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AIGUES MORTES

© Sabine Vess

Monoton rauscht dahin, scheinbar vergessen. Du schreist auf. Das Rauschen. Der Fluss ist nicht mehr, der er war.

Bahnhöfe brennen. Die Züge sind brechend voll. Das Kreischen der Räder auf den Schienen. Wo wir damals aussteigen, kenne ich nichts. Alarm, und kein einziges Haus liegt in Trümmern. Es brennt nicht. Sie lachen schrill, schlagen sich stark auf die Schenkel. Die bleichen Gesichter laufen rot an. Die Münder stehn lange noch offen. Sie wenden die Köpfe hin und her. An Festtagen rufen sie auf zum Tanz. Ich esse mit ihnen, trinke mit ihnen, dreh mich mit ihnen im Kreis, lache schrill, schlage mir auf die Schenkel. Mein Mund steht offen. Auf meinem Kissen werfe ich den Kopf hin und her. Ziehe die trockenen Lippen über die stumpfen Zähne. Der Geschmack in meinem Mund ist pelzig.

Wasser dringt mir in die Augen. "Nicht", sage ich. Ich muss weiter. Und klammere mich fest.

Warme Lippen liegen auf meiner Haut, bewegen sich Schmerz bringend weiter. Es erstickt mich. Ich erhebe mich von seinem Lager. Gehe. Ich tanze diese, jene Polonaise, bis sie zerlöchert über mir zusammenbricht.

Es rast über mich hinweg, rast, sucht heim. Fiebernd hänge ich in den eigenen Reusen, offenen Leibes. Ich komme nicht an. Da ist niemand. Ich gehe ohne Abschied, ohne Trauer. Manchmal benimmt mich der Schmerz. Das Land der Mitte ist Grenzland, kommst du weiter, verschlägt's dir den Atem.

Wenn ihre Zeit gekommen ist, springen die Lachse gegen die Klippen an stromaufwärts. Es geschieht. In den Gewässern, aus denen sie kamen, laichen sie und verenden. Noch nie fand sich ein Lachs jenseits der Gewässer, aus denen er kam.

Du bist gekommen, hast die lange Reise doch unternommen. Morgen fährst du zurück.

Ich werde auch dich zerstören, wie ich ihn zerstört habe, dich einfach stehen lassen, schrieb sie dir. Den Brief hast du unterwegs zerrissen.

Wir laufen über den Strand. Der Sand peitscht unsere Gesichter. Ich sollte mich dem Sturm stellen, bis er durch mich hindurchrasen kann, jede Faser erfassend, wirbelnd.
"Wir sollten zurück", sagst du.
Wir kehren um.

 

Damals fing ich an tatsächlich aufzuzeichnen. Die Zeichnungen, die Platten habe ich bewahrt, die Worte nicht. Ich konnte Worte noch nicht ertragen. Er war gut zu mir. Besorgt. Der erste, der in eurem Lande zu mir kam. Es gab keinen Helden.

Brot.
Wein.
Speichel auf Lippen und Worten.
Die Hingabe des Leibes.
Das Abziehen des Lakens.

Brot.
Wein.
Ständige Wiederholung des ersten Blicks, dieses ungetrübten, sich nicht leugnen lassenden Wissen: Beklommensein, bitter, kalt. Immer wäscht er seine Hände trocken. Seine Unterlippe hängt immer feucht. Dann lächelt er, das Kinn beinahe auf der Brust. Ich stand vor ihm beim Neujahrsempfang. Ich war neu. Der Ort, die Menschen da, eine weitere Zelle eures Landes, in dem ich damals schon so lange wohnte. Er nahm meine Hand, trat einen Schritt zurück, zeigte grinsend die Zähne.

Euer Land ist feucht und kühl. Ehedem riss das Meer eure Dörfer und Städte, zwang eure Väter seinen zornigen Fluten immer stärker, immer vernünftiger entgegenzutreten. Tulpen bedecken das ehemalige Schlachtfeld. Wenn im Frühjahr die grossen Ströme anschwellen, zieht es euch zu ihnen hin. Eure Deiche sind stark, die Durchgänge mit Rillen für doppelte Abschottung ausgestattet. Sie können das Bett nicht mehr verlassen. Das Risiko der Überschwemmung soll auf Null reduziert werden. Es gibt noch schwache Stellen. Eine Sintflut müsste es sein. Lächelnd wird über das Schlauchboot auf dem Dachboden gesprochen. Häuser liegen metertief unter dem Meeresspiegel. Tag und Nacht arbeiten die Pumpen. Eure Kontrolle ist streng und ständig, ein Auge immer auf den Deich gerichtet.

