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DER SÜDEN

© Sabine Vess

 

Jene Woche. Das Jahr ist fast um.

 

Den ganzen Tag über ist niemand da. Und dann bin ich wieder allein.
Kurz haben wir uns wieder gesehen. Unsere tägliche Gemeinschaftsstunde. Wir setzen uns zu Tisch. Auf dem Tisch steht Essen und Trinken. Wir stopfen das Essen, schütten das Trinken in uns hinein, bewegen die Lippen, lächeln. Stossen Laute aus. Alle gleichzeitig. Wir haben ja nur diese eine Stunde um Laute vor einander auszustossen. Hier. Hier. Ich. Mein. Mein. Ich.
Irgendwann schrie ich. Es presste sich aus mir heraus.
Nach einer Stunde erheben wir uns. Wischen uns die Lippen ab.
Am nächsten Tag zur festgesetzten Stunde setzen wir uns wieder zu Tisch.

Ich kann mich frei bewegen. Mein Fenster schaut auf die Strasse. Leute gehen vorüber. Ich darf raus, darf alles tun.

Einmal pro Jahr fliegen wir in den Süden. Leben da. Eine Woche lang. Da gibt es strahlende Sonne tage-, wochenlang hintereinander, blaue klare Hitze, weisse Strände und Meer. Wir haben dafür nie länger als eine Woche Zeit.

Meer gibt es hier auch, weisse Strände auch, strahlende Sonne jedoch kaum. Diese blaue klare Hitze. Unser Himmel ist nur selten blau. Er ist grau. Und der Wind peitscht das Wasser, das aus ihm fällt, übers Land.

Die Menschen hier tragen immer etliche Hüllen um ihre Leiber geschlungen. Der Regen soll nicht auf ihre Haut schlagen, die Kälte sie nicht befangen. Manche Hüllen scheinen wie mit der Haut verwachsen. Tag für Tag stecken sie in ihnen. Sie können sie sicher nicht mehr abstreifen. Ihre Bewegungen sind steif, ihre Gesichter straff zu. Und immer müssen sie sich gegen den nassen Wind stemmen. Auch ich trage diese Hüllen. Manchmal streife ich nur rasch die oberste über. Wer hier lebt, muss so leben, muss sich schützen.

Wenn die Sonne wie jetzt ein paar Tage blass scheint, lege ich mich nackt in den kleinen Garten hinterm Haus zwischen Wegerich und Kamille und Salbei und Klee.

Was die anderen tun, weiss ich nicht. Man schaut nicht in Anderer Räume. Hohe Zäune und Mauern umgeben unsere Gärten. Sie hatten mich gefragt, ob ich nichts dagegen hätte, wenn sie ihre Zäune und Mauern errichteten. Ich hatte nichts dagegen. Ihre Gärten wären straff und glatt und ohne Kamille und Salbei, ohne Wegerich und Klee, hatten sie mir gesagt.

An Sonnentagen, diesen seltenen, lassen die Menschen hier immer mehr Hüllen weg. Die unterste, die sicher schon mit ihrer Haut verwachsen ist, ist grau und nicht allzu appetitlich. Manchmal tragen sie eine farbige Bluse, ohne Ärmel, oder eine mit Blümchen darüber. Die grauen Trägerbändchen der untersten Hülle rutschen immer wieder von den Schultern, hängen über den Oberarmen. Die Arme sind unförmig, fahl, haben Pickel. Brutal werden sie Sonne und Luft ausgesetzt: Seid frei! Die fahle lasche Haut wird rot. Schieben sie die Trägerbändchen wieder nach oben, unter die Bluse, sind da graue Streifen im Rot.

