index prosa

ER REICHT MIR MEINEN PASS

© Sabine Vess

 

Gelber Sturm bedeckt mich.
Irgendwann, wenn einer dieses Weges zieht,
läuft er als sei er der Erste.

Finger auf meiner pergamentenen Haut.

Vor Grauen des Tages machte ich mich auf.
Wieder ist Nacht.

"Der Weg des Wegkommens ist leer und es dauert, bevor du ihn erreichst. Irgendwann raffst du dich nicht mehr auf, zieht deine Hand sich über Asphalt durch Sand. Asphalt, Sand schieben sich dir in den Rachen. Bleib! Auch wir leben hier. Auch hier kannst du sterben."


Wir stehen auf dem Bahnsteig. Es ist kalt. Wir warten auf den Zug. Ob und wann er kommt, hält, wissen wir nicht. Früher hielten hier alle halbe Stunde zwei Züge. Einer nach Süden, einer nach Norden. Jetzt fahren sie vorbei. Die Schranken werden heruntergelassen. Die Bimmel bimmelt. Wir treten zurück, wenden die Köpfe ab. Manch einen haben wir nie mehr gesehen.

Als die Züge noch regelmässig hielten, hätten wir mühelos weggekonnt. Wohin? Es war nicht nötig. Bis zur nächsten grossen Station dauerte es eine halbe Stunde. Wir fuhren hin. Manche jeden Tag. Liefen durch die Strassen, schauten uns die Menschen an, die Schaufenster, erblickten uns in ihnen. Berauscht von Möglichkeiten standen wir auf dem Bahnsteig der internationalen Züge. Lächelten. Benommen begaben wir uns auf unseren Bahnsteig, Gleis 14. Da stand schon der Zug, der uns wieder herbrachte.

Wir begriffen es nicht. Gingen am nächsten Morgen wieder zum Bahnhof. Blieben lange. Gingen am nächsten Morgen wieder hin. Erst nur die, die immer hingegangen waren.
Wir gehen zum Bahnhof, laufen lange auf und ab. Bis ans Ende des Bahnsteigs. Zurück. Ans andere Ende des Bahnsteigs. Der Schalterbeamte verkauft Fahrkarten. Wir laufen auf und ab. Tränen steigen uns in die Augen. Manche kommen jeden Tag. Der Wind schneidet.

Er lief schon den Bahnsteig auf und ab, als die Züge noch regelmässig hielten. Kam immer zu früh. Fünf Minuten. Lief mit rudernden Armen. Manchmal hielten seine Hände einander im Rücken fest. Der Zug erlöste ihn aus diesem Hin und Her. Seine Unterlippe zitterte bei jedem Schritt. Seine Wangen, eingefallen, doch hängend, auch.
Er kommt jeden Tag, bei Wind und Wetter, läuft mit rudernden Armen den Bahnsteig auf und ab, manchmal halten seine Hände einander im Rücken fest. Fünf Minuten. Dann steht er, das Gesicht den Gleisen zugewandt, still. Dann entringt sich ein heulendes Brüllen seinem Rachen. Dann geht er.

Wir kommen jeden Tag. Und nicht mehr nur wir. Die Zahl derer, die nie gefahren, nie ein- und wieder ausgestiegen waren, den Zug nie hatten halten sehen, nie die Möglichkeit erfahren hatten wegzukönnen, hat die unsere überschritten.
Erst schauten sie nur. Dann kauften auch sie Karten. Mischten sich unter uns. Sprachen schliesslich wie Vertraute, wie Erfahrene mit uns, fingen an uns zu belehren.
Sie laufen den Bahnsteig auf und ab, vom einen Ende zum anderen. Manche mit rudernden Armen. Manche die eine Hand die andere im Rücken festhaltend. Manche stellen sich nach fünf Minuten an die Bahnsteigkante, röhren über die Gleise, senken die Köpfe, gehen. Anfangs riss es einige mit.

Es fahren keine Züge mehr vorbei. Das Hören ihres Vorbeirauschens ist alles, was uns geblieben ist. Keine Bimmel. Kein Zug. Kein Fahrtwind. Vielleicht bilden wir uns das Hören des Vorbeirauschens auch nur ein oder wird irgendwo eine Geräuschkulisse angeschaltet.

Auch Post von draussen bekommen wir nicht mehr. Wir schreiben denen, die wir jeden Tag sehen können, denen wir eigentlich nichts, nichts mehr zu sagen haben, bedeutungslose Briefe, lächelnde Briefe. Alter Junge! Teuerste! Wir danken einander dafür. Um uns der Mühe des Schreibens nicht unterziehen zu müssen, dieser Sinnlosigkeit, kaufen wir Vorgedrucktes. Es gibt eine Stelle, die das gegen Bezahlung für uns erledigt. Für draussen schreibt niemand mehr.