Die Ausstellung war vorbei. Morgen fuhren wir zurück. Wir tranken noch ein Gläschen Wein. Wechselten noch Worte. Mein Glas war leer. "Möchtest du noch?" "Ja, bitte." Er schenkte nach. In die fallenden Stillen senkte sich die einzige, die endgültige Frage. Gegessen hatten wir schon. Wie oft hatte ich in solcher voll Grauen gespannter Stille nicht die Frage genommen und gestellt. Luft zum Atmen. Und es folgten Tänze, die mir Mund und Kehle schnürten, mich banden. Kalter Schweiss, sein bitterer Geruch. Und ich stand daneben und konnte nicht weg. Starrte bis hin zum Letzten und weiter. Konnte die Augen nicht abwenden. Ich griff zum Glas, setzte es an die Lippen. "Soll ich noch auf dein Zimmer kommen?" "Ja."

Er kam im gestreiften Schlafanzug. Ich war noch ganz angezogen: starr, schwarz. Er grinste. Speichel rann über seine Lippe. Er sagte, er begriffe nicht. Und während er dastand, auf mich starrte - dieser gestreifte Schlafanzug - zog ich mich aus. Nach zwei Stunden ging er. Der Raum war heiss und stickig. Gegen Morgen kam er zurück. Seine wässrig blauen Augen. Ich konnte die Augen nicht schliessen. "Alle Frauen schliessen die Augen", sagte er, "immer."

Es sprach noch und sprach diese lächelnde Grimasse mit der hängenden feuchten Lippe, das Kinn beinahe auf der Brust. Die stubbigen Hände tätschelten weiter. Ich hätte sagen müssen, aufstehen. Ich konnte nichts sagen; über die Beklemmung, die kalte Klebrigkeit. Lag da. Lächelte. Er ist nicht leichtfertig.
"Es ist gut so, nicht?" "Es ist gut." Es war nicht vorbei. Stillschweigend, unter Lächeln, war ich ewiger Zeuge geworden, Mittäter.
"Es ist gut. Nicht?"
Manchmal nahm ich seine Hand und es war gut.

Der Speichel lag schon auf seinen Worten, seiner Stimme, wenn er mich anrief. Vor mir sein Grinsen, das Kinn auf der Brust. Die Fragen danach, deren Antwort er kannte: mein Lächeln. Ich stellte die Gläser bereit. Kochte Kaffee. Wir tranken immer erst einen Cognac. Es war noch nicht Mittag. Sein lauter Atem zerschnitt meinen Leib.
"Sag, dass es gut ist!"
Manchmal mietete er ein Hotelzimmer für ein, zwei Stunden. Kein Stundenzimmer zwischen Huren, das nicht.

Da sass ich, tastete zeichnend das nackte Geschehen ab. Zeichnen ist Sehen, begriff ich, mit dem ganzen Leib.
Du solltest das nicht zeichnen.
Das ist doch bekannt.
Du bist auf dem verkehrten Weg.
Du solltest nicht blosslegen.
Mit dem Wissen kann man doch nicht leben.
Du solltest dich nicht damit quälen.
Du solltest den anderen in seiner Würde lassen.

Ich konnte im Anfang nur schwer entziffern:
Erstarren in Gefangensein.
Gaben in das dauernde Grab.
In mir das Fieber.

Ich hielt mich noch immer hin, reichte ihm den von Anfang an wissenden Leib. Er nahm ihn zwischen die Schenkel, streichelte, rieb, schüttelte ihn. Der Leib blieb kalt. Ich starrte noch immer auf die beiden, trockenen Mundes.

Ich zeigte ihm das Gezeichnete. Es gefiel ihm sehr. Ich gab es ihm. Eine Woche später gab er mir Geld dafür. Ich nahm es.

Ich würde Worte brauchen.

An einem Dienstag im September. Es war schwer. In unseren Händen liessen wir den Cognac sein Bouquet voll entfalten. Zwischen unseren Fingern zerkrümelte das Brot. Wir setzten das Glas an die Lippen. "Ist das unser Ende?" "Wir können weiter miteinander sprechen." "Eine angemessene Schonzeit?"
Es war vorbei. Ganz tief und unwiderruflich hatte mein Fluss sich gekehrt. Für ihn bedeutete es nur Kastration. Ich kam nur noch selten. Gehen konnte ich noch nicht.

