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bruno schulz - sabine vess: bilder einer begegnung

 

Bruno Schulz - Sabine Vess: eine Konfrontation

Mai 1981
© Sabine Vess

 

Nur der Tod sagt: "Das war es für diesen." Wie es für ihn war, wissen wir nicht.
Wir haben nur, was er uns hinterlassen hat, was davon noch übrig ist, Berichte
und uns selbst, unsere eigenen Gefühle und Erfahrungen.

Der polnisch-jüdische Dichter und Zeichner Bruno Schulz wurde am 12. Juli 1892 in Drohobycz geboren und am 19. November 1942 da auf offener Strasse erschossen. Am Tag seiner Erschiessung war ich gut zwei Jahre alt. Ich bin am 31. Juli 194O in Berlin geboren.

Als ich Schulz vor ungefähr zehn Jahren zum ersten Mal las, wusste ich auf der zweiten Seite schon, dass ich das zeichnen musste. Was ich las, blieb nicht eben in meinem Kopf hängen um irgendwann sang- und klanglos verdampft zu sein. Ich spürte die Bewegungen der Menschen Leiber, sah, wie sie mit goldenen Sonnenmasken durch die Gluthitze wateten. Ich war verloren.
Sieben Jahre dauerte die Inkubation, dann fing es an aus mir herauszubrechen.
Zwischen Weihnachten und Silvester 1977 setzte ich mich an meinen Tisch. Als ich im März 1978 wieder aufstand, lagen mehr als 250 Zeichnungen vor mir. Blosse Menschen, Arme, Beine, Gesichter: ein allererstes Abtasten, Umreissen. Ich wusste, dass ich, wollte ich wirklich begreifen, was vorliegt, alles austiefen musste. Und dass ich dazu der Radierung bedurfte: der geätzten Platte und ihres Abdrucks. Ich fing wieder an.

Das erste Buch 'die Zimtläden' habe ich hinter mir. 14O Platten und deren Abdrücke liegen vor. Ich will damit nicht sagen, dass ich die Form schlechthin gefunden habe. Es ist meine Form und die der Spanne ihres Entstehens. Im jeweils nächsten Augenblick hat sich die Erfahrungswelt, aus der ich schöpfe, schon verändert, entsteht ein anderes Zeichen.

"Schulz war klein und hässlich", sagte sie, "sein Rücken war, ja... auf alle Fälle verwachsen. Er hatte Angst vor der alles verschlingenden Weiblichkeit. Er ging nie weiter als bis zum Schuh. Er war ein Selbstmordkandidat." Ich traf sie in Warschau. Sie kannte Schulz noch persönlich. Damals in Lemberg. Zwölf war sie. "Er war ein Sonderling", sagte sie, "ein merkwürdiger Onkel."

Schulz kehrte zurück nach Drohobycz, wollte seine Kindheit zurückfinden. Er schrieb: "Mein Ideal ist zur Kindheit heranzureifen. Das wäre die wahre Reife."
Ich schreibe über meine Vorfahren, die Schauspieler: "Sie waren auf der Suche nach dem Ursprung der Bewegungen. Das denke ich. Immer wieder zogen sie los. Auch ich bin wieder losgezogen (...) Unser Ursprung wurde verwüstet, vor langer Zeit, nur zwei konnten sich retten, zwei, die nicht mehr fragen konnten: 'Wie? Sag uns, wie!' Wir ziehen von Stadt zu Stadt, üben nach Vorbildern. Wir können die Bewegungen nicht fühlen. Gern wüssten wir, wie sie entstehen." (*)

Ich fing an Schulz' und meine Bewegungen zurückzuverfolgen. Ich kann jetzt Bewegungen fühlen, kann fühlen, wie sie abbröckeln, sterben. Ob ich ihren Ursprung fühlen kann? Ich komme in schmerzhafte Gebiete.

Bruno Schulz nimmt uns mit zurück in seine Kindheit, in jenes Gebiet zwischen Wahrheit und Dichtung, in dem irgendwo seine Grenzen liegen.
In meinem Grenzgebiet trage ich keine Hülle mehr, gebe mich bloss, bin sehr verwundbar, ziehe den Spott, die Wut der Leute auf mich. Ich bin nicht immer da, muss mich jedes Mal wieder dahin begeben. Ziehe mich zurück. Und mit jedem Schritt dieses mich Zurückziehens streife ich eine Hülle, einen winzigen Teil davon ab, bis ich nackt dastehe, nicht mehr verbergen kann, wie meine Gefühle mich verändern. Meine Unzulänglichkeiten: da stehen sie.