Über die Gleisstücke, die da noch liegen, kommt einmal pro Halbjahr unser Zug. Der Verband der Reisenden hat ihn gemäss unseren Beschreibungen nachgebaut. Einige derer, die daran gebaut haben, hatten tatsächlich noch Züge vorbeirauschen sehen. Dieser Zug muss gezogen und geschoben werden. Wir waren ja nur ein- und auf der grossen Station wieder ausgestiegen. Und da wieder ein und hier wieder aus. Über die Kraft, die ihn fortbewegte, wussten wir nichts. Das war auch nicht nötig. Über diese Kraft wissen wir nichts. Die Zieher legen die Gurte an, farbige Gurte. Fähnchen, Wimpel, bunte Tücher, eine Fanfare. Der Ablauf wird geübt. Der Zug ist leicht und nicht allzu stabil. Wir? Schütteln die Köpfe, aber gehen hin, schauen dem Treiben zu. Es erwischt keinen mehr. Einmal pro Jahr stürzt sich ein Auserwählter, nachdem er über die Gleise geröhrt hat, vor den Zug. Auf die Schienen ist eine Matratze gelegt.

Ich gehe bis weit vor die Stadt. Gegen Abend bin ich wieder da, bereite das Essen, decke den Tisch. Ich muss eher los und länger durchhalten.


Dass alle Bäume, Sträucher, Gestrüpp sehen, täuscht über die Wirklichkeit hinweg. Es sind Menschen. Sie sind gepflanzt. Die altherkömmliche Methode der Fortpflanzung wies, was Charakter, Stärke, Güte betrifft, zu viele Mängel auf. Und die Starken gingen. Wir bereiteten die Erde, steckten die Stecklinge und überliessen sie nach angemessener Periode des Hegens und Pflegens, wie vereinbart, sich selbst.
Sie wachsen unbändig, schreien. Nur ihre Schreie können weg.
Sie wuchern über die Mauer. Bewegen sich stürmisch hin und her. Bäumen sich auf. Geraten kämpfend ineinander. Wir stutzen ihre Arme, Brüste, Köpfe, werfen das abgeschnittene Zeug zurück über die Mauer. Es vermodert, düngt die Erde. Und es entstehen anstelle der Einköpfigen Zehnköpfige, anstelle der Zehnfingrigen Hundertfingrige, unzählige pralle Busen und Penisse voller unerträglicher Pein. Wir drängen sie zurück, stutzen Tag und Nacht. Es kommt nichts mehr rüber, die letzten würgenden Schreie liegen weit zurück. Wir begeben uns hinter die Mauer, glätten die Erde, verbrennen die letzten dorren Äste und Stümpfe. Laut brüllen die roten und weissen Flammen, stöhnend krümmt sich das Holz.


Alt und müde vom Leben, nur noch dasitzend, gehen sie ins Eis. Ohne Wegzehrung, ohne Worte wie ihre Väter. Nach der Wärme, die sie für immer verlassen, umarmt sie die Kälte. Sie können ihr nicht widerstehen, ihren heissen berauschenden Bildern. Wenn einer doch noch wiederkehrt? Noch zu stark ist? Der Rausch ihn nicht weit genug wegrafft? Er die folgende Niederlassung erreicht? Nach ihnen gehen andere ins Eis, vergeblich den ausgetretenen Weg suchend. Wir wissen nichts über diese letzte Tagereise, nicht ob sie weinen, kämpfen. Nur wer frei zum kalten Hause tanzt - die, die zurückkehren, sprechen von Strapazen, von Elend. Heulen. Es war noch nicht ihre letzte Reise.


Ich schminke mich, lege Rouge auf, begebe mich vor die Stadt. Er hatte gesagt: "Ich komme vorbei." Jeden Tag begebe ich mich vor die Stadt. Meine Füsse keltern den Sand. Der Sand wird feucht, rot. Ich knie nieder, forme den Mann schön und stark. Jeden Morgen mache ich mich auf, gehe zu ihm hinaus. Küsse, liebkose den Roten, lasse ihn tief in mich ein. Wund erwache ich, kehre im Dunkeln zurück. Mitternacht schliessen sie die Tore.
"Das ging lange so. Niemand kann sagen wie lang. Sie ging und kam. Ging früher, kam später, verfiel in fahriger Hast, schlurfte. Niemand sah sie mehr zurückkommen, gehen. Vor der Stadt lag der zerbrochene Schorfige. Von ihr keine Spur. Wir fügten den Zerbrochenen, so gut es ging, zusammen. Gaben ihm eine glatte weisse Haut. So steht er am Eingang der Stadt; ohne Pupille, ohne Iris."


"Herr, ich dachte, hier könne ich leben. Alles ist gelb, ocker. Sie stehen da, weiss, erhaben. Der gelbe Sturm kann Ihnen nichts anhaben. Ich dachte, es sei hier. Ich bin ganz um sie herumgegangen. Ich gehe ja. Nie war ich mir so sicher gewesen. Immer wusste ich: das war es; vom ersten Blick an. Hier hatte ich Zweifel, habe sie noch immer."


Es gibt hier keine Dämmerung,
langen Schatten,
nur Tag und Nacht,
kein Feucht das Salz zu lösen.


"Ich komme Kaffee trinken."
"Sie sind lange nicht hier gewesen."
"Ich war weg. Ich..."
Er bringt Kaffee.
"Ich war weg. Schwarz."
Die Tasse ist klein. Ich nehme winzige Schlucke. Da sitzt noch niemand. Es ist noch früh. Ich friere. Ich warte nicht, bis der Ober sich herbemüht, lege das Geld auf die Theke.