Wie er es aufnahm? Er nahm es nicht auf. Er starrt noch immer auf den Fluss. Für ihn zählt das Bild. Das lächelt ihm zu.
Er brachte mich noch nach Hause. Setzte mich noch vor der Tür ab. Kam nicht mehr rein. Zu Weihnachten und zu meinem Geburtstag liegt eine Postkarte im Briefkasten: Liebe Grüsse.

Ja, er kam noch einmal. Das war, bevor ich meine Reise dann wirklich antrat. Er wusste, ich würde nicht länger warten können. Dass ich gehen konnte, verdanke ich seinem Einsatz. Wir assen und tranken. Er wünschte mir gute Fahrt und glückliche Heimkehr. Ich brachte ihn zur Tür. "Bitte", sagte er, "es ist alles wieder beim alten. Lass uns." Er setzte seine Aktentasche ab. Ich breitete das Laken aus.

Ich begab mich nach jenseits meiner zerteilten Stadt.

Er fuhr in den Süden, kam krank zurück. Ich suchte ihn auf. Zeigte ihm die Zeichnungen von unterwegs. Sie schmeckten ihm bitter, bedrückten ihn. Er begriffe sie nicht, begriffe mich nicht, sagte er. Die Krankheit höhlte ihn aus. Dann ging es ihm besser. Er wartet noch immer auf meine Rückkehr.

 

Das Haus, in dem ich hier für ein paar Wochen wohne, ist alt. Putz fällt von den Wänden. Zementscherben liegen auf den Stufen. Das Haus wird mühsam und kleinlich restauriert. Die ausgelaugten Fensterläden hängen schief in den Angeln. Ameisen nisten in der dünnen Wand zwischen Küche und Wohnzimmer. Sie vermieten das Haus an Touristen. Sechs Zimmer; zehn, zur Not zwölf Betten.

Auch hier steigen mir Tränen in die Augen. Dieses Land, nördlich des Meeres, über das der kalte trockene Mistral tagelang hinwegfegt, als erschlaffe er nie. Diese Weite, ockerrot flimmernd mit drassigen Lagunen direkt hinter der Küste, gräulich-weissen Salzhalden neben roten Erdpfannen. Früher konnte man von hier nur wieder wegziehen. Moskitoschwärme, die ihre Brutstätten in den schwülen Sümpfen hatten, wachten darüber, dass dieses Land nicht unter die Menschen fiel. Ludwig der Heilige versammelte hier seine Mannen um Jerusalem, die ferne Geliebte, aus dem Griff der Türken zu befreien. Händler und Handwerker sind geblieben. Unweit von hier feiern die Zigeuner seit je ihr Fest. Unter Gesang und Weihrauch und Tränen tragen sie ihre heiligen Frauen auf den Schultern zum Meer. Tauchen sie ein in die salzigen Fluten, aus denen sie damals kamen, bringen sie zurück in die Kirche. Am nächsten Tag sind sie weg. Im nächsten Jahr kommen sie wieder. Im nächsten Jahr tragen die Männer die Frauen wieder zum Meer.

Aigues Mortes. Dicke Mauern beschützen noch immer das ehemalige Lager. Die Farbe der Mauern und der Erde ist eins.

Man hat die Moskitos vertilgt. Diese Zone zwischen Leben und Tod, in der nur die Zähesten, die Abgestumpftesten ausharren konnten, sollte Touristen locken, wurde gewaltsam zugänglich gemacht. Und Millionen kommen für zwei, drei Wochen. Land, durchsetzt von Meer. Rissig, rostbraun lechzt es jeden Herbst nach Regen. Gebräunt kehren die Millionen nach Hause zurück. Sie ziehen nicht mehr weiter. Die Bräune verblasst. Im nächsten Jahr kommen sie wieder, oder andere. Das Meer verschlammt, das Land rückt auf.

Die Haut der Häuser springt. Nur den endgültigen Verfall flickt man aus. Träge Bewegungen. Träge Gesichter, bis hin zum Stöhnen. Die Mundwinkel hängen schief und schlaff. Die Unterlippe ist nicht mehr zu halten. Frauen haben gelernt den Mund zu schürzen. Frauen schleppen sich auf die Strasse und wieder ins Haus. Noch in rosa wattierten Morgenröcken schieben sie die fettigen Strähnen aus dem Gesicht. Und dann lähmt die Sonne alle Bewegung, lässt stehen und liegen lassen, zwingt die Menschen bis zum späten Nachmittag in ihre Häuser. Man stellt aus, was man für die Touristen feil hat: Tinnef, Teigwaren, Fleisch, Fisch, Gemüse, Wein, Postkarten, Kräuter, Kleidung. Männer messen sich beim 'jeu de boules'. Gleich hinter den Dünen entstehen im Mai provisorische Lagerstätten. Im September bricht man sie ab. Katzen hausen auf dem verluderten Kirchhof. Schlachter sind überall Schlachter. Einst lag die Stadt am Meer.