Ich glaube nicht, dass Schulz seine Zelltür aufträumen wollte - so wie wir Träumen verstehen. Er hatte Wünsche, wollte ausbrechen. In jeder Situation trieben ihn seine Gefühle, seine Ängste bis in sein Grenzgebiet. Und immer wieder musste er durch seine barocken Sprachlandschaften hindurch. Stand am Rande, seinem Rande, konnte nicht springen, fuhr zurück. Der Schuh! Konnte nicht, vielleicht erschöpft von der langen Wanderung durch seine kunstvoll zwischen sich und dem Schuh an der Geliebten Fuss ausgehauchten, sich verspinnenden, aufbauschenden, erdrückenden, einschläfernden, schon nach ihm greifenden Landschaften? Konnte nicht - nicht mehr - kämpfen?
Und über dem Schuh, die Stätte.
Ich frage mich in einem meiner Texte: Was geschieht, wenn ich einfach weitertanze? Durch die Wand hindurch? Vielleicht ist die Wand gar nicht so dick, kann ich wie der Löwe im Zirkus durch das Papier springen, ganz mühelos. Vielleicht ist die Wand gar nicht da, eben nur in meiner Vorstellung, kann ich doch fliegen! Warum zieht sie dann im Höhepunkt meines Flugs vor mir auf? Steht da? Eine schwarze Wand, eine unsichtbare Mauer, eine Platte auf meinem Leib! Da liege ich, erwachend aus Ohnmacht.
War ich überhaupt weg? Vor mir liegen Bilder, Gesichter, Leiber, Textfetzen, starren mich an. Da muss etwas gewesen sein. Falten und Narben habe ich.

Der Vater steigt, vertrieben aus seinem Vogelparadies, die Treppe hinab. Er hängt nur noch an einem dünnen Faden. Unter seinen Füssen bröckeln die Stufen ab. So steht es auf meiner Platte. Meine Kinder sagen, dass der, an dessen Faden die Figur hängt, die Gesichtszüge meines Vaters trägt.
Wenn da gar keine Treppe mehr ist, kein fester Grund? Wie lange wird der Faden - der Vertreibung - noch halten? Bin ich dann richtungslos? Schwebe? Falle? Und dann?

Ich lasse Schulz' Worte ohne Vorurteile in mich ein. Manches erreicht mich nicht, nicht sehr tief, und es gibt Stellen, wo die Handlung an sich so überwiegt, dass für mich keine Bilder entstehen, nur ein Gefühl für die Lage der Menschen in dem Geschehen.
Der Josephstraum, Homunkulus: nichts erklingt in mir. Bilder aus einer fremden Welt. Mit Mühe umreisse ich sie, fange sie ein. Mehr bringe ich da nicht zustande. Weiss nichts damit anzufangen. Träume ohne Wurzel in mir, Luftschlösser, zu denen ich keine Verbindung, keinen Zugang habe, die nicht aus mir, aus meiner Hitze heraus aufkommen. Ich muss es dabei belassen.

Ich glaube, dass der Mensch seine Grenzen verlegen kann, für den anderen, für sich. Schon beim allerersten Blick spüre ich die Grenzen zwischen dem anderen und mir, spüre, wo unsere Panzer aufeinander prallen. Und doch: ich muss den anderen ohne Vorurteile in mir zulassen. Erst an der Grenze stellt sich heraus, ob wir sie füreinander öffnen, durchbrechen, verlegen können. Wir müssen sie durchbrechen. Ein jeder muss seine eigenen Grenzen durchbrechen - nicht überschreiten. Beim Überschreiten lasse ich den Durchbruch aus, befinde mich nur scheinbar, gewissermassen unrechtmässig, im Jenseits mit meinen Panzern, Vorurteilen, Waffen, sehe den anderen nicht, mich nicht. Nur Panzer und Luft.
Schulz blieb nie in seinen Träumen hängen.

