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BETTLER IN TOTER ZEIT

© Sabine Vess

He! Sie, laufen Sie doch nicht so schnell. Ich habe Sie schon lange beobachtet. Es imponiert mir, wie sie sich bewegen, Ihren Kopf halten. Ehrlich. Ich würde gern mit Ihnen sprechen. Ach, nichts Besonderes. So ganz aus der Nähe gefallen Sie mir noch besser. Ja. Ihre Nase. Ihr Haar. Schön. Darf ich mit meiner Hand kurz über Ihr Haar streichen? Ganz sacht? Ich darf doch kurz Ihren Ärmel anfassen, so, in der Mitte des Oberarmes. Dann kann ich Sie ein wenig nach rechts drehen und zurück und ein wenig nach links... Ich tue Ihnen nichts, will nur schauen.

Ich habe schon lange nicht mehr mit jemandem gesprochen. Bitte, laufen Sie nicht so schnell. Ich komme ganz ausser Atem. Wie soll ich da etwas sagen können. Endlich bin ich in ihrem Gang. Wie Sie laufen! Als fiele die Strasse steil ab. Hier ist doch alles platt. Jeder weiss das. Passen Sie doch auf! Gleich stolpern Sie noch über Ihre eigenen Füsse.

Ich bin Ihnen doch nicht lästig? Oder? Sie brauchen es nur zu sagen, dann, dann lasse ich Sie laufen, bleibe zurück. Sage nichts mehr. Sie brauchen sich auch nicht mehr nach mir umzuschauen, können einfach weiterlaufen, nicht einmal lächeln brauchen Sie. Sehe ich Sie dann nicht mehr - das ist unwichtig für Sie. Vielleicht winke ich noch, das hat aber weiter nichts zu bedeuten. Sie müssten dann schon zurück winken oder mit den Augen zwinkern.

Wissen Sie, wie totgeschlagene Zeit aussieht? Verkrüppelte Zeit? Sagten Sie etwas? Ja, ja, natürlich, man kann sie ja nicht sehen. Aber man misshandelt sie, tritt sie mit Füssen, knebelt sie, stopft sie aus wie einen toten Vogel, stellt sie mitten ins Zimmer. Schön! Nicht? Man vertut sie, einfach so, als spräche man aneinander vorbei. Man lebt sie nicht. Schnitte man sie heraus, man merkte es nicht einmal. Sie hat keine Wurzeln in der Vergangenheit, verzweigt sich nicht in der Gegenwart, reicht nicht in die Zukunft. Schutt, wertlos, tot. Bestenfalls der tote Arm eines Flusses. Das Wasser strömt nicht mehr richtig, wird sumpfig. Hohes Schilf säumt die Ufer. Ungeziefer, überall Ungeziefer. Verkrüppelte Bäume zeigen ihre gichtischen Wurzeln. Hier steht die Zeit still, ist zugedeckt mit einer grünlich-violett schillernden Haut. Ein benehmender Dunst schwebt über allem. Flimmernde Gluthitze entzieht dem Wasser das bittere wehe Aroma der Fäulnis, der Auflösung, der Entbindung, schwängert die Luft damit. Bleiern steht sie. Trauben von Schnaken summen ihren monotonen Gesang bereit sich auf alles und jeden zu stürzen, der in diese Welt eindringt. Alles ist gross und schwer und übervoll des Leichengifts. Der Wind erreicht diese hermetisch abgeschlossene Welt nie. Er staut sich vor ihr auf, gleitet um sie herum. Diese Welt kommt nicht aus sich heraus. Ja, ja, ich schweife ab, ich weiss.

Muss ich Sie doch tatsächlich an Ihrem Ärmel festhalten, sonst laufen Sie mir davon. Bitte, nicht so schnell.

Bitteschön, ich kenne einen Mann, der kommt jeden Tag in einem grossen Gebäude an. Geht durch die Drehtür. Sagt: Guten Morgen! Da sitzen nämlich zwei Frauen in der Halle. Er steigt in den Fahrstuhl, drückt auf Knopf 4. Die Tür schliesst sich. Die Tür öffnet sich. Er steigt aus dem Fahrstuhl. Läuft durch den Gang. An kleinen Zimmern vorbei. Da sitzen Menschen. Oder noch nicht. Man kann die Menschen sehen. Geht auch in solch ein Zimmer. Setzt sich auf den Stuhl der hinter dem Tisch steht.