Eine Putzfrau, ein junger Bühnenknecht und ein paar Statisten laufen schon geschäftig hin und her. Es ist noch sehr früh. Das Spiel fängt erst am Abend an. Wir verlassen das Theater durch die Hintertür. Auf dem Schutt da liegen Reste von Menschen nach Menschen. Sie stellen mich vor ein Monument, lassen mich in Höfen nach oben schauen, die Wände hoch und runter, mich drehen. Dann sind wir wieder bei den Resten der Menschen nach Menschen.

"Schau, ich färbe mir die Haare blau..."


Sie steht im Türrahmen. Die Lippe hängt lustlos, bewusstlos. Sie macht auf Vamp. Leckt sich die gekräuselte Haut. Lächelt. Es gibt nichts zu lächeln. "Ja", sagt sie, zieht die Oberlippe wieder über die weissen Schneidezähne.
Diese ausgeleierten, manchmal blauvioletten tauben Lippen, die sich oft nicht mehr zurückziehen lassen. Manche schminken sie sich ganz grell. Sie schleifen sich durch die Strassen, oft stehen bleibend, nach Luft schnappend. Graues Fleisch unter welker durchsichtiger Haut. Die Dellen des Eindrucks meines Daumens, meiner Finger bleiben. Die schreiende Schminke, Glitter.
"Warum holt ihr euch kein Blut", frage ich einen. Er lächelt. Stülpt die Oberlippe hoch. Seine Zähne: braune Stümpfe: "Niemand gibt sein Blut freiwillig."
"Euer Lächeln, euer Nicken erregen Ekel."


"Längst Asche, scheinbar trocken, seid ihr fett und klebrig, umhüllt mich, dass ich zittere, aufersteht bei jeder Berührung, jeder Ahnung schon, von der ich sicher bin, sie gelte mir. Reisst an euch, zertrampelt."
"Eine Furie, werfe ich mich dir in den Weg, laure dir immer wieder auf: Du sollst Vater und Mutter ehren!"
Ich mauere die Furie ein, auf dass sie nie mehr, noch einmal zu Kräften gekommen, ihr grausames Spiel wiederhole, räume ihr einen festen Platz ein.
Da thronst Du mitten im Weg, rührst Dich nicht. Aus Kampf wird Opfer, Sühneopfer. Mein Blut fliesst in Strömen. Ich gebe es dir gern. Befriedigen will ich Dich, will weiterdürfen. Mein Blut dringt nicht in Dich ein, bleibt auf Dir kleben, rostrot, hart.
"Mach meine Haut geschmeidig! Blutrot geschmeidig!"
Ob ich es höre oder nur vermeine es zu hören. Ich schneide mir die Adern auf. Und nicht nur mir. Ich gebe Dir alles frische Blut, dessen ich habhaft werden kann.
"Fickt mich! Fickt mich!"
"Du lässt nur masturbieren."
Ich, sie, wir spüren den Schmerz beim Durchschneiden der Adern nicht. Du lächelst hold. Auf meinen Knien rutsche ich zu Dir hin, auf ihren Knien rutschen sie zu mir hin.
"Hier, hier, nimm, nimm!"
"So ist es genug! für heute."
Dumpf schleppe ich mich, schleppen sie sich durch die Zeit bis morgen. Dann erschallt wieder Dein Ruf.

Ob, was ich je gebäre, die Kraft haben wird mich einzuholen, mich noch einmal zu überwinden?


Sie schaut mir müde in die Augen. Hat getrunken. Auf ihrer Nasenspitze stehen Tropfen. "Ja", sagt sie, "er ist ein schlauer Fuchs." Wir lassen sie stehen.

Vergammeltes Halbdämmer. Hinten in der Ecke die Theke. Am Boden festgeschraubte Hocker, vor dem Brett, entlang der Wand. Darüber die Spiegel. Auf den Hockern Menschenrücken. "Setz dich." Ich setze mich, stütze die Ellenbogen auf. Er geht zur Theke. Ich sehe mich - er hatte von diesen Spiegeln gesprochen -, mein Gesicht, die Augenränder, einen Bus vorbeifahren. Wieder fangen sich meine Augen ineinander. Er kommt mit Kaffee und Wodka, setzt sich auch. Auf den Rändern seiner unteren Augenlider liegt - je - ein brauner Strich. Auf der Unterlippe dieser dunkle Punkt. Er lächelt. "Das ist das letzte private Café. Früher gab es viele. Rundherum die Spiegel. Lustig, nicht?"
Sie trinkt schweigend. Stellt die Tasse wieder hin, lächelt genant, als hätte ich sie beim mich Beobachten ertappt. "Diese Spiegel", sagt er, "schliesslich haderst du mit dir. Hörst zwar, was die anderen sagen, nimmst es jedoch nicht wahr. Schaust nur auf dich. Süchtig nach den eigenen Augen. Du zerschlägst die andere, nimmst die Scherbe, setzt sie dir an den Puls. Schaust noch einmal auf. In das Loch."