"Leben, lieben muss ich mit meinen und der anderen Grenzen. Ich muss mich für den anderen öffnen, ihn ohne Vorurteile in mich einlassen. Immer mehr lege ich bloss. Welchen Ballast schmeisse ich weg? Und der andere? Bleibt er angezogen, während ich mich ausziehe? Erkennen wir uns noch? Können wir noch etwas miteinander anfangen? Werden wir einander fremd? Verstossen uns?
Nackte Konfrontation, nichts kann ich verbergen, nie bin ich so verwundbar. Tötet er mich? Oder ich ihn? Durchbrechen wir unsere Grenzen für einander? Oder schaffen wir es nicht? Haben Angst, dass die Schlammflut uns überspült? Angst vor dem Neuen, das wir dann formen müssen? Lasse ich mein geschmeidig gewordenes Ich im letzten Augenblick erstarren und biete dem anderen und mir doch nur meine Hülle an? Komme unbeschädigt wieder heraus, ohne Schuld, aber auch ohne Anteil am Neuen?
Wir steigen hinab in unsere roten Höllen bis an die Grenze zwischen Wahnsinn und Tod. Erst da begreifen wir wirklich, verstehen.

Zeichnen, Schreiben kann bei diesem Prozess helfen. Ich betaste, begreife, kann ergreifen und wegschmeissen. Blosslegen. Ich betaste aufs Neue, begreife, ergreife, schmeisse weg, oder... decke wieder zu.
Das ist sehr ermüdend. Verschnaufen muss ich zwischendurch. Ab und zu will ich nur ein wenig Wärme, einfach so.
Wenn ich zeichne, lasse ich den Menschen oft nicht einmal ihre Haare. In ihrer Nacktheit taste ich sie ab.

Meine Arbeiten sagen über mich aus, über meine Konfrontation mit dem anderen, über meine Konfrontation mit mir. Sie zeigen, wie tief ich den anderen in mir zulasse, wie tief der andere mich, sich, zulässt, wie tief ich mich in mir zulasse. Verwirrt nehme ich wahr: verklebte Augen, überwucherte Menschen, Panzer, Buckel, verkümmerte Hände, Riesenkräfte, das brennende Verlangen, zuzustossen, abgebissene Zungen, verstümmelte Penisse, Vernichtung, Tod." (*)

Ich entblösse Schulz und mich. Er kann mir nichts erwidern, ich weiss. Ich töte ihn nicht. Nicht noch einmal. Ich durchstreife sein Land. Finde Bruchstücke, Zeichen, Stätten, Umfelder seines Lebens. Überwuchert, verwittert, verwüstet, unzugänglich, unerreichbar, wie sie oftmals sind, dringen sie durch meine Augen, meine Ohren, meine Finger - auch die Unerreichbarkeit. Ich rieche sie. Tief graben sie sich mir ein, klingen, klagen. Tief graben meine Finger sie in das Zink, zerfurchen die glatte Platte. Ich ätze und brenne Löcher in die Platte, kratze Eingeätztes weg, lege angeschlagene Menschen, Menschenfetzen, abbröckelnde Kulissen frei. Wessen?
"Als ich A gestern meine Hand reichen wollte - Sie werden es nicht glauben -, unterwegs fühlte ich, dass etwas mit meiner Hand nicht stimmte. Sie war weiss, die Finger hingen plump nach unten nur noch an einem schmalen Streifen. Am Puls riss sie sich los. Und der Handteller war nicht da, nur der Rücken. Papier! Schlampige Arbeit! durchfuhr es mich, wenn A jetzt meine Hand nimmt, reisst er sie ab. Zurückziehen konnte ich sie nicht mehr. Schon die geringste Bewegung... Ich blieb stehen. Hielt mich zusammen. Erstarrte lächelnd. Vor mir die weisse Papierhand." (*)
Ich glaube, dass aus der Gruppe der Menschen aus diesem minderwertigen, schon verschlissenen, fadenscheinigen Material, das alles durchlässt, Künstler wie Schulz und Kafka und Ossip Mandelstamm hervorkommen. Sie wissen, wie verletzbar sie sind, treiben Geschehnisse - in ihren Gedanken, in ihrem Leib - voran, fühlen sie voraus, entreissen ihnen trügerische Hüllen, treiben sie soweit, bis sie auseinander fallen, zerbröckeln, sterben. Warnungen sprechen sie aus. Für sich selbst. Unter allen Kleidern, allem Putz sehen sie die Risse. Deutlich liegen die Bruchstellen vor ihnen. Wie viel riss Schulz tatsächlich herunter? In wie viele Lagen verspann er sich, sehend was darunter liegt, immer wieder aufs Neue, sich so in sie verankernd? Aus Angst zu zerfallen? Ohne Verbindung zu sein? Richtungslos? Unfähig? Meine Antwort wäre Vermutung.
Zeichnen, Abtasten, Sehen. Ich wollte mich diesem Sehen entziehen, zeichnen, was ich wusste, so wissen musste. Schönes, Behagendes wollte, sollte ich zeigen. Der Bleistift in meiner Hand tat nicht, was ich ihm aus meinem Wissen heraus - dem Wissen, das andere mir vorhielten - auftrug.

