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POLNISCHES TAGEBUCH 1979

© Sabine Vess

Aus einem Brief an meine Mutter

Ich weiss, dass du dieses Tagebuch lesen möchtest. Solange ich es selbst in der Hand habe, zögere ich.
Erst wenn du nicht mehr sagst: "Was haben wir mit dir verkehrt gemacht, dass du so bist, wie du bist, es tut mir weh, wie du dich damit abquälst", kannst du es lesen.
Deine Kinder sind eigene Wesen. Ordnungen, die für dich galten und gelten, nötig waren und sind, gelten für uns nicht mehr, nicht so. Ordnungen, die nicht die deinen sind, obwohl mit aus ihnen geboren, sind an ihre Stelle getreten, gebären weitere.
Alles was wir erfahren, formt uns mit; und unser Handeln, unsere Worte. Unsere Erfahrungen sind anders als eure es waren, als deine es sind. Unsere Grenzen verlaufen anders als deine, als die unserer Kinder.
Gehen heisst dauernd Abschied nehmen und geben.

November 1979

 

"Du verdankst alles Bruno Schulz", schreibst du, "der dich, vom Himmel der Aussenseiter her durch Polen und die Polen zu dir führt."

Ostern 1971 nehme ich 'Die Zimtläden' aus dem Bücherschrank meines Vaters. Wie immer, zu allen Festen, sind wir mit den Kindern bei meinen Eltern in Heidelberg und wie immer da suche ich Bettlektüre. Zwischen den Kadmiumrücken der Krimis, dieses Krapp. Was da auf mich zukommt, bleibt nicht nur in meinem Kopf hängen um gleich wieder verdampft zu sein. Ich schmecke die Menschen da im flammenden Matsch des Augusts; in ihren Häusern, auf den Strassen, mit goldenen Sonnenmasken grinsend einander grüssend. Beim Frühstück sage ich: "Ich werde Schulz zeichnen."

Weihnachten 1977, nach einem Kampf um den Ausbruch von mehr als sechs Jahren und einer Begegnung, die mir Augen und Leib so öffnet, setzte ich mich an meinen Tisch, zeichne mich Bild für Bild durch. Ich finde nur ziemlich nackte Menschen in mir, erfahre wie beim Zeichnen der ganze Leib abtastet und wie unbeholfen meiner noch ist. Anfang März 1978 liegen mehr als 250 Szenen vor mir, jungfräuliche Ansätze. Ich muss wieder von vorn anfangen, alles viel weiter treiben, erschrecke bei dem Gedanken an 250 Radierungen. Ich brauche die Platte und ihren Abzug. "Mehr als 80 Szenen kann niemand aufnehmen, wirklich", sagen sie. Ich werde durch alle 250 hindurchmüssen.

Die schwüle Landschaft ums Haus seiner geliebten Bianka. Buchstäblich halte mich dabei an den Text. "Sie kann zeichnen", sagen sie. Ich fühle mich geschmeichelt, ätze diese Landschaft ins Zink, ziehe die Platte ab.

Ich will wissen, ob, was ich gefunden habe, noch Schulz atmet oder nur mich. Ende März lese ich das Interview mit dir. Du nennst Schulz. Ich lese deine Geschichten. Bitte dich die Zeichnungen mit mir durchzunehmen. Ich weiss, du verstehst. Du kommst. "Glücklicher Schulz", sagst du. Die schwüle Landschaft nimmst du heraus: "Nur eine Illustration", sagst du. Zwei Tage später vernichte ich die Platte. Ich kann keine Landschaft, keine Umgebung zeichnen, manchmal steht da ein Ansatz. Landschaften, Umgebungen verstärken, vermindern mir den Geschmack der Menschen darin.

Nach dem ersten Lesen deiner Geschichten schreibe ich dir: Zeichnen kann ich sie nicht. Doch bittest du mich einen Buchumschlag für dich zu entwerfen. Ich zeichne deine Geschichten durch. Mit keinem Strich kann ich in sie eindringen. Die Zeichnungen sind leer.