Unter kugelsicherem Glas wird er durch die Strassen gefahren, ihr Heiliger Sohn. Panzerwagen vor, neben, hinter sich, lächelt er, hebt segnend die Rechte. Viel Volk jubelt ihm zu. Hat lange schon gesungen. Schmeisst Blumen vor die Kolonne. Hebt sie danach wieder auf. Es ist nicht warm. Seit drei Tagen darf in der Stadt kein Alkohol mehr verkauft werden. Abends herrscht Hochbetrieb bei den Huren, fahren 200 Panzerwagen in die Stadt.


"Schau", sagt er, "ihre Schuhe, ihr Kleid, die Creme. Ich kann das nicht schon aufräumen. Sie kam fünf Jahre lang, dreimal pro Woche, je zwei Stunden. 'Schenke mir ein Jahr deines Lebens', hatte ich sie gebeten. Das Kind, das sie trägt, ist nicht von mir."


"Allein stirbt es sich so schlecht", sagt sie. "Für wen?" Die Flecken in ihrem Gesicht. Ihre Hand fährt an den Hals: "Bis hier bin ich Asche. Lähmung liesse sich lösen, vielleicht. Noch einmal geboren werden, aufsteigen wie Phoenix. Ich bin jetzt achtundsechzig Jahre alt. Asche ausschlachten?"


Irgendwann hatten wir aufgehört zu lesen. Es gibt keine Bücher, keine Zeitschriften mehr und auch kein Papier. Ein paar Fetzen, vergilbt. Es gibt keine Stifte. Keine Tinte. "Schreibt mit euren Fingern. Schreibt euer Blut!" Wir ritzen uns an. Die Buchstaben sind zu gross für die Fetzen. Viele wissen nicht mehr, was Buchstaben sind. Uns wird schwarz vor Augen.


"Die langen weissen Schatten."
"Es gibt keine weissen Schatten."
"Diese sind weiss."


Schmerz, nein, Angst vor Schmerz regiert die Welt.


Der Stoff, den wir in unserem Lager trinken? Wir trinken ihn. Ein Kontrolleur kommt. Es gab Gerüchte. "Sehen Sie!" Ich schenke mir ein, trinke aus. "Bitte", sagt er. Ich schenke auch ihm ein, gebe ihm das Glas. "Kommen Sie!" Er trinkt schon unterwegs. Er wird so klein. Beim letzten Schluck fällt er ins Glas. Ich bringe ihn, der zwar anwesend, aber nicht sichtbar im Glas liegt, in die weisse, hell erleuchtete Kammer, lege das Glas umgekippt auf den Boden in die weissen Kristalle, nehme es wieder heraus, lege es daneben. Ich weiss, dass er so eine Chance hat. Die Tür lässt sich nicht schliessen. Mir bleibt nichts anderes übrig als sie zuzuhalten. Durch den offenen Spalt sehe ich, wie er sich erhebt. Wir schauen einander in die Augen. So besteht mein Leben daraus, das mögliche Leben zu erhalten. Und das geschieht dadurch, dass ich die Tür zu der weissen, hell erleuchteten Kammer, in der er steht, mir in die Augen schaut, zuhalte.


Da die Alten dem Thron nicht entsagen wollen, bleibt den Nachkommen nur Tötung: Mord oder Selbstmord.


"Was werdet ihr tun, wenn ihr diese Wand frei bezwingen könnt?" "Das wird noch dauern. Vorläufig sind wir noch angeseilt. Man leitet, vielmehr zieht uns nach oben. Jene haben es schon geschafft. Das Seil ist immer straff."


Ich nehme die Tonpuppe in die Hände. Sie bewegt sich. Ich erschrecke. "Sie ist gefüllt mit gekörntem Menschenblut. Sobald jemand die Puppe in die Hände nimmt, fliesst das Blut, fängt sie an sich zu bewegen." Ich lege die Puppe zurück. "Ob sie läuft, wenn man sie lange genug festhält?" "Ich habe sie noch nie laufen sehen."


Alle Spiegel, alles, worin wir uns erblicken könnten, haben wir vernichtet, unzugänglich gemacht. Um auch die letzte Möglichkeit des sich Sehens auszuschliessen, stechen wir allen die Augen aus. Die Wege, seit Generationen dieselben, längst ausgetreten, liegen uns ja im Blut. Gleich nach der Geburt stechen wir allen die Augen aus. Wir lernen unsere Sprache. Sie kennt keine Fragen und also keine Antworten. Das dämmert mir jetzt erst. Wir achten auf den Tonfall. Genau. Denen die behaupten, sie hörten etwas anderes als das Erlernte, etwas das niemand je sagen könnte - sie nehmen unsere Hand, klopfen damit auf ihre Brust: "Hier!" -, sagen wir: "Es gibt keinen weiteren in dir. Jene Klänge gibt es nicht." Wir müssen es oft beweisen.