Manche empfinden die Sonne, die Wärme als Last. Es sieht so aus. Als drücke sie etwas erbarmungslos zu Boden. Ächzend, mit schmerzverzerrten roten Gesichtern, schleppen sie ihre Leiber durch die Strassen. Dabei ist diese Sonne, diese Wärme, nur ein Abklatsch, verglichen mit der im Süden. Diese Hitze, sagen sie und fegen mit dem Handrücken über die Stirn. Grüssen sie einander, pusten sie erst die Hitze vor sich weg, weichen etwas zurück.

Ich bin mir nicht so sicher, dass sie unglücklich sind. Ich sehe ja nur ihre Bewegungen, sehe, wie sie sich zeigen, einander, mir, höre ihre Laute. Wie der Regen peitschen ihre Laute mein Gesicht. Ich weiss auch nicht, wie, was sie fühlen. Vielleicht sind sie ganz glücklich so. Zufrieden. Ich kann ihre Bewegungen nicht wirklich nachempfinden. Begreife sie nicht. Weiss nicht, wie, wo sie in ihnen entstehen. Eigentlich weiss ich nichts von ihnen, diesen Menschen hier, mit, nein, bei denen ich schon so lange lebe. Jahrelang bewegte ich mich wie sie. Das dachte ich. Alles tat weh.

Ich wohne schon so lange hier. Davor wohnte ich woanders und davor wieder und davor wieder und davor, davor...

Meine Vorfahren zogen herum. Sie waren auf der Suche nach dem Ursprung der Bewegungen. Zogen immer wieder los. Auch ich bin wieder losgezogen.

Wir kommen irgendwo hin und schauen uns die Bewegungen der Menschen an. Wir machen sie nach. Da wir über ihr Entstehen nichts wissen, sie nicht in uns fühlen, kommen wir über Posen und Possen nicht hinaus. Gut so! Gut so! rufen die Leute, geben uns Essen und Trinken. Aber wir gehören nicht wirklich dazu. Dann langweilen uns die Posen und Possen. Es kommt auch niemand mehr. Wir ziehen weiter. So lebten wir Generationen lang. Es fiel uns nicht schwer weiterzuziehen. Wir hatten ja nichts, das uns hätte festhalten können, keine Möbel, nichts. Nur uns selbst, ein paar Utensilien.

Wir haben keine Vergangenheit, keine, die irgendwo noch Wurzeln hat. Nirgendwo haben wir Wurzeln geschlagen. Wir nähren uns nicht aus der Erde, die uns umgibt. Darum wissen wir auch nichts über Bewegungen, nicht wirklich, darum vielleicht. Darum starren wir die Menschen so an. Wir müssen sehen, wie Bewegungen gemacht werden. Gern wüssten wir, wie sie entstehen.

Unser Ursprung ist verwüstet. Seit langem schon. Nur zwei konnten sich retten, zwei die nicht mehr fragen konnten: Wie? Sag uns wie! Sie standen in Trümmern und sahen Menschen laufen. Auch sie wollten das tun. Fest standen sie in den Trümmern, wussten nicht, wie sie das eine Bein vor das andere setzen mussten. Rissen schliesslich das eine Bein mit ihren Händen aus den Trümmern und setzten es ein Stückchen weiter wieder rein in die Trümmer. Und dann das andere. Oft konnten sie ihr Gleichgewicht nur unter verzweifelter Anstrengung halten. Es muss lächerlich ausgesehen haben. Es war blutiger Ernst. Ihre Gesichter verrieten das. Lange übten sie. Dann schafften sie es ohne Hände. Ein wenig steif liefen sie, ja. Noch nie hat jemand von uns Bewegungen gefühlt. Oder?
Seit diese Zwei in den Trümmern standen, sind wir auf Suche, üben Bewegungen nach Vorbildern. Seitdem trinken wir.