Ich musste dich malen.
Der Kampf des mit kochendem Schlamm gefüllten Geschlechts und der weissen Maske zeichnet dein Gesicht. Die weisse Maske kaum tiefer gezogen, steht der Penis, der dir blutig zu Kopfe steigt, bleich da. Das Weiss nur ein wenig zurück gedrängt, entreissen sich Wahnsinnsschreie krampfhaft zuckend deinem Rachen. Der schwarze Hintergrund verschluckt dir die Lippen. Dein Auge nimmt alles wahr. Wacht immer.
Durch das eng an die nach vorn geworfene Brust Pressen des angewinkelten Arms, machst du die Hand kraftlos, reisst dir mit gespreiztem Lächeln den Mund auf, legst die Zähne bloss, drückst das penisartige Kinn schräg auf die nach Vorn geworfene Brust, ziehst die Augenbrauen krampfhaft hoch: ein silberner Kürass mit Geste und Maske, der roten Strieme des Mundes.
Über freundlichem Lächeln rollst du die Pupillen nach oben weg, saugst den immer wieder wegrutschenden Mund ein.
Verklebst dich, bis auf den exakt sich öffnenden lippenlosen Mund, ganz weiss.

Die ersten drei dieser Männer hängst du dir ins Zimmer. Den Vierten nicht.
"Nicht einmal richtige Münder haben sie", sagst du. "Dieses Lippenbouquet aus ihrer Fratze schneiden, hacken!", steht in einer deiner Geschichten.

Ich muss nach Polen. Allein. Mit eigenen Augen sehen, woher ihr kommt, Schulz und du und die anderen, die ich gelesen habe. Dich in Sanok bei deiner Familie sehen. Mit dem Zug hinfahren um den Abstand zu fühlen.

 

Zaltbommel. Auf dem Bahnsteig nehme ich am Abend Abschied von den Meinen. Als ich sie nicht mehr sehe, sind sie weg.

Ich schlafe wie ein Hund. Der Zug fährt durch mich durch. Es ist, als komme ich, die ich darin liege, nicht so schnell mit. Wo der Zug meinen Leib wieder verlässt, flattern ein paar Fetzen meiner Haut mit ihm mit. Er fährt durch meinen Bauch, an Eingeweide kann ich mich nicht erinnern.
Berlin. Es ist 4 Uhr 30. Von hier an ein polnischer Waggon. Alles, draussen wie drinnen, ist grau. Im Abteil sitzen schon zwei polnische Frauen. Ich sehe all die Fettköpfe, die sich im Laufe der Zeit an diese Kopflappen gedrückt haben. Die Tür schliesst nicht mehr gut.

Die jüngere ist dicklich. Sie spricht nicht nur mit dem Mund, ihr ganzes Gesicht spricht, ihre Augen. Die Hände unterstreichen. Der schwere Rumpf kommt nicht ganz mit, verschlingt alles, nur Augen und Hände zappeln sich noch hierhin und dahin.

Das Gesicht der älteren ist streng, welkt. Ihre Augen sind ständig auf der Hut. Sie trägt ein graues Kostüm mit Kreidestreifen, gut zugeknöpft. Lächelt sparsam, schiebt vielmehr mit dem Mund kurz die Wange zur Seite. Manchmal entblösst sie dabei die Zähne knapp. "Sie werden schon sehen, es wird Ihnen bei uns gefallen", nickt sie, lächelt, gibt mir gute Ratschläge, Tipps. Ihr Deutsch ist ausgezeichnet. "Sie müssen unbedingt! unsere Konzentrationslager besuchen. Unbedingt!" Wieder dieses lächelnde Nicken. Ich nicke zurück und lüge damit. Nickend sitzen wir einander gegenüber. Ich will Auschwitz nicht sehen. Ich hatte mit dir darüber gesprochen. Nie mehr wolltest du dahin. Ich sehe nur noch ihre Luchsaugen, das zur Seite Schieben der welkenden Wange.