Ihre Eleven kommen jeden Tag. Ihr Oberkörper ist mager. Sie trägt rosa Beinwärmer, ein schwarzes durchsichtiges Kleid. Wenn sie den Eleven zeigt, wie das Bein aus dem Becken kommt, hebt sie den Rock, steckt ihn in die schwarze Strumpfhose. Ihr Tanz ist nicht von der Musik erfüllt, erfüllt sie nicht. Die Eleven kleben an ihren Lippen, ihren Bewegungen. Das blaue Treppenhaus ist unbeleuchtet. Ihr blasser Mann spielt Klavier. Sein Haar ist schütter, seine Augen sind rot umrändert, die Hände mager. Sie bereiten die Eleven für den grossen Auftritt hier vor. "Couper. Ballonner. Jetter. Sisson. Sisson." Einmal habe ich sie tanzen sehen, bildschön in weissem Kleid.
"Fische", sagt sie, "nur noch Reste von Fischen. Gräten. Die Katze kam und frass sie von der Bühne." Sie lacht. "Haha!", entblösst die Zähne. "Ha!"

***

Hier wurde er geboren, ihr grosser Sohn. Er starb in der Fremde. Gestalten hocken vor dem Tor zum grünen Park, reissen mit aufgedunsenen Fingern die Eintrittskarten ab, schauen nicht auf.

Sie setzen uns auf Klappstühle im Salon. Wir sind Ehrengäste. Drei. Der Flügel steht offen. Der Pianist kommt. Schwarzer Anzug, schwarze Fliege. Er wird Seine Musik für uns spielen. "Alle spielen Seine Musik", erklären sie uns. Der Pianist nimmt das Papier, auf dem die Nummern stehen, die er für uns spielen soll, zerknüllt das Papier, steckt es in die Hosentasche. Geht an den Flügel. Spielt. Steht auf. Sein Gesicht ist rot. Verneigt sich. Eine Schwarzgekleidete reicht ihm Blumen. Wieder verneigt er sich, geht. Die Schwarzgekleidete klappt den Flügel zu, schliesst ihn ab - Steinway -, klappt unsere Stühle zusammen, trägt sie weg.

Sie führen uns noch durch den Park. Fahren uns dann zu einem ehemaligen Palast noch vor der Stadt. Hier wird das Essen aufgetragen werden. Die Gastgeber, wir haben sie noch nicht gesehen, werden nicht dabei sein. Wir werden mit dem Taxifahrer und der uns zugestellten Dame essen.

Es ist ein alter Palast. Er wird renoviert, wie alles und immer hier. Das Material ist immer unzulänglich. Jeweils die morschesten Stellen werden geflickt. Wir sitzen auf einer Bank in der Halle, warten. Aus der Hintertür, über die geräumige Terrasse hinweg, führt ein trockener ockerer Weg. Seine grünen Ufer verschmelzen weit weit weg.

Wir gehen die Treppe hoch, durchqueren einen Saal mit gedeckten Tischen. "Nein, nicht hier." Ab und zu waren müde Frauen mit Liegestühlen und Handtüchern über die Terrasse in die Halle gekommen, nach oben gegangen; auf ihren Gesichtern ein Abklatsch von Glut. Wir betreten ein braun getäfeltes Separee. Der ovale Tisch mit der weissen damastenen Tischdecke ist für uns gedeckt. Es gibt nichts zu trinken. Nicht einmal Wasser.

"Sie sehen traurig aus."
"Die Trauerzeit ist längst vorbei."
"Sie haben den Schlag nie ganz überwunden."

"Wir können diese Paläste nicht mehr führen. Sie existieren. Wir hängen an ihnen. Ihre Grösse ermüdet uns. Wir bewundern sie. Ihre Grösse erhebt uns. Es gibt kein Personal. Wir verschachern unser Leben nur um sie zu erhalten. Sie sind alles, was wir haben."
"Diese Konstruktion ist ein raffiniertes Perpetuum mobile. Alles dafür Ausgegebene ist vergeben. Alles, was ausserhalb dieser Konstruktion unsere Zuwendung auf sich zöge, entzöge ihr die so nötige Stärke."

"Die Alte mit der babyrosa Stickjacke kommt tänzelnd auf mich zu: 'Money, Money, Money.' Ihre Strümpfe ringeln sich um die dürren alten Beine. Die weissen Halbschuhe sind abgestossen, schief- und ausgelatscht: 'Ich spreche alle Sprachen, tralalala!' Ihr rötliches Haar ist spillerig, ihre Haut weisslich ledern. Sie setzt sich. Schminkt sich die dünnen Lippen sehr rot, die Wangen rosa, die Linien der Augenbrauen braun. Presst die Lippen aufeinander.
Der Teller fällt mir aus den Händen.
Am Hintereingang diese zerbrochenen Menschen nach Menschen.
Ich darf da schlafen. Am Morgen fragen sie mich: 'Wenn Sie nur diesen Raum hätten, was täten Sie dann?' Ich nehme meine Tasche. Gehe."

Wir bedeuten uns nicht wirklich etwas. Man bringt Fleisch, Gemüse, Kartoffeln und Kirschen. "Langen Sie zu!"
Um die Kirschkerne herum ziehen sich meine Wangen zusammen.