Es gab Männer unter uns, auch Frauen - doch das will niemand wahrhaben. Es gab Männer unter uns, die nicht nur gut nachahmen konnten, immer wieder schauten, immer wieder übten. Mit ihren scharfen Blicken bohrten sie Löcher in die Menschen, taten verzweifelt nach. Legten dabei beide Hände auf den eigenen Leib, tasteten die eigenen Bewegungen ab. Irr wurden sie im Kopf. Sie konnten die Bewegungen nicht fühlen. Oder fühlten sie sie und konnten es nicht ertragen? Nicht - in Worte - fassen? Den anderen nicht deutlich machen? Wollten nicht als Scharlatane, als Hochstapler ausgestossen werden? Irr wurden sie im Kopf. Schlugen mit dem Kopf gegen die Wand. Griffen zur Flasche. Schütteten den billigen Fusel, den miesen Rotwein literweise in sich hinein. Bis sie krank wurden von dem Zeug. Kotzten. Wie erschlagen irgendwo liegen blieben. Zurückkamen. Aus dem Sumpf. Niemand sagte etwas. Was war mit ihnen geschehen? In ihrem Quartalssuff. Sprachen sie? Lallten? Vom Fühlen der Bewegungen? Wagten es? Wieder nüchtern, wussten sie nichts mehr davon. Ahnten nur noch. Mussten von vorn anfangen mit ihrer Suche. Nichts konnten sie mehr erzählen. Und die anderen schwiegen. Mehr weiss ich nicht. Nur das. Eine alte Tante hat's erzählt. Von ihr wurde gesagt, dass sie Karten legen konnte, aus der Hand lesen konnte. Sie hat es bei uns nie getan, wurde böse, wenn wir es auch nur erwähnten. Dann zogen sie in eine andere Stadt. Die ganze Sippschaft. In jeder Stadt gab es ganze Truppen solch Suchender. Man schloss sich ihnen an. Abends in Zelten, manchmal in einem festen Haus führten sie den Einwohnern der Stadt vor, wie weit sie es schon geschafft hatten.

Es war eine komische Tante, die das alles erzählt hat. Sie sah aus wie ein Raubvogel. Hatte grosse Ohren mit Klunkern dran. Ihr Leben lang gehörte sie Truppen solch Suchender an. Sie sass unter den Brettern. In einem Kabäuschen. Das war schon in einem festen Haus. Alle Spieler oben auf den Brettern konnten sie sehen. Im Winter trug sie einen abgewetzten Kaninchenmantel, denn in dem Kabäuschen war es kalt. Sie hatte immer einen Schnaps neben sich stehen. Da sass sie, sagte das Leben vor, denn die, die da oben auf den Brettern dieses so eingeübte Leben brachten, wussten manchmal nicht mehr, wo sie waren, welche Laute sie ausstossen mussten. Mittendrin blieben sie stecken. Da standen sie. Stumm. Schauten zu der komischen Alten. Die machte das Zeichen, flüsterte die Worte und weiter ging's. Komische Geschichten hat sie erzählt. Es war ja nicht so, dass sie wusste, wie und wo die Bewegungen, die Laute entstehen, sie wusste den Verlauf, hatte ein Papier vor sich. Auf dem stand alles. Ganz am Anfang hatte auch sie da oben gestanden. Später hatte sie Star und dicke Brillengläser, aber die Stichworte wusste sie auch so. Es war ja immer dasselbe Stück, vielleicht noch ein zweites, ein drittes. Lange wurden sie gespielt. Immer auf dieselbe Art und Weise. Der Verlauf war immer derselbe.
Schaut! Schaut! wie weit wir schon sind! Bravo! Bravo! riefen die Leute. Klatschten. Schmissen Blumen. Gaben Geld. Klatschten. Sie fanden es so komisch, so amüsant, so tragisch, so weit von ihrem eigenen Leben entfernt. Einen guten Abend hatten wir ihnen besorgt.

Über Po und Bauch war der Kaninchenmantel vollkommen kahl.