Mit dem Zug hinzufahren, auszusteigen wie alle in den Jahren der Gaskammern. An der Rampe stehen. Die Schornsteine sehen. Schon der Gedanke daran schnürt mir die Kehle. Ich kann Auschwitz nicht ermessen. Der Keim Menschen zu vernichten steckt auch in mir.

Wenn mich die Kinder bis zur Weissglut gereizt hatten, ich die Hand schon zum Schlag erhoben hatte, zog ich sie wieder ein. Nicht wegen dieser ersten spontanen Ohrfeige, sondern wegen der zweiten, der dritten, die unweigerlich gefolgt wären. Ich fühlte deutlich, dass ich diesen dann wimmernden Würmern mit den vor sich gehaltenen Ärmchen wer weiss was hätte antun können, mich nach dem dritten, dem vierten Schlag nicht mehr hätte zurückhalten können.

Ordnung wollten meine Eltern. Glaubten, Ordnung, nein, das radikale Abdecken, Ausgrenzen des Lochs, ich nenne es Loch, gäbe ein für alle Mal Ruhe. Dieses Loch, dem die Unruhe entsteigt, die Ruhe, jenes Abschlachten, die Liebe. Ein Blick nur, eine Berührung. "Warum quälst du dich damit", sagt meine Mutter, "du hast es doch gut, oder? Damit kann man doch nicht leben. Es tut mir weh, wie du dich damit abquälst. Machst du die Deinen auch nicht unglücklich? Das Eine kann ich dir sagen, hätte ich meinen Glauben an meinen Gott nicht gehabt."

"... dieser Rolle wegen", schreibst du mir, "die ich als schöner erachte, weil schwieriger."

Frankfurt an der Oder. Trostlose Kulisse.

 

Polen. Gleichmässige flache bis hüglige grüne Landschaft, grauer Himmel; stundenlang. Auf jedem Bahnhof verschlingt der Zug Menschen.

Menschen stehen, warten; anders als bei uns, denke ich. Steigen ein, suchen sich einen Platz, fangen an zu essen, versinken in Schlaf, wesenlosen Schlaf. Nur noch Hüllen hängen da.

Der Mann, der in Poznan mir gegenüber Platz nimmt, sagt: "Hier wird vieles anders für Sie sein." Über seine linke Hand ist ein kleiner schwarzer Fäustling gestülpt.

Warschau. Bahnhof Gdansk. Nur ein Taxi für diese Schlange. Er bringt mich zu einem Bus - solche altmodischen Busse! -, gibt mir einen Fahrschein, erklärt mir, wo ich aussteigen muss.

Hotel Bristol. Verschlissene Glorie. Menschen stehen, sitzen, gehen auf und ab. Vor dem Fahrstuhlkäfig steht eine eingefallene Uniform.
Das Badezimmer ist gross. Über Klo und Badewanne ist die Decke verschimmelt, zeigt braune Ringe, blättert ab. Wenn ich den Hahn aufdrehe, läuft Wasser zwischen der Badewanne mit Dackelbeinen und der Wand. Das Badezimmer unter diesem muss genauso aussehen.

Ich laufe durch die Stadt. Die alten Leute sehen zum Teil schrecklich aus. Abgestumpft. Fleisch und Kleider hängen an ihnen, ziehen sie zu Boden. Teilnahmslos schleppen sie sich.

Dein Freund wartet beim Empfang, holt mich an meinem ersten Abend hier ab. Seine Gesichtszüge, seine Unterlippe, seine Haltung, seine Bewegungen, alles an ihm ist sehr fleischig.

Mitten in der Wohnung steht eine riesige Frau, lächelt, nickt. Wir machen einen Bogen um sie. "Die Haushälterin", sagt er.