Am Morgen sind sie da, die Zigeuner. Einer kauert auf dem Bürgersteig, vor sich den kleinen Leierkasten. Nur den Kasten. Die offene Mütze liegt daneben. Der Kasten der beiden anderen steht auf einem Karren. Sie brauchen ihn nicht zu schleppen, nicht abzusetzen, brauchen sich nicht hinzuhocken. "Waldesluhuhust, Waldesluhuhust, oh! wie einsam schlägt die Brust." G. Bacigalupo, Berlin, kann ich auf dem Messingschild entziffern. "Mein Vater kennt mich nicht, meine Mutter liebt mich nicht, und sterben mag ich nicht, bin noch so jung." "In Ricksdorf ist Musike." Und: "Auf der grünen Wiese hab ich sie gefragt, ob sie mich wohl liebe, ja, hat sie gesagt. Wir tanzten wie zwei Kinderlein, Kinderlein..."
Der Mann dreht die Musikkarten durch. Noch bevor er eine durch hat, sind sie schon hastig weiter. Unter dem schwarzen Hut, sein dünnes blondes Gesicht. Es zeigt keine Regung. Nichts. Sie ist rostig und braun und rissig wie das Land hier im September. Scheu, voller Angst und deren Gebärden. Schrecken steht in dem verspannten Gesicht. Ihre Augen schauen nicht in dieselbe Richtung. Die Rechte schützt die Brust, den Hals. Sie lächelt. Hält den angeschlagenen Emailbecher, vergilbte Papierstreifen hin. Murmelt unverständliche Worte. Später sagt mir jemand, dass auf den Papierstreifen die Texte der Lieder stehen. Wehes Lächeln. Sie zeigt die Zähne. Huscht in die Geschäfte, stürzt zwischen den bunten Plastikstreifen wieder raus, weiter. Die Rechte vor der Brust. Ein sich Zurückwinden, den Kopf Wenden, Lächeln. Das eine Bein hinkt nach. Die flachen Schuhe sind verlatscht.

Und dann steht sie, die Ellenbogen auf den Leierkasten gestützt, gegenüber der Kneipe beim grossen Tor, lächelt. Ihn sehe ich nicht. Morgen ist ihr Fest.

Einander haltend, begeben wir uns am späten Abend in diese alte Lagerstadt. Irgendwo trinken wir noch im Stehen einen Pastice. Die Alte mit den Zügen der Zigeuner schaltet das Licht aus. Die paar Frauen, Verkäuferinnen, Zimmermädchen - nein, die kommen jeden Tag von ausserhalb - verziehen die rot verschmierten Münder zu Fratzen. Das Glas in der Hand, stehen sie schwankend in dem jähen Grau. Welke Haut. Stramme weisse Hosen. Stöckelschuhe. Die Augenlider sind schwer. Wirre abgehackte Gesten. An manchen Tischen sitzen alte Männer, krumm von der Arbeit. Ihre wasigen Augen sind Blut durchlaufen. Die Unterlippe hängt. Jungen feixen an der Theke.

Weit reicht die Sicht vom Käfig aus, der den Gefängnisturms krönt. Wir laufen noch ein Stückchen über den Wehrgang. Ganz herum ist nicht mehr erlaubt. Dem Ansturm der Millionen wäre er nicht gewachsen. Nach innen zu ist er nicht abgesichert. Unter uns die roten Dächer.

Diese beinahe schon tote Stadt, in der die Menschen röchelnd erwachen. Den rosa wattierten Morgenrock überstreifen. Den Hund auslassen. Weisse Gesichter, ledern. Rot überschminkte Lippenstreifen, schütteres rötlich graues Haar. Sie schliessen die Läden wieder, von innen. Es gibt hier blau umränderte schwarze Augen in dunklen Gesichtern.

Ich habe dich zum Bus gebracht. Gehe zurück in das grosse Haus. Da ist nichts, das mir gehört.

Raus in die weiss-ockeren Strassen. Es stürmt.

1984; Korrektur: Dezember 2003

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