Da sitzt er dann. Er greift in eine Schublade, holt Papiere heraus. Er blättert in diesen Papieren. Er nimmt einen Stift und bewegt ihn auf dem Papier hin und her. Manchmal schüttelt er dabei den Kopf. Seine Lippen presst er dabei steif aufeinander. Eine gespreizte Naht. Mitten im Gesicht. Seine Nasenflügel sperren sich. Er nimmt den Telefonhörer. Er bewegt seine Lippen. Nur seine Lippen. Sonst nichts. Eine junge Dame kommt herein. Lächelt. Er lächelt. Sie bewegt ihre Lippen, diese zwei roten Linien mitten in ihrem Gesicht. Hübsch, denkt er. Ich denke, dass er das denkt. Aber man merkt ihm nichts an. Sie legt Papiere auf den Tisch. Er bewegt seine Lippen. Nickt. Beisst sich dabei auf die Unterlippe. Seine Nasenflügel sperren sich ein wenig. Er nickt. Sie nickt. Sie geht rückwärts zur Tür. Verschwindet. So geht das den ganzen Tag. Jeden Tag.

Bevor er jeden Tag da sitzen durfte, auf dem Stuhl hinter dem Tisch da, hat er sich um - ja, um dieses Sitzen da beworben. Er schickte einen Brief in das grosse Gebäude. In diesem Brief stand: Ich möchte gern auf dem Stuhl da sitzen. Man bat ihn an einem dazu festgesetzten Tag zu zeigen, wie er da sitzen wolle. Er kam. Man zeigte ihm das Zimmer mit dem Tisch und dem Stuhl dahinter. Zeigen Sie, wie Sie da sitzen wollen, sagte man ihm. Und er setzte sich hin. Er griff in eine Schublade und holte Papiere heraus. Er blätterte in diesen Papieren. Er nahm einen Stift und bewegte ihn auf dem Papier hin und her. Manchmal schüttelte er dabei den Kopf. Seine Lippen presste er dabei steif aufeinander. Eine gespreizte Naht. Mitten im Gesicht. Seine Nasenflügel sperrten sich. Er nahm den Telefonhörer. Er bewegte seine Lippen. Nur seine Lippen. Sonst nichts. Eine junge Dame kam herein. Lächelte. Er lächelte. Sie bewegte ihre Lippen, diese zwei roten Linien mitten in ihrem Gesicht. Hübsch, dachte er. Ich denke, dass er das dachte. Aber man merkte ihm nichts an. Sie legte Papiere auf den Tisch. Er bewegte seine Lippen, nickte. Biss sich dabei auf die Unterlippe. Seine Nasenflügel sperrten sich ein wenig. Er nickte. Sie nickte. Sie ging rückwärts zur Tür. Verschwand. So ist's genug, sagte man ihm. Sie dürfen jeden Tag hier sitzen. Jeden Tag zur selben Zeit. Jeden Tag dieselben Bewegungen. Sie dürfen unter keinen Umständen davon abweichen. Sie bekommen dafür ein Monatsgeld. Seitdem sitzt er da auf dem Stuhl hinter dem Tisch da, jeden Tag. Ich bitte Sie! Er hat's mir erzählt. Ich kann ja die Worte nicht hören, die Buchstaben nicht sehen. So sieht das aus.

Ich habe mir also Gedanken gemacht. Ich dachte, Karl, dachte ich, bitte die Menschen um nur fünf Minuten ihrer öden abgestandenen stinkenden Zeit, fünf Minuten ihrer toten Zeit. Von einem ganzen Tag nur fünf Minuten. Sie merken es nicht einmal. Horte diese Zeit. Du wirst ewig leben. Denn wenn deine Stunde gekommen ist, kannst du eine ganze Scheune voller Zeit vorzeigen. Ja, ja, gewiss, sie ist verkrüppelt, angeschlagen, platt gewalzt, vertan, übel riechend, tot - aber Zeit. Ich bitte nie um mehr als fünf Minuten.