"Tote zwingen den anderen ihren Tod zu sterben."
"Und abends die 'Floorshow', beklatscht, bejubelt."
"Die Zeit steht lange schon still."
"Doch verfällt das Material weiter."
"Die Fassaden, eilig von den Siegern hochgezogen, bröckeln ab, fallen auf die Strasse. Es hat schon Tote gegeben. Jetzt laufen die Bürger dieser Stadt durch Brettergänge."
"Morgens gehe ich auf Zehenspitzen durch die gipsernen Marmorgänge, entlang all den zuen Türen, Doppeltüren, über die roten Läufer. Auf dem Stuhl bei der Treppe sitzt die Etagenwärterin, den Kopf auf der Brust, die Hände ineinander gefaltet, eingenickt.
Morgens schon treffen mich auf den Strassen Schmerzen unter verspannt welkender Haut. Ganze Prozessionen schwarzer Röcke, Kleider, Strümpfe. Mit schräg gesenkten Häuptern wird das Leid unter endloser dumpf dröhnender Klage durch die Strassen getragen."
"Rote Rosen, rote Lippen, roter Wein..."
"Läuft wie aufgezogen. Schüttelt starr den Kopf. Schreit, schreit, spuckt aus. Dicke Schweissperlen stehen auf seinem Gesicht, seinem Nacken. Gegen Abend sehe ich ihn zurücklaufen. Noch immer schüttelt er starr den Kopf, weniger heftig. Noch immer schreit er, spuckt aus. Sein Hemd ist nass.
Sichtbar anwesend, ist doch keiner zu erreichen.
Und diese chronische Unfähigkeit auch die geringsten Bewegungen auf einander abzustimmen."

"Warum sind Sie zurückgekommen."
"Ich bin wiedergekehrt."
"Sie wissen, dass die Strassen dieser Stadt von Beklemmung - vergiftender Beklemmung von allen Seiten her - durchdrungen sind."
"Ich weiss es erst seit heute."
"Sie wissen es seit je."
"Es hätte Täuschung sein können, oder zeitlich begrenzt."

Schlimm, die Pausen, die in Stummheit enden.

"Er gibt seinen eingeborenen Sohn. Das finden wir ganz in Ordnung.
Wenn nun der Sohn den Vater gäbe? Die Tochter die Mutter?
Ich musste jedes Mal von neuem den tiefen Widerspruch in mir mundtot machen, machte ihn mundtot.
Ich nehme dreimal pro Tag den Hörer ab: ich bin noch angeschlossen. Ich halte Ausschau. Ich hatte gesagt, ich sei nicht da. Wen erwarte ich?
Ich schreibe den Brief dreimal von neuem, lese ihn noch einmal durch. Da steht nichts Wesentliches. Ich zerreisse ihn."

"'Herr', sage ich, 'ich habe das Leben probiert, so waren seine Linien nicht gut, so auch nicht. Bitte, geben Sie mir noch eine Lebensschicht.' 'Nein', sagt der Herr, 'es gibt nur diese eine. Du weisst das.' 'Und diese Kratzer?' Er zuckt mit den Achseln."

"Es muss so gewesen sein, dass der, der das Bild angefangen hatte, entweder nicht wusste, was er darstellen sollte, oder unterbrochen worden war. Oder die Wand verschob sich, wurde verschoben. Was da stand, vermittelte, trotz Ansätzen von Perspektiven und manchmal gar nicht schlechter Proportionen, nicht die ersehnte absolute Aussage. Vielleicht malten zwei an derselben Wand, sahen einander aber nicht, wussten nichts voneinander, sahen nur das Blossgelegte, das Aufgetragene: das jeweilige Resultat. Es schien und scheint äusserst wichtig, dass gerade dieses Bild zustande gebracht würde, werde, freigelegt würde, werde. Was diese zwei Möglichkeiten betrifft, klafften und klaffen die Meinungen auseinander. Der Auftrag lautete und lautet noch immer: fertig stellen. Wie, wusste, weiss niemand. Kühne, auch kahle Vorstellungen gab, gibt es. Da also vermutet wird, dass immer zwei daran gearbeitet hatten, wie könnte man die Kluft sonst erklären, wurden auch jetzt wieder zwei auserwählt. Die Wahl war wie immer, soweit sich das zurückverfolgen lässt, willkürlich. Der eine soll auftragen, der andere aufdecken. Von Zusammenarbeit kann keine Rede sein. Und immer wieder kommen sie an die Grenzen des ihnen zur Verfügung stehenden Materials, ihrer Kräfte und Zeit, die allerdings nicht gleichzeitig erschöpft zu sein brauchen."

"Wir schaffen uns Masken, Leiber, Glieder. Biegen das spröde Material, soweit es geht, uns nach. Jetzt probieren wir so zu laufen wie jene, könnten sie es, laufen müssten. Schütteln ihnen die drahtigen Hände, tanzen mit ihnen durch die Strassen.
Als ich A gestern meine Hand reichen wollte, Sie werden es nicht glauben, unterwegs fühlte ich, dass etwas mit der Hand nicht stimmte. Sie war weiss, die Finger hingen plump und steif nach unten. Sie hing nur noch an einem schmalen Streifen, riss am Handgelenk ab. Und kein Handteller, nur der Rücken. Papier! Schlampige Arbeit! durchfuhr es mich. Wenn A jetzt meine Hand nimmt, reisst er sie ab. Zurückziehen kann ich sie auch nicht mehr. Schon die geringste Bewegung. So blieb ich stehen. Hielt mich zusammen. Lächelte."