Sich in die Lagen hinein spinnend, versetzte Schulz sich in sie, fühlte sie, sich, sah, schrieb auf, sah...
Ich gehe in ihnen auf, unter, fühle sie, mich. Sie verschieben sich. Was ist unten, was oben? Ich verliere den Faden, die Richtung, verlaufe mich, stehe still; vergessen. Nehme den Faden auf, seine Richtung. Es überlagert sich, mich, erdrückt mich. Ich muss raus da, mich von, aus ihnen lösen, erlösen, den verschoben-verschrobenen...
Vielleicht war es so: da liegt das Gewebe.
Schulz' barocke Sprache ist mir an sich fremd. Ich vermute, dass das Leben für ihn so unerträglich war, dass er es, sich in seine Worte, seine Melodie, seinen Rhythmus einspinnend, nicht vergass, aber leichter ertragen konnte. Auf sich zurückgezogen, ergab er sich seinem Gesang. Er sang seine Geschichte, seine Schreie.
Ich gehe durch heisse Strassen, durch wehig wuchernde, schwüle Landschaften hindurch, Landschaften, durchtränkt von ihren eigenen monotonen Sterbegesängen. Ich atme lehmige Fäulnis, Verwesung, Entbindung, fühle bitteren klebrigen Schweiss. Ein schier endloser Weg. Ich finde dahinter den nackten Tanz des minderwertigen Materials an seinem äussersten Rand. Meinen Tanz. Ich ahnte ihn schon beim ersten Lesen. Jetzt kann ich ihm Form geben, ihn sehen, nachziehen.

Ich zeichnete Schulz nach Selbstportraits. Sein Gesicht drohte unter meinen Händen zu zerfallen. Ich umriss es, tastete seine Züge ab, drang in sie ein. Das Gesicht fiel auseinander. Es schmerzte. Ich konnte nicht tiefer, nicht weiter, wusste nicht wie, lief weg, kam zurück, setzte mich hin, tastete weiter ab, fand bis dann nicht gesehene, bis dann mir verborgene, mir nichts sagende Spuren, folgte ihnen, öffnete sie, drang ein. Da steht Gesicht gegen Gesicht. Die Augen brennen schmerzhaft, ohne Murren ertragend. Er schaut mich an. Schwer liegen die Lider über den Augäpfeln. Den Hals fand ich nicht. Ein paar Striche, mehr nicht. Ich konnte ihn nicht fassen.
"Sein Hals war sehr dünn." Der Mann, der das sagte, führte seine Hand an den eigenen dünnen Hals, direkt unterm Kinn, bog den Kopf dabei zurück. Es schien diesen Mann zu würgen. Seine Augen quollen hervor.

Warum schaute Schulz nach oben, wenn ihn das doch so schmerzte? Jetzt weiss ich es. Bei Sebstporträts schaut man sich in die Augen. Das kostet Überwindung. Und Abtasten dauert und ich weiss nicht, was mich schliesslich vom Papier her anschauen wird.

Sein Hals war sehr dünn. Er war klein und hässlich. Sein Rücken war... Ich konnte mir Schulz noch nicht vorstellen. Jetzt habe ich eine fühlbare Vorstellung von ihm. Ich habe Fotos von ihm, sehe, wie er in seiner Umgebung sass, sich bewegte; den Kopf auf der Brust.

Spaziergang mit Bruno

"Ich laufe mit meinem dünnen Hals, meinem klumpigen Rumpf. Arme, Beine sind irgendwie an diesem Klumpen befestigt. Ich bewege diesen Koloss durch die kahle Landschaft. Der Wind hat leichtes Spiel mit mir. Er fegt durch die Strassen, wirbelt den Staub auf, prallt auf auf meinen Rumpf. Weg sind die Beine. Da liege ich." Ich gehe neben ihm her auf der staubigen leeren Strasse, entlang den abblätternden Mauern. Es ist hell, heiss. Er bleibt stehen. "Sehen Sie sich meinen Hals an." Ich sehe nichts. Er greift sich an den grossen Kopf. Nein, die Hände fassen nicht richtig zu. Patschig liegen sie an den Ohren. Er lässt die Arme sinken. "Tun Sie es", sagt er.