Deines Freundes Frau hat strahlende, in der Tiefe schmerzende Augen. Irgendetwas entwindet sie sich gerade immer noch. Erschlafft. Richtet sich wieder auf. Hält wenigstens das Gesicht in Zaum. Ihre Linke ist versteift.

Eine ältere Freundin kommt und die Tochter. Diese junge Frau macht einen artigen Knicks vor mir.

Die Freundin wirkt auf mich wie ein kecker Clown. Hochgezogene gespannte Augenbrauen, gespannte Nase-Kinnlinie, gespreizter Mund. Die hohen breiten Backenknochen lassen den Augen nur wenig Raum. Sie hat keine Wangen. Gesicht vor Zerriss. Ob sie die Augenbrauen so hochzieht um den Augen mehr Raum zu verschaffen? Die Lider machen nicht mit, was die Augen nahezu verschliesst. Ob sie zum Schlafen einen anderen Kopf aufsetzt?

Die Menschen hier sind sichtbar von Extremen gezeichnet, können sie nicht vertuschen. Die Züge, nur ein wenig weitergetrieben, bersten, die Gesichter blättern ab oder erschlaffen, reissen sich träge wie Hefeteig vom Schädel, überwuchern sich.

Mein erstes Frühstück allein. Menschen warten hier anders. Sie nehmen das Warten hin.
Matronen und kleine Mädchen sorgen für das Wohl der Gäste.

Ich laufe durch die Strassen. Wie die Frauen, auch die älteren, sich bemalen. Sie schmieren Farbe um ihre Augen, pudern ihre Gesichter weiss - oder sind die Gesichter so weiss? - tragen knallrote Lippen, Stöckelschuhe.

Steinlöwen liegen regungslos da.

Der alte Marktplatz mutet mich wie eine Kammer an. Die Strassen, die in seinen vier Ecken in ihn einmünden, sind kaum zu sehen. Ich bin gefangen, kann das Gefühl äusserst perfekter Kulissen nicht ganz loswerden. Viel schöner finde ich den neuen Marktplatz. Der ist offener, weniger starr. Ich setze mich kurz.

Im Literaturmuseum bringen sie mir alle Zeichnungen die sie von Schulz haben. Bringen mir Tee und Kuchen:
Grosse Hände.
Nackte Menschen in Kutschen.
Angst.
Hungrige Gesichter.
Ausdruckslose Körper.
Angst vor Frauen.
Wie fremd Frauen ihm bleiben.
Seine Huren, schon ihre Gesichter packen ihn.
Seine Hände sagen oft nichts.
In Gegenwart eines Mannes sind Frauenbeine übereinandergeschlagen,
ist die Frau allein, haben die Beine freies Spiel.
Immer wieder entstehen Masken.
Gelähmter Hände zerreisst es ihn.
Den Hund schliesst er in die Arme, fasst ihn an mit patschiger Hand.
Oft zeichnet er nur ein Auge wirklich.
Er bringt die Verbindung nicht zustande, entweder ist der Mann oder die Frau gut durchgezeichnet. Ist es die Frau, ist sie eine Hure.
Sein Strich ist oft zu kraftlos.
Diese hungrigen Augen,
Haltung dumpfer Ergebenheit,
Eingliederung in den Sabbat.
Die Füsse sind bloss.
Immer wieder: "Ich schaffe es nicht. Bis hierher schaffe ich es."
Seine gekrümmten Männer stehen da, als hätten sie einen Schlag in den Magen bekommen. Ihre Münder sollten offen stehen, die Augen aus ihren Höhlen quellen.
Nicht einmal ein Ansatz von Schrei, von Wut.
Immer wieder: "Was wirst du mit mir tun?"
Die Stadt: nur Kulisse.
Sein Gesicht überwuchert seinen Mund.
Wie ein Hund liegt er zu Füssen der Frauen.
Sie könnten ihn treten.
Vogelgesichtige Menschen.
Seine mit Tusche gezeichneten Pferde sehen aus wie Schaukelpferdchen,
auch die Hunde.
Seine Tuschezeichnungen sind hölzerner als seine Bleistiftzeichnungen.
Mit seinen Zeichnungen drang er nicht in seine Wirklichkeit ein.
Er klammerte sich so fest,
brauchte all die berauschenden, erstickenden Worte.