Warum schlagen Sie meine Hand so barsch von Ihrem Ärmel ab? Sie ist doch keine Fliege. Gut, gut, dann eben so. Ich fasse Sie ja gar nicht mehr an. Ihr Gesicht ist so... Ach, ich kann auch so reden. Ich laufe und schaue geradeaus. Sie laufen und schauen geradeaus. Und dann. Wir laufen schon wieder nicht im Gleichschritt. So. Also. Ich stelle mich an die Strasse am Eingang der Stadt. Hier beult die Strasse aus. Der Bürgersteig bröckelt ab. Hier ist die Einfahrt zum Friedhof. Meinen Hut nehme ich in die Hand. So. Nur fünf Minuten tote Zeit, bitteschön, sage ich. Wie bitte? So stehe ich da. Die Beine nicht ganz eng zusammen und die Knie nicht ganz gestreckt. So. Eigentlich hänge ich am Innenrand des Bürgersteigs. Der Boden unter meinen Füssen wäre nicht nötig. Er ist nun mal da. Da hänge ich. Mein Kopf ist gebeugt, liegt beinahe auf der Brust. Ich will nicht, dass die Leute die Schlinge um meinen Hals sehen. Dieser rohe Strang schreckte sie nur ab. Der Strang? Der ist da. Schon immer. Solange ich denken kann. Genau die richtige Höhe. Der Knoten in meinem Nacken? Ach, den sehen sie nicht. Sie sehen ja nur meine Vorderseite. Wollten sie mich wirklich sehen, ich meine von allen Seiten, dann müssten sie ganz und gar und immerzu um mich herumlaufen. Und alles gleichzeitig sehen. Das ist noch nie passiert. Der Bürgersteig vor mir ist ein Fliessband. Darauf fliessen die Menschen an mir vorbei. In die Stadt. Vermute ich. Immer im gleichen Trott.

Hinter meinem Rücken ist der Friedhof. Zwischen dem Friedhof und dem Bürgersteig stehen ein paar Bäume. Vielmehr hohe Sträucher. Davor stehen zwei Bänke. Auf diesen zwei Bänken sitzen die Alten in der Sonne und sterben langsam vor sich hin. Auf dem Bürgersteig kann man sie nicht mehr gebrauchen. Sie bleiben schon zu oft stehen oder humpeln unbeholfen am Stock: ein Hindernis. Man fiele über sie. Auf dem Friedhof kann man sie noch nicht gebrauchen. Sie zucken noch. Das liesse die Erde erzittern. Sie sitzen da den ganzen Tag. Hoffen vielleicht, dass die Sonne ihren schon kühlen aufgedunsenen Leibern noch ein wenig Wärme verschafft. Ab und zu sagen sie ein Wort. Ab und zu heben sie ihre Hand und rufen: He! Dann lächeln sie sogar, zeigen ihre Zahnlosigkeit. Manche haben ein Kunstgebiss. Aber meistens sitzen sie nur da. Mit starren Augen. Abends räumt man sie auf. Wie früh man sie auf ihre Plätze setzt? Ich weiss nicht. Wenn ich komme, sitzen sie schon da. Ob sie den Knoten der Schlinge nicht sehen? Ich weiss nicht. Sie haben noch nie etwas davon gesagt.

Da hänge ich also und bitte die Menschen um fünf Minuten. Nur fünf Minuten, sage ich, fünf Minuten tote Zeit. Irgendetwas muss ich ja sagen. Für das Bild ist es vollkommen unwichtig, was ich sage. Der Hut in meiner Hand, ihre Handbewegung, das veränderte sich nicht. Fürs Bild wäre es egal.

Die Leute fliessen an mir vorbei. Mit ihren vollgepfropften Leibern fliessen sie schaukelnd an mir vorbei. Allein, zu zweit. Ich nehme die Parade ab. Alles in allem ein gleichmässiger rosa Brei. Manche stopfen, während sie so an mir vorbeidefilieren, noch irgendetwas in den Mund. In der glänzenden aufgequollenen rosa Masse - sie quabbelt - ist plötzlich eine Öffnung zu sehen. Etwas wird in diese Öffnung hineingestopft. Ich sehe das Mahlen der Kiefer. Höre schweres Atmen. Ihre Gesichter quellen aus ihren Schädeln heraus. Bald werden diese Schädel die Gesichter nicht mehr halten können. Dann tropfen sie auf den Boden, denke ich, verdunsten. Nein, werden zertreten.

Und ich hänge da mit dem Hut in der Hand. Nur fünf Minuten, bitteschön, sage ich. Nur... Ach, für das Bild an sich ist es unwichtig, was ich sage.