Ich nehme seinen Kopf zwischen meine Hände. Hebe den Kopf vom Rumpf ab. Aus dem Kragen heraus. Kein Laut ist zwischen uns, kein Laut um uns herum. Er schaut mir in die Augen. Brennende Augen. Früher Schmerz. Ich hebe den Kopf höher. Wenn der Kopf nur lose auf dem Rumpf sitzt? Gar keine Verbindung zu ihm hat? "Weiter", sagt er, "weiter." Mein Mund ist trocken. "Weiter!" Nein. Ich setze den Kopf wieder auf den plumpen Rumpf mit der weissen Hemdbrust darüber in den Kragen.

Ungestüme Bewegung ist im Rumpf erstarrt. Die Augen liegen verborgen unter der Stirn. Die Wange überwuchert den geschlossenen Mund. Jetzt beugt er seinen Kopf zurück. Der Rumpf, selbst unbeweglich, aus einem Guss, ist der Bewegung fest verbunden. (Nicht weiter, will ich sagen.) Die Augen hält er sich zu, so von der Seite her, mit den Spitzen der Zeigefinger. Mehr ragt nicht aus der Hand heraus. Die Arme, abgewinkelt vom Rumpf, fallen. Er lächelt, grinst. Nein, das Grinsen erstarrt, bevor es die reissende Breite erreicht. Oder sehe ich es nur nicht, drücke meine Augen kurz zu? "Das sieht komisch aus", sagt er, "nicht wahr!"

Er tut ein paar Schritte, dreht sich, seine Arme flattern, sein Kopf hüpft aus dem Kragen. "Nein", sagt er, zieht die Schultern hoch. Steht. Der Kopf, wieder im Kragen, sinkt auf die Brust. Wir laufen weiter.

"Sehen Sie", sagt er, "der plumpe Leib hemmt. Liefe ich schnell, tanzte, wirbelte - meine Arme rissen sich heraus, meine Beine verhedderten sich in sich. Der Koloss, einmal in Schwung geraten, wäre nicht mehr aufzuhalten, risse alles mit sich, weg von der Erde. Da läge ich. Fliegen mit diesem Leib!" Er schüttelt den Kopf. "Ich käme über Rissstellen in den Leisten, den Achselhöhlen nicht hinaus. Und der Kopf, nicht mehr festgehalten vom Kragen, vom Schlips, schlängelte durch die Luft. Irr vor Freiheit, geblendet vom Licht, risse er sich los, entwurzelte sich, lebte irgendwo ohne die geringste Verbindung zum Rumpf ein eigenes unkontrolliertes zügelloses Leben. Bestenfalls schwebte er über dem irdischen Klumpen. Um den Schein zu wahren? Wie lange? Vielleicht fiele er klacks! zu Boden, zu schwer geworden von den eigenen Wucherungen. Nein, zu klein geworden, kraftlos, schon vergessend, seine letzte Masse verschleudernd an letzte wilde hohle Wucherungen, Luftschlangen, Feuerwerk, kristallklare spiegelnde Luftschlösser; sich an ihnen ergötzend, sich selbst verzehrend, da abgetrennt vom Rumpf, ohne Nahrung. Und die Füsse, den Koloss tragend, ohne Augen, ohne Gesicht, zerträten ihn wie ein Schneckenhaus. Die Hände wären noch schlimmer dran. Aufgeblasen, mit immer mehr wuchernden Fingern, fielen sie, gefühllos geworden, kalt, nicht sehend, nicht erkennend, den eigenen Koloss an. Der tanzte, gleichsam nicht sehend, wie ein Tanzbär im Kreise herum. Die Füsse könnten nicht fliehen, der Koloss lastet auf ihnen. Natürlich könnten sie. Sie könnten sich verheddern und so den Koloss stürzen oder ganz schnell laufen, so dass der Koloss nicht mitkäme und auf den Rücken fiele. Dann könnten sie sich losreissen - Füsse brauchen immer einen Grund zum Laufen. Ein eigenes Leben! Das wäre es natürlich nicht. Nur scheinbar. Die Ideen, Träume, Wünsche stammen ja aus der Zeit des Zusammenseins. Dann, erkaltend, ohne eigene Kraft, da hohl, fielen Berge von Luftschlangen, geschrullten Ballons, Feuerwerksasche vom Himmel. Die Wände der Luftschlösser, dieser heissen Luftstapelungen, dann ohne Hitze, stürzten über dem Koloss ein. Fliegen ist nur Fliegen im Augenblick des sich Losreissens. Dieses Teilfliegen wäre nur Teilflucht.