Wir sind noch zu dritt. Drei Geschwister. Keine Einheit mehr. Haben uns getrennt. Sprechen nicht mehr dieselbe Sprache. Kommen nicht mehr zurück - wohin auch - nach durchsumpfter Zeit. Niemand von uns zieht mehr weiter in fremde Städte, in Fremder Städte: die Schmiere ist tot!

Wurzeln sollten wir schlagen. Mit Verwurzelten verbanden wir uns. Schluss mit dem elenden Leben des immer wieder Abschauens, Nachahmens, Vorführens, dem Hausen in möblierten Zimmern. Leben wie alle anderen!

Ich habe es nicht geschafft.

Ich ging in eine Umgebung, die mir ganz fremd war, wo man nichts von meiner Abkunft wusste, wollte alles so tun, wie man es in dieser Umgebung tut. Wollte ich den anderen, mir vielleicht beweisen, wie perfekt ich das Abschauen, das Nachahmen beherrschte? Wollte ich vielleicht vergessen? Ich kann heute nicht mehr genau aufspüren, wie ich das damals empfand, darüber dachte. Diese Frage kommt erst jetzt in mir auf.

Ich nahm die Bewegungen, die Laute der neuen Umgebung an. Tat sie nach. Meine Augen waren ja geschult, meine Ohren: mein einziges Erbe. Das wusste ich damals noch nicht. Aber ich zitterte jeden Tag. Vor Angst. Angst etwas nicht perfekt zu beherrschen. Angst etwas auszulassen. Angst etwas zu tun, das nicht gefragt war. Angst entdeckt zu werden. Und ich wurde perfekt. Und ich zitterte noch immer. Keinen Fehler machen, nur keinen Fehler machen! Und ich lächelte schmerzhaft. Diese äusserste Anstrengung, die das perfekte Nachahmen kostet. Ich fühle ja den Kodex nicht in mir. Nein. Abschauen, üben, bis die Bewegungen von selbst, mechanisch ablaufen, wie gezeigt. Nichts darf mich ablenken, nichts mich so gefangen halten, dass ich aus der Spur gerate. Bliebe ich, vergessen, stecken - ich habe keine Souffleuse. Guten Morgen! Wie geht es? Danke, ausgezeichnet! Guten Morgen! Sie klopften mir auf die Schulter und sagten: Gar nicht so schlecht. Es wird schon noch werden. Ich war so dankbar für dieses Schulterklopfen, hatte so gehofft über die Posen und Possen hinauszukommen. Nur lange genug ausharren, üben.

Guten Morgen! lächele ich. Danke, ausgezeichnet! lächele ich. Lächele. Da stehe ich, lächele, lächele. Mir ist kalt, elend. Danke, ausgezeichnet! Ich stelle mich vor den Spiegel. Ich schneide mir das Haar ab. Mit einer Rasierklinge. Erst ein wenig. Ganz kurz. Welche Erleichterung! Kahle! sagen sie zu mir und ich lache. Kahle! Zum ersten Mal sehe ich die wirkliche Form meines Kopfes. Mein Kopf gefällt mir. Und sie fragen mich: Warum? aber sagen: Mit deinem Kopf kannst du das so tragen. Und ich lache. Seit jenem ersten Mal trage ich das Haar kurz und jedes Mal, wenn ich mich vor den Spiegel stelle und sehe, dass mein Haar meinen Kopf zu überwuchern droht, schneide ich es ab. Sie brauchen nur zu sagen: Schönes Haar hast du. Schon greife ich zur Rasierklinge.

Damals fing ich wieder an zu zeichnen. Monstren! sagten sie und: Warum zeichnest du nicht etwas Liebes, Schönes, Behagendes in derselben Zeit, sagten sie.