"'Wen tragt ihr hier zu Grabe', fragt die Frau und richtet sich auf.
'Dich.'"

"Weiter nichts, ja?" Wir erheben uns. Sie fahren uns zurück in die Stadt.


Die hohe Halle. Ich zittere. Hier soll der Empfang stattfinden. Herren in grauen Anzügen. Einer spricht. Wer er ist, ist nicht ganz deutlich: "Es ist uns eine grosse Ehre!" Händegeschüttel unter Lächeln in undurchdringlichen Gesichtern voller Schweissperlen. Rote Rosen, trockenes Händegewasche, geschäftiges nichtssagendes Hin und Her, Rotwein.
"Das ist..."
"Aufwiedersehen."
Einer verbeugt sich.
Einer lächelt.
Einer geht.
Gesichter, deren Namen auf halbem Weg zum Ohr verschallen.
Ich frage einen: "Wer ist er?"
Die roten Rosen in meiner Hand. Mein Lächeln.
Einer nach dem anderen verschwindet.
Ich verlasse dieses Gebäude. Schmeisse die Rosen in einen Abfalleimer.

Ich verlasse das Hotel, gehe zum Fluss. Die Alte mit der babyrosa Strickjacke kann nicht über den Zustand hinwegtäuschen. Was sie bringt, ist keine lustige Clownerie. Sie schachern, alle, wuchern mit den letzten Fasern ihrer spärlichen Habe, laufen durch die schon morsch werdenden Brettergänge unter dem Aufschlagen der Fassaden hindurch. Östlich des Flusses ist das Elend noch ärger. Und Tag und Nacht das Gedrill der Steinbohrer. Was da wirklich geschieht, ist nicht bekannt. Diese Gänge voller Kuhlen. Braunes Wasser steht in ihnen. Ob sie einfach wieder aufpfropfen auf die einstürzenden Mauern der Sieger? Doch abreissen? Ganz und gar? Haben sie da auch schon Brettergänge? Wohin mit all dem Volk? Und wer lebt da? Wie viele solcher Städte liegen, erstickend, unter unseren Füssen? Wie viele hängen wankend über uns? Reissen durch das Versacken dieser, der darunter liegenden ein.

Diese schwarze Panzerhaut! Ich stosse sie mit dem Fuss an. Sie schaukelt hin und her. Ich verlasse das Flussufer wieder. Der Himmel ist schwer. Ich habe schon einmal solche auf dem Rücken liegende Panzerhaut gesehen, damals, am Strand. Ich gehe zurück in die Stadt. Es laufen nicht mehr viele in diesen aus Not und Nachlässigkeit geborenen, aufgestockten, scheinbar unterirdischen Gängen.

Sie verputzen ihre grauen Gesichter, beschmieren die Lippen mit rotem Lack, die Nägel mit schwarzem, klappern mit den angepinselten langwimprigen Lidern.

In den Trümmern, unter den morschen Brettern, sehe ich den ersten Panzer wühlen. Hier gibt es doch nichts! Überall wühlen schwarze glimmende Panzer.

Im Hotel belagern Scharen weisser Leiber, in glatte Stoffe gepresst, die Räume. Zu viert, fünft schieben sie ihre vollen Busen und prallen Hintern an die Tische der Ärmsten sogar, heben die Röcke, halten die Taschen gut fest.
Ich gehe über die roten Läufer durch die endlosen Gänge. Männer polieren die gipsernen Säulen. Ich erreiche mein Zimmer. Ich habe Hunger. Die linke Hälfte meines Kopfes ist unter dem Haar voller schwarzer Schuppen. Ich kämme sie ohne allzu grossen Ekel aus.

Der Speisesaal. Hier gibt es Essen und Trinken. In weissem Kleid mit Schleppe schneidet die Braut die Hochzeitstorte an. Musik spielt auf, hämisches Lächeln huscht über die Gesichter.
"Rote Rosen, rote Lippen, roter Wein" - Glitterkleider, Lachen, Klatschen. Auch hier die Huren. - "laden dich ein, laden dich ein."
Mit übereifrigem Schwung reissen sie die Körper mit, nicht ganz, irgend etwas bleibt zurück. Hier und da entstehen Risse. Wer nur hier wohnte - wüsste auch. Ich esse, schaue, trinke. Ob zu den Sängern, den Tänzern wirklich durchdringt, was draussen herrscht? Ich kann jeder Zeit hier weg.

Ich lege mich hin. Um halb drei höre ich Glocken, Gesang. Ich verlasse mein Zimmer. Die Gänge sind leer. Die eingenickte Wärterin, der Portier sitzen da mit roter Strieme aus den Nasen.

Die Tür des Hotels steht offen. In der spärlich beleuteten Dunkelheit hier begebe ich mich in die überirdischen Katakomben.
Menschengerippe
ganz abgenagt.
Manche Knochen durchgebissen.
Laufe über das aufgebrochene Pflaster, entlang der eingestürzten Verschalung blindlings immer weiter. Im lehmigen Tagesgrauen unter hängenden herausstechenden Eisenstreben, Schutt sehe ich die angeschlagene Pieta. Aus grünem Stein. Auf den Knien des Mannes liegt die Frau.

