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im Sommeranfang 2023

© Sabine Vess 2023







abgeschieden
anwesend
keine reinschauende Strasse.
die Krone der Birke, das offene Schussfeld, begrenzt von Bäumen und Sträuchern.
dies war mein Atelier. dreiundzwanzig Jahre lang.
dreiunddreissig Monate nach seinem Tod sitze ich, ein erstes Mal, wieder hier an meinem Tisch.

seit damals zeichne, male, schreibe ich, wo die Strasse reinschaut, sitze an dem Tisch, an dem er gearbeitet hatte - dann starrend nur dasass, der Kühlschrank nicht weit, hörte sein Schlurfen, Geraschel, das Zuschlagen der Tür -
wo es leicht ist leere Spannen zermalmend mit Häppchen zu stopfen, dem Prozess zu entfliehen.
auch anfangs hatte ich hier gearbeitet. das waren andere Zeiten, unsere Birke schlank.

leibhaftige Vertreter göttlicher Heilsbotschaften bohren, für den eigenen und ihrer Stäbe Bedarf, sprudelnde Quellen an, lassen sich in praller Öffentlichkeit von Novizen die Zungen küssen, fordern die ersten Nächte, spenden oder versagen, im Namen ihres Gottes, Segen.
und Abertausende strömen den Botschaften, Gebetsmühlen, Übungen, Leibhaftigen zu, zahlen, lächeln.

viel Zeit gilt der farblichen Zusammenstellung der Kleidung, den angemessenen Einlegesohlen, Socken.
meine Füsse mögen keine Schuhe.

auf der Bank bei der Brücke über den Ringgraben liegt einer. neben einem Fahrrad, kein billiges, einem Rucksack. fällt Spinnen und Läusen anheim. das Gesicht gedunsen, rotviolett. auf einem Stück Pappe steht: ich habe Hunger! ich lege ihm ein Schinkenbrot, eine Serviette und eine Flasche Saft auf die Brust.

unser Weg versandet, mündet in ein Meer von Sand.
sie müsse zurück, habe vergessen, vergisst.
ich gehe mit ihr.
die Gruppe wartet auf uns, hier, im Kaffeehaus am Rande dieses ockeren Meeres.
ich finde das Kaffeehaus, den Weg zu den Wartenden zurück. schrecke auf, schweissnass, zwischen meinen Laken.

Ade sagen.
als lebten sie hier nicht mehr.
für ein paar Wochen nur.
setz dich.
da steht kein Glas

an der Wand ein weisser Fleck in flammenden Händen.

laufe, laufe
werde den Schrei aus meiner Kehle nicht los.
dass etwas in mir die Kraft hatte so zu schreien.

der Schrei kam aus meinem Bauch, sagt er.
du kannst deiner Mutter nichts mehr sagen.
kippe das Zeug runter, zerschmettere das Glas hinter deinem Rücken: zack!
und noch ein Glas

nie richtete ich das Wort an Tote.

umkreise den weissen Kopf. es ist ein Kopf.

er war zu Blumen und Blättern zurückgekehrt, verblassten.
und, fragt mich einer.

kleingeschlagen,
passen alle Alten ins Pflegeheim,
zehren kaum noch an gemeinnützigen Kräften.
ein paar Brotkrumen pro Tag,
ein paar Tropfen.
eine Krume!
ein Tropfen!

du bist die Treppe runtergekracht, hast nicht achtgegeben!
immer, im Höhenrausch meines Tanzes -
stand dann auf, mit gebrochener Nase, rausgeschlagenen Zähnen

kleingeschlagen, gehören Knochenbrüche der Vergangenheit an.

ich setzte das Bild unter meinen Händen - die sich aufbauende Oberhaut und verstärkte Unterhaut des Papiers - wieder dem Druck glättender Hitze aus. Ober- und Unterhaut schlugen Blasen; löste die aufgeworfene Oberhaut ab, klebte sie wieder auf, stach noch aufkommende Bläschen auf, drückte sie zu. malte weiter.

es gibt nur ein Lebensblatt.

Kinder zeichnen Vögel ihrer Umgebung.

Invasoren verschlingen uns, zerren an unseren Innereien, schlürfen unsere Hirne,
Kleider und Flitter