Ich ging nicht nur in eine fremde Stadt, eine fremde Umgebung. Ich ging in ein fremdes Land, zog eine tatsächliche Grenze zwischen meine Vergangenheit und meine Zukunft. Ich lernte die Sprache dieses Landes. Meine ursprüngliche benutzte ich nicht mehr. Das war nicht so schlimm. Der Sprache meiner Kindheit fühlte ich mich nicht wirklich verbunden. Ich fühlte sie nicht in mir. Ich hatte sie auswendig gelernt, buchstabierte, sagte auf. Ich begriff nicht, ich nahm an. Was sollte ich begreifen? Wie? Worte liessen mich unberührt, vergingen mir. Was durchkam war nur schwach, zu schwach um bewegen zu können. Lose Buchstaben. Manchmal war da ein Beben in mir, ganz tief. Wenn ich verwirrt darüber davon sprach, fragte: Was ist das da in mir? sagte mein Vater mit straffem Gesicht: Das ist nichts. Das gibt es nicht. Das bringt nur Unruhe. Weiter nichts. Warum sollte ich ihm nicht glauben? Wer will denn Unruhe? Schon er hatte sich mit einer Verwurzelten verbunden.
Der Krieg. Ihre Erde war verwüstet, gehörte ihnen nicht länger. Sie mussten weg. Hatten nur noch die Kleider an ihren Leibern und ihre Kinder. In der Fremde mussten sie abschauen. Ihre Augen waren zulange nicht mehr geschult. Sie schauten nicht mehr ab. Die Alten auf alle Fälle nicht mehr. Blieben unter sich. Sprachen von damals vor dem Krieg.

Es war nicht so wichtig für mich, in jener Zeit, in welcher Sprache ich sprach, meine nichts sagenden Briefe schrieb. Es waren ja nur Blätter mit Strichen, Kringeln und Punkten: Ich bin noch da.

Vieles hat sich in letzter Zeit geändert, ändert sich. Ich kann Bewegungen fühlen, kann sie zurückverfolgen, fühle, wie sie zerbröckeln, sterben, kraftlos geworden liegen bleiben. Es erschüttert mich jedes Mal aufs neue. Fesselt, berauscht mich. Als ich zum ersten Mal fühlte, begriff dass ich Bewegungen fühlen konnte, dachte ich, ich wäre irr. Ob ich ihren Ursprung, ihr Entstehen fühle? Ich komme in schmerzhafte Gebiete. Mein Inneres muss heiss sein, flüssig. Wasser fällt aus meinen Augen. Heisses Wasser. Strömt mir übers Gesicht. Mein Leib bebt. Als das zum ersten Mal geschah, wusste ich nicht, was mit mir los war. Ich wusste, dass das Tränen sind. Ich hatte sie oft bei anderen Menschen gesehen. In Filmen. Dass auch ich Tränen hatte, dass sie meinen Leib so erschütterten, so heftig. Und heiss strömten sie mir übers Gesicht. Und jetzt wusste ich, dass all meine bisher gemachten Bewegungen nicht meine waren. Ja, ich hatte sie gemacht, aber sie waren nur abgeschaut, nur angenommen, jeweils so vorgeschrieben, mussten so gemacht werden, waren perfekt, auswendig. Ich hatte keine Frage.

 

Dann nahm ich das Buch aus dem Bücherschrank meines Vaters. Ich lebte schon lange hier. Es war mir nie aufgefallen. Es fesselte mich von Anfang an. Und ich begegnete einem Menschen, bei dem ich keine Angst hatte etwas nicht perfekt zu können. Meine Bewegungen waren geschmeidig, ganz selbstverständlich. Unser Kennen war nur kurz.

Ich las das Buch, fühlte, was der Mann da geschrieben hatte, fühlte die Bewegungen seiner Menschen in mir, sah vor mir in glänzenden goldenen Masken erstarrende Züge, schmeckte Verwesung. Ich las das Buch wieder und wieder. Ich wollte zu ihm, wollte ihn fragen: Wo haben Sie das gefunden? Dieser Mann war tot. In jenem Krieg hatte man ihn, sein ganzes Volk, hatte mein Volk sein ganzes Volk abgeschlachtet, verbrannt, ihre Stätten verwüstet. Die, die davongekommen waren, waren weggezogen; in andere Länder, in Anderer Länder. Das passiert ihnen immer wieder, solange dieses Volk sich erinnern kann. Seine Menschen lebten immer in der Fremde. Die Fremde sperrte sich ihnen, schloss sie aus. Man liess sie doch nicht zu.

