die Fetzen flogen
wir flohen ums Leben
vor dem Vater
vor irgendeinem der
auf
uns
ein-
drosch
viele halluzinierten immer wieder
wie sie vergewaltigt wurden
so viel Misshandlung haben sie mitgemacht
als Kind schwindet das Schuldgefühl
schnell
doch kommt es gelegentlich auf
schwindet das Schuldgefühl nicht hilft dir die Droge
zu vergessen
zu fliehen
Paste radiert dich aus
ganz anders der Kleister
der lässt dich
Gefühle
Fantasien
ausleben
austoben
dann ja dann
inhalierte und inhalierte ich Unmengen
tagelang
viele meiner Kumpel schafften sich hinüber
ich kriegte Schüttelfrost
Pusteln
das dauerte Tage
als ich danach wieder wollte
ekelte es mich
ich probierte zu kotzen
und tat es
und griff wieder zum Plastikbeutel
ich Blödmann
mein Kleister war nicht mehr mein Kleister
es gab kein Ziel weswegen ich aufhörte
es war der Exzess
fünfzehn war ich
so müde von all der Zeit auf der Strasse
überdrüssig des Schlafens auf der Strasse
und des abstossenden Leibes
der Zünder war dass ich hörte ich könnte da raus kommen
weg vom Kleister
der Strasse
Unheilbare
Verbrecher
Süchtige
Diebe
Aggressive
Unverantwortliche
fähig unsere Töchter zu schänden
und ich setzte alles dran da rauszukommen
und von einem Moment auf den anderen
drang zu mir durch: du greifst nicht mehr zum Beutel
der Kleister lässt dich kalt
und es entwickelte sich eine Kraft in mir
genauso war's mit der Paste
nach und nach verschwand sie aus meinem Leben
weg mit euch Ratten
der Stadtteil will Ruhe
ins Gefägnis mit euch
da gehört ihr hin
zur Hölle mit euch
ein Freund starb hustend
er rauchte
er hiess 'Rocotito'
'Altes Gesicht' starb auch
wir rauchten zusammen
er starb
wie es sich gehörte
die Pastenzigarette zwischen den Lippen
es ist die Freiheit
liegt bei dir
willst du bleiben kannst du bleiben
willst du gehen kannst du gehen
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