"Mein Kopf sitzt im Kragen. Das Kinn liegt beinahe auf der Brust mit der weissen Hemdbrust darüber. Das Wangenfleisch überwuchert den geschlossenen Mund. Die Augen liegen im Schatten der Stirn. Ich schaue meistens auf den Boden, betrachte die Welt so von unten her. Hebe ich den Kopf, geht der Rumpf mit. Mit Mühe halte ich die Augen geöffnet - die schweren Lider! - schliesse die Augen, halte sie zu. Das helle Licht blendet, spiegelt Bewegungen tausendfach wider, bricht sie. Bewegungen, Teile davon rasen auf mich zu, lassen mich taumeln, verzerren, zerren, drehen... Strudel... zerreissen über mir... mich..." Er wischt sich die geschlossenen Augen. "Auch die Leere der heissen staubigen Strasse tausendfach widergespiegelt, gebrochen, erdrückte, erschlüge, zerfetzte mich. Diese Mauern... Staub... Diese Laute... Nicht zerreissen. Nur nicht zerreissen."

Er presst die Lippen aufeinander, die Arme an seinen unförmigen, die Bewegung zerknautschenden Rumpf, schliesst die Augen. Lässt die Arme hängen, eine Hand hält sich am Revers fest. Klänge kommen aus ihm. Seine Lippen fallen auseinander. "Ich spinne eine zweite Umgebung um mich herum, die gekannte, tausendfach widergespiegelt, gebrochen, übereinander gestapelt, verdichtet: auf dass sie mich zusammenhalte. Die andere ist so weit weg, lässt mich taumeln, ist so nahe, erdrückt mich. So zu mir herangezogen, auf Abstand gehalten, trage ich sie mit mir herum. Oder sie mich? Alles in allem ein bizarres Gebilde. Ich klage vor den Mauern, meinen Mauern: 'Gebt mich frei! Warum gebt ihr mich nicht frei?' 'Du bist verästelt in uns, und wir in dir. Ästchen, Kapillare zum Mutterkuchen verwirrt, Bläschen... Deine Haut besteht aus lauter Bläschen. Das blosse Auge kann nicht sehen, was zu wem gehört. Auch deine Klagen verästeln sich. Du musst dich lösen.'"

Weit öffnet er seinen Mund, singt, wiegt den plumpen Leib auf seinen Knien. Bewegung, Gesang und Gestalt sind eins. Sinkt in sich zusammen, wiegt sich in die Strasse hinein, schläft ein. Vergessen. Ein Klumpen, ein Knäuel im Strassenstaub. Ein Spielball für streunende Hunde und Katzen, bereit für den Fusstritt von Kindern, von Erwachsenen, zerfallend, aufgehend im blendenden Staub. Irre! denke ich, zucke mit den Achseln, laufe schon weiter. Laufe wieder zurück. Ein wirres Knäuel, liegt er da. Ich lege mein Ohr auf das Knäuel. Es ist nichts als ein Ahnen. Ich betaste das Knäuel, schüttle es. Nehme es an mich. Ich will es mit nach Hause nehmen. Unterwegs zerfallen die Gespinste zu Staub. Ich zerreibe sie zwischen meinen Fingern. Die Klänge werden lauter, eindringlicher. Das letzte Sandkorn knete ich heftig zwischen Daumen und Zeigefinger. Ich will es spüren, will spüren, dass es noch da ist.

"Der Mensch stirbt nur in der Perspektive irgendeiner Vorstellung, aber für andere, an einem anderen Ort, zu einer anderen Zeit, lebt er weiter", sagt Schulz.
An welcher Wand zerschellen wir, welche Wand bricht unsere heissen, alles mitreissenden Gefühle? Immer wieder stehe ich in Trümmern, meinen Trümmern. In Totenstädten. Immer wieder muss ich mich aufraffen, meine Bruchteile zusammenraffen, aufstehen. Ich ziehe weiter in andere Städte - wir, wollte ich sagen - wie die anderen das erfahren, kann ich nicht beurteilen.

(*) aus eigenen Texten

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bruno schulz - sabine vess: bilder einer begegnung