Und während ich doch hier bin, mit meinem Lächeln, meinem Guten Morgen! klingen seine Worte, bewegen seine Menschen stets heftiger in mir. Ich spüre, wie Tag und Nacht in mir gearbeitet wird. Trunken setze ich mich, ziehe zeichnend nach, was da steht. Taste ab. Lege bloss. Begebe mich in sein Land; allein. Erschöpft vom Tagesmarsch sitze ich da. Es hallt in mir. Dieses Hallen! Und es schwemmt aus mir heraus. Augen, Hände, Leiber, ganze Stapel liegen sie vor mir, durchtränkt von seinem, von meinem Blut, dem Blute seiner und meiner Menschen. Zusammengetrommelt, versengt von schwarzem Rhythmus, liegen sie, ihre letzten Züge noch hochhaltend, auf meinem Weg. Und in der Dämmerung dringe ich unaufhaltsam durch die Spuren dieser Bewegungen hindurch. Wir stehen Auge in Auge. Es ist schmerzhaft. Zwischen uns der Tod. Trauer, unentwegter verzweifelter Tanz am äussersten Rand. Hände, die doch nicht berühren (können). Entblösste Menschen. Es gibt kein Zurück. Die Wege führen durch das Dunkel brennender Zeiträume. Noch höre ich das Krachen. Auf den Wegen die Züge der Menschen.

 

Und in ein paar Tagen fliegen wir wieder in den Süden. Was weiss ich schon davon.

Wir leben da auf einem schmalen Streifen Strand, weissem Strand. Der Sand ist heiss. Vor uns das Auf und Ab des Meeres. Hinter uns starr und rot und steil eine zerklüftete Felskette. Unaufhörlich rollt das Meer auf uns zu, klatscht auf den Strand, wird zurückgesogen, klatscht auf.

Ins Meer geht man nicht. Woraus es ist? Es ist Wasser, sagen die Alten. Ein wenig salzig, sagen sie. Und sie sagen, dass man früher rein ging. Aber sie sind schon wirr im Kopf. Jetzt geht niemand mehr rein. Wo das Meer auf den Strand klatscht, den Sand eine Nuance dunkler färbt, läuft niemand. Vögel kreisen draussen überm Meer. Gegen Abend wird das Auf und Ab des Meeres heftiger, nähert es sich mit immer wachsender Wucht den Felsen.

Die Felsen sind zerklüftet. Es ist Sandstein, sagen die schon wirren Alten. Das Meer, die Hitze haben sie so ausgehöhlt, zerfurcht, sagen sie. Liege ich da im heissen Sand, ist mir, als starre ich auf eine Kulisse aus Papier. Hier und da zerfetzt, flattert dieses Papier in der heissen blauen Luft. Ich kenne niemanden, der die Wand je berührt hat.

Die Luft ist klar und blau. Die Sonne? Es gibt keine Sonne. Sie ist nicht zu sehen, nicht zu fixieren. Sie muss überall sein. Es ist eine helle Hitze. Flimmernd, blau, immer weisser werdend, wieder blau. Nichts wirft Schatten.

Wir laufen alle nackt. Sind nackt der hellen Hitze ausgesetzt. Von allen Seiten helle Hitze. Und keine Abkühlung, keine schützende Hülle. Früher ging man ins Meer, ins kühle Meer, sagen die wirren Alten und nicken dabei mit ihren zerfurchten Gesichtern. Noch nie habe ich jemanden reinlaufen sehen. Noch nie. Ab und zu wälzen wir uns im heissen Sand. Die einzige Möglichkeit wenigstens eine Seite des Leibes vor der hellen Hitze zu schützen.