Theater: sich in äusserster Konzentration in äusserste Grenzgebiete begeben. Sie machen Gebrauch von ihren natürlichen Anlagen.

Das Fallen, Nicht-Fallen-Können, auf der Bühne, sowieso. Fiele der Schauspieler wirklich, könnte er sich die Knochen brechen. Überkäme die Spieler wirklich die Liebe, gäben sie sich ihr hin, das Volk schrie "Schande!" oder "bis, bis!"
Ich habe Schwierigkeiten mit Bühnensterben, mit Toten, die aufstehen, Applaus in Empfang nehmen (Jesus auferstand drei Tage nach seinem Tod). Bühnenliebe, Bühnentod besorgen mir einen uneigentlichen Geschmack.

Was jenseits meiner Grenzen liegt, kann ich bewundern, verabscheuen, danach verlangen. Solange ich meine Grenzen nicht selbst durchbrochen habe, ohne Vorurteile, Vorbehalte, ohne Anspruch, ohne Hoffnung - wie blutig ist der Kampf da. Geschunden, zermürbt kehre ich wieder, verstärke meine Schranken, schmücke sie aus.
Ist die Kluft zwischen Schreiben, Malen und dem Leben schliesslich unüberbrückbar, entstehen zwei Bereiche, die einander nicht mehr berühren, nicht mehr ineinander einfliessen können, einander jedoch beeinflussen: nicht aufgenommener Ausfluss verbreitet die Kluft, verhärtet die Fronten.

Bestünden die Ober nur aus Vorderseiten, es erstaunte mich nicht. Etwas Seichtes, Aalglattes haftet ihnen an. Die Stöckelschuhe lassen die Mädchen schräg laufen. Sie Sitzen mit Einkaufstaschen am Arm, beglabschen die Ware mit den Augen. Bei manchen ist die Putzschicht so dick, dass ich an Schiessbudenfiguren denke. Ich ertappe mich dabei, wie ich auf das Abbröckeln der Farbe warte. Sie sitzen auf der Lauer, stundenlang, Abend für Abend. Die Ober sind ihre Verbündeten. Das Bristol hat einen Nachtclub.

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Warten ist mich Binden.

Theater. Wie viel Rumpf ist nötig um von Extremen nicht zerrissen zu werden? Wie vieler Extreme bedarf es um nicht vom Rumpf verschluckt zu werden? Was einen im Leben zerreisst, arbeitet unter der auch glattesten Bühnenfassung weiter, wirkt mit.

Warten. Solange noch ein Schimmer Hoffnung vorhanden ist, klammere ich mich an ihn, bin wie gelähmt. Erst wenn ich beschliesse nicht länger zu warten, die Hoffnung aufgebe, löst sich die lähmende Bindung, bin ich wieder fähig zu handeln.

Vor vierzig Jahren kamen die Deutschen.

Als sie in der Tür des Cafés steht, weiss ich, dass sie es ist. Sie kannte Schulz noch persönlich. Mit zwölf. "Er war klein, hässlich, sein Rücken war, ja, verwachsen. Er ging nie weiter als bis zum Schuh. Er hatte Angst vor der alles verschlingenden Weiblichkeit, davor, das kleine bisschen, das er war, auch noch zu verlieren. Er war ein Selbstmordkandidat."

Bildende Kunst, Dichtung, meine Schulz-Zeichnungen, die paar, die hier schon entstanden sind. Sie möchten einen Reisebericht von mir, mit Zeichnungen. Was ich ihr zeige, ist für hier zu hart. Alles muss doch schön sein. Meine Schulzzeichnungen sind möglich, Schulz ist tot.
"In Czestochowa werden Sie Gesichter für uns finden, bestimmt."