Es hat lange gedauert, bis sie begriffen, was ich wollte. Geld schmissen sie mir in den Hut. Manchmal Butterbrotpapier, zerknautschtes. Manche tun es noch immer. Aber die, die wissen, was ich meine, stecken ihre Hand in die Tasche, schon drei Meter bevor sie bei mir sind, ziehen die geschlossene Hand wieder heraus. Jetzt sind sie bei mir angekommen, bringen die geschlossene Hand über meinen Hut, öffnen sie. Lächeln: Bitteschön. Ziehen ihre Hand zurück. Ich lächele: Dankeschön. Ich sehe nur noch ihre Rücken. Sie drehen sich nicht um. Was mag wohl mit ihnen geschehen? Mit ihren Gesichtern? Ich weiss es nicht. Vielleicht haben sie gar keine Gesichter mehr, wenn ich ihre Rücken sehe. Ich müsste ihnen folgen, mit ihnen mit fliessen. Ich hänge hier.

Abends löse ich die Schlinge von meinem Hals. Wie gut, dass ich ihn habe. Ohne ihn, diesen Strang, hielte ich es nicht so lange aus. Zittrig stände ich am Innenrand des Bürgersteigs, wäre vielleicht versucht auf den Bürgersteig zu springen. Nur das nicht!

Jetzt im November ist es schon kein Vergnügen mehr. Hungrig und durchfroren gehe ich nach Hause mit dem Hut in der Hand. Die Hand ist vollkommen versteif. Nicht nur die Hand. Ich bin völlig erstarrt. Schiebe mich fort. Weiss liegt der Novemberreif auf meinen Kleidern, meiner Haut, dringt in mich ein. Ob die Alten noch da sind? Ich weiss nicht. Diese nasskalte Witterung. Ich schaue mich nicht einmal mehr um. Ich kann nicht sagen...

Zuhause kippe ich den Hut um. Überm Tisch. Setze ihn auf. Ich zittere. Mir schlottern die Knochen im Leib. Ich mache meine Suppe warm. Umklammere die Tasse mit der heissen Flüssigkeit mit beiden Händen. Schlürfe die Suppe in mich hinein. Mir wird warm. Ich bin müde. Gehe ins Bett. Morgen ist Markttag. Dann kommen viele Menschen in die Stadt. Ich muss rechtzeitig auf meinem Platz stehen. Ich gehe nach oben, lege mich in mein noch ungemachtes Bett, spüre, wie ich verschwinde. Pelle mich noch einmal, schon bettwarm, aus den Decken. Bettwarm! Ganz warm werde ich natürlich nicht. Ein ganzer Tag Novemberreif lastet auf mir. Hat mich vereist. Ich schleppe mich noch einmal nach unten. An der Wand muss ich mich festhalten, damit ich nicht die Treppe runter kollere. Ich taste mich bibbernd vorwärts bis zum Tisch, knipse das Licht an, zähle die tote Zeit. Ein kleiner Berg: sieben Stunden. Nicht schlecht, bei dieser Witterung. Ich lächele.

Das tue ich nun schon seit Jahren. Ich weiss nicht wie lange schon. Immer wieder hänge ich mich da auf. Die Leute haben sich an mich gewöhnt. Ich bin ihr nickendes Missionsnegerlein an der Weihnachtskrippe.

Sie wissen, dass ich da stehe, hänge, ihr täglicher kleiner Zirkus. Wir Bettler sind Schausteller. Jeden Tag ein Stückchen aus einer Welt, die nicht die ihre ist, die ihnen fremd ist. Jeden Tag können sie mich belächeln. Jeden Tag bezahlen sie dafür, dafür, dass ich da stehe, hänge, dass sie mich belächeln. Weiter brauchen sie nichts mit mir zu tun. Eigentlich lebe ich gar nicht. Bin tot. Mit Toten kann man nicht sprechen. Tote fasst man nicht an. Tote antworten nicht.

Will ich in ihrer Gunst bleiben, muss ich jeden Tag dieselbe Mine machen, sonst erkennten sie mich nicht mehr. Zögern würden sie, würden mir vielleicht nichts mehr geben.

Ich verändere also nichts. Schminke? Ist nicht nötig. Das jahrelang da Hängen hat mir die richtige Gesichtsfarbe besorgt. Jeden Tag hänge ich da. Es ist ja nur ein Scheinhängen. Noch immer wage ich nicht die Füsse einzuziehen.

Ich sehe sie um die Ecke fliessen. Sehe ihre Vorderseiten. Sehe, wie sie die Hände öffnen. Sehe ihre Rücken. Mehr nicht. Jeden Tag.

Ob ich keine Angst habe dass man mir - zack - die Füsse vom Boden weg tritt? - Nein.

Dezember 1981, Hollands Maandblad (Übersetzung: Paul Beers/Sabine Vess). Im Laufe der Jahre habe ich im deutschen Originaltextes hier und da etwas verbessert.

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