Hier leben wir. Wie wir jedes Mal herkommen? Weiss ich nicht, nicht wirklich.

Irgendwann stehen wir an einer - der - Öffnung in der Felswand. Es herrscht ein fürchterliches Gedränge. Oder bilde ich mir das nur ein? Es tut beinahe weh. Ich bitte Sie! Auch das kann ich nicht mit Sicherheit sagen. Ich weiss auch nicht, wie die anderen das erfahren. Wir sprechen nicht darüber. Dann stehen wir auf dem Strand. Ein wenig benommen. Gehen los.

Der Drang durch die Öffnung in den Felsen hierher zu gelangen muss so gross sein, dass er alles Wissen über das Herkommen löscht. Wir wissen nur, dass wir da sind.

Wir nehmen nichts mit. Auf dem Strand haben wir nichts. Nichts mehr. Manche haben etwas, aber nur so viel, wie sie mit zwei Händen festhalten können. Einen Apfel. Manchen gelingt das.
Ich vermute, dass die Öffnung sehr eng ist.

Und so leben wir hier. Laufen. Schauen aufs Meer. Manchmal auf die Felsen. In die helle Hitze. Sitzen. Liegen im Sand. Wälzen uns. Manche laufen eine Strecke entlang des Meeres, kehren um, kommen zurück. Manche laufen auf der Stelle. Warum auch nicht. Die Felsen, das Meer, die Luft, es ist immer und überall das Gleiche.

Ja, wir sprechen miteinander. Aber die Hitze tastet unsere Worte an, zerfetzt, verschluckt sie. Dass der andere etwas sagt, können wir nur der Bewegung seines Mundes entnehmen. Oft schauen wir gar nicht mehr hin. Es hat keinen Sinn ihm das zu sagen, er würde ja nur die Bewegung unserer Lippen sehen, würde wahrscheinlich denken, wir antworteten, und da er nichts versteht, bestenfalls Fetzen auffängt, ahnt, hören will. Ach. Eine Bestätigung wär's. Wofür? Es hat keinen Sinn. Doch tun wir's. Es könnte ja sein.

Erst laufen wir. Dann stehen wir. Starren aufs Meer. Das Meer rollt auf uns zu. Unsere Leiber beugen sich ihm entgegen, fahren zurück, beugen sich ihm entgegen. Es rollt auf uns zu, klatscht auf, wird zurückgesogen. Aufwallen-Klatsch-Weg. Aufwallen-Klatsch-Weg. Aufwallen. Wir reissen uns los, laufen weiter, bleiben stehen, setzen uns hin, beugen uns dem Meer entgegen, fahren zurück, legen unsere rhythmusprallen Leiber auf den heissen Sand. Klatsch. Weg. Klatsch. Klatsch. Klatsch.

Wir sind zu zweit. Einer hält immer Wacht.

Die Haut verändert sich. Bei manchen wird sie rot, bekommt Bläschen, schwillt. Das sieht scheusslich aus. Spätestens jetzt sollten sie gehen. Wer das nicht tut, ist verloren. Das Erreichen dieses Stadiums ist fatal.

Ich vergass zu erwähnen, dass jeder der auf dem Strand ist, freiwillig hier ist und selbst bestimmt, wie lange er bleibt. Ob er nur eben schaut, den ganzen Tag bleibt, zwei-, dreimal pro Tag kommt, öfter, jeder muss das selbst für sich entscheiden.

Man sollte also schon vor diesem Bläschenstadium wieder umkehren, sich zurück zum Ausgang begeben. Manche erreichen den Ausgang nur noch kriechend. Wer den Ausgang erreicht, egal wie, hat sich für dieses eine Mal gerettet.