Beim Durchsehen meiner Zeichnungen sprechen wir über die tragischen Gesichtszüge der Polen. Schon der Mund ist tragisch, die Unterlippe hat eine Einbuchtung, kommt nicht voll zur Entfaltung.
"Die Tragik verschwindet aus den Gesichtern", sagt sie. Ich denke an Wilanów. Schon die Gesichter aus dem frühen 17. Jahrhundert, die sich, ganz oder teilweise, beinahe weiss wie Masken vom dunklen Hintergrund abheben - wie die Gesichter der weissgepuderten Frauen auf der Strasse, im Bristol, bei denen ich an Schiessbudenfiguren denken muss -, zeigen diese tragischen Züge. Ich kann ihr nicht Recht geben.

Die Kinder spielen wie überall.

Im Botanischen Garten sprechen wir weiter, über den Krieg, die Überlebenden der Gettos und Konzentrationslager, den so deutschen Thomas Mann. Thomas Mann beschrieb Gefühle so minuziös, dass sie hinterher kaputt waren, oder waren die Gefühle, die er beschrieb, so kaputt? Immer wieder musste ich zurückblättern.

Das eine Foto von dir, das dir so gefällt, ist ein deutsches Foto: kaputtgemachten Gefühls, vereisten Ausdrucks. Perfektion, mit der wir nicht tiefer, nicht weiter zu gehen gewillt sind, nur erhalten wollen, nimmt uns ursprüngliche Kraft und Wärme. Es dauerte Wochen, bis ich dich wieder fand. Tag und Nacht habe ich gezeichnet und gemalt.

"Sie haben Hände wie ein Schulmädchen", sagt sie.

Sie spricht von ihrem Mann. Er ist Maler. Wenn er malt, muss er immer ein wenig hungrig sein, muss ihm das Wasser im Munde zusammenlaufen.
Ich kaue, wenn ich male. Manchmal lege ich mir eine Schwarte zwischen die Zähne. Oft ist meine Zunge kaputt gebissen.

Ich knie auf der Strasse, probiere zwei Kerzen anzuzünden. Ein altes Muttchen hat mich gebeten. Zuviel Wind, einfache Haushaltskerzen. Ein spastischer Junge hilft schon. Seine Bewegungen beim Hantieren der Streichhölzer lassen sie breit grinsen. Sie dreht sich zu mir um, tippt sich mit dem Finger an die Stirn. Ihr massiger Leib schüttelt sich. Mit ihrem zahnlosen Mund erzählt sie mir, wie ihre Tochter von der Gestapo weggeschleppt wurde, es ihr heute noch die Kehle schnürt. Ihre Hand fährt an den Hals, ihre Zunge hängt schlapp und dick im geöffneten Mund, ihre Augen quellen hervor. Sie dreht sich zu dem spastischen Jungen um, lacht glucksend. Zwei Männer bleiben stehen, zünden die Kerzen mit ihren Feuerzeugen an.

Kunst auf der Strasse, dem alten Marktplatz. Ich unterhalte mich mit einem Studenten. Seine junge Frau kommt. Sie ist betrunken. Am Abend wollen sie bei Freunden weiter trinken. Das macht ihnen Spass.

Morgen fahre ich weiter.

Warum halten die Überlebenden so sehr an Rahmen fest? Vor lauter Angst wovor setzen eure Abwehrmechanismen so früh ein? Ich dachte immer: Wer diese Hölle hinter sich hat, weiss, dass er, wenn er die Augen öffnet, noch lebt.
Warum hat kein Überlebendes Opfer, kein Täter uns je erzählt, was sich in ihm veränderte, wo und wie?

Als ich auf dem Rummel in Brüssel deinen Arm fasste, erschrak ich: es gibt gar keinen Arm in diesem Ärmel. Ich drückte den Ärmel zusammen, bis ich auf Wärme traf. Als du dann hinter mir standst, ich deinen Atem spürte, du dann sprachst, löste sich mein Schrecken.


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