Erschöpft stehe ich in der ausgestorbenen Hotelhalle. "War ihr Spaziergang angenehm", fragt mich der Portier, lächelt, leckt sich die Lippen. "Ich habe Tote tanzen sehen. Sie haben keine Wahl. 'Auf immer Dein Friedhelm!', sagte er, und sie lächelte, schlug die Augen nieder. Er drückte sie an sich. Schob ihren weissen Rock unter der Schleppe hoch. Dieses Gegrinse."
"Wissen Sie, ich muss essen. Hier gibt man mir Essen und Trinken. Ich bin nicht so sicher, dass man mir ausserhalb dieses Gebäudes auch Essen und Trinken, eine Schlafstätte gäbe. Für eine Nacht, für zwei, drei, höchstens. Man bezahlt mich hier, kauft sich los, bestimmt mich. Ohne Nahrung komme ich um. Wer gibt schon ohne Gegenleistung? Ich habe mich ihnen verschachert."

Unsere Gesichter, schliesslich doch nur Fahnen und Wimpel, die niemand mehr trägt, an ihren Stangen in die Strasse gesteckt, abgerissen, in die Gosse geschmissen. Wann werden wir wach? Wenn der kühle Morgennebel über uns aufzieht, wenn er zerreisst? Woher kommt das Gefühl ewig zu leben.

Auf einmal ist sein Gesicht sehr klein, verbreitet sich bitter säuerlicher Rückzugsgeruch. Draussen läuft, auf Krücken gestützt, der Mann mit den zwei Gehirnen vorbei. Rostrot, bei jedem Schritt wabbelnd, überwuchert die denkende Masse seinen Kopf.

"Sie können bleiben, ich regele das für Sie." "Ich kann Sie nicht bezahlen." Er leckt sich die Lippen, geht nach oben, winkt mit dem Kopf. Grinst. Der Läufer dämpft seine Schritte.

Ich gehe. Das ist kein freiwilliger Entschluss, nur scheinbar. Wenn weder Tod noch Geburt freiwillig sind, wie dann von uns gefällte Entschlüsse.
Klebrige erschreckte Blicke werfen sich auf mich. Sie schliessen die Türen.

Diese Augen: tiefliegende Schlitze in starrer Maske. Ab und zu schreit es aus der Maske.

Annonce: Seit heute um 11 Uhr bin ich tot. Ich bitte die, die mir lieb waren, denen ich lieb war, beim Leichenschmaus Abschied von mir zu nehmen.
Ich richte den Raum, decke die Tische. Schlachte mein Letztes aus. Am späten Nachmittag verlasse ich den Raum, den unangerührten Schmaus. Ich setze die Flasche an den Hals. Keine Kerze hat gebrannt. Im Treppenhaus kommen mir Ratten entgegen.

Ich verweile noch lange vor der Statue der Mutter, wasche ihr still das geronnene Blut ab.

Seit ich denken kann, begebe ich mich an meine Plätze des Sterbens. Da angekommen, weiss ich: hier geschieht.

Die Stube ist nicht erleuchtet. Sie sitzt da, halb verdeckt von den schweren Vorhängen. Ihre Hand stützt das Kinn. Ihre Haut ist verschrumpelt.


Ich komme an. Keine Hand, die sich mir entgegenstreckt. Ich gehe.

***

Sie ziehen die Plane vom Wagen, der Wind ist steif, der Berg steil. Die Alte, die da leblos und dürr gelegen hatte, ist weg.

Liegt da, als gehöre sie zu der gelben Umgebung, blasses indisches Gelb. Sie richtet sich auf. Sie hatten sie verloren. Wie viele Tagereisen mochten sie schon weiter sein? Ihr Gesicht ist vertikal zerfurcht, auch die Nase. Gelb, zerklüftet wie die karge Landschaft steht sie da. In ihr die Ferne des Geliebten. Was es ist, weiss sie nicht. Es ist. Sie ist müde. Der kalte Wind. Die klare gelbe Luft: durchsichtige Erde.

Aus dem Gehöft zu ihrer Rechten kommt eine Frau, fasst sie am Arm, nimmt sie mit ins Haus. Jetzt erst spürt sie die Kälte. Die Frau wickelt die Alte in eine Decke, legt sie in eine warme Ecke des Hauses. So eingehüllt, ganz in sich, nebelt sie weg. Abends, als alle am Tisch sitzen, holt die Frau das schlafende Bündel, zeigt es ihren Leuten. Es ist gut. Die Alte kommt zu Kräften. "Ein Gehöft in solch karger Gegend?" "Unsere Vorfahren hatten den Bach gefunden, zunächst ihre Zelte aufgeschlagen." Von aussen ist das Gehöft nicht von der Landschaft zu unterscheiden.

***

Der Schmerz raubt mir nicht den Verstand. Es ist als öffne sich mein Kopf nach hinten. Ich fasse nicht hin.

Er reicht mir meinen Pass: "Es gibt kein wieder Her." "Ich weiss."

 

Februar 1984

index prosa