Wie irr habe ich sie im Kreis laufen sehen. Ein quälendes Schauspiel. Dann stürzen sie zu Boden, beissen sich fest in den Sand. Tierische Kehllaute, Fetzen davon nehmen wir wahr. Oder bilden wir uns das nur ein? Es schnürt mir die Kehle. Ihre Gesichter, manchmal sehen wir ein winziges Stückchen Gesicht, verzerrt, schmerzhaft verzückt. Und sie beissen sich fester, schlagen ihre entflammten Leiber auf den Sand, wälzen sich.

Man will ja helfen, sie zum Ausgang schleifen. Sie schlagen um sich, stossen uns weg. Schön, stöhnen sie, so schön. Manche haben keine Laute.

Die sich gerade noch rechtzeitig zum Ausgang begeben, haben ja auch gar nicht mehr die Kraft einen schlaffen, geschweige denn einen widerspenstigen Leib hinter sich her zu zerren.

Wir begeben uns immer rechtzeitig zum Ausgang. Immer. Wir sind zu zweit. Einer hält immer Wacht.

Und nach einer Woche fliegen wir wieder in unser Land mit dem grauen schweren Himmel. Auch das darf jeder halten, wie er will, nach einer Woche, zwei, drei Wochen. Jeder muss das selbst für sich entscheiden.

Doch habe ich Angst, dass ich es irgendwann nicht mehr schaffen werde, zu weit weg sein werde, das Aufkommen der Bläschen nicht wahrnehmen werde, der andere zufällig nicht da sein wird mich zu warnen. Da läge ich. Müsste mich wälzen. Meinen Leib auf den Sand schlagen.

Wir begeben uns immer sehr rechtzeitig zum Ausgang.

Und nachts kommt die Flut. Gegen Abend schon grollt das Meer unter ständig sich steigerndem Stampfen und Schluchzen. Alle vierundzwanzig Stunden bäumt es sich auf, sagte man uns, rollt in wütendem Orgasmus auf die Felswand zu, prallt auf, rollt zurück, knallt auf die Wand. Knallt auf die Wand. Reisst alles mit sich mit zurück. Verbrannte, Liegengebliebene, Todgeweihte. Knallt auf die Wand. Wie lange noch ein Funken Leben in ihnen ist, wissen wir nicht. Das rollende Meer reinigt den Strand. Knallt auf die Wand.

Dass das letzte Fünkchen Leben nur langsam erlischt, manchmal auf alle Fälle, entnehmen wir der Tatsache, dass wir Fetzen von in Todesangst Schreienden an an der Felswand klebend, hineingetrieben finden. Früh morgens. Sehr früh.

Sie müssen bei der ersten Berührung mit dem Meer entsetzt wach geworden sein, sich verzweifelt hochgerissen haben, auf die Felswand zu gestürzt sein, sich irgendwie daran festgekrallt haben. Manche Fetzen, Abdrucke befinden sich weit oben. Sie müssen gehofft haben an dieser steilen Wand hochklettern zu können, sich lange genug festklammern zu können. Die Wucht ihres Sprungs, die Wut des rollenden Meeres hat sie zerfetzt, hineingetrieben.

Das kann nur sehen, wer sehr früh zum Strand kommt - die Vögel. Nur wer sehr früh ist, kann hier und da noch Reste dieses nächtlichen Dramas sehen. Das Drama an sich? Wir können uns nur anhand der Reste ausmalen, was geschehen ist - eventuell. Später sind Abdrucke und Furchen der Felsen nicht mehr voneinander zu unterscheiden.

Jedes Mal, wenn wir nach dieser einen Woche wieder in unserem Land sind, dem flachen kühlen unter dem grauen Himmel, sagen wir uns: Nächstes Jahr nicht!

 

1983/3 Revisor: 'Het zuiden' (Übersetzung: Paul Beers/Sabine Vess)
Letzte Korrektur des deutschen Originaltextes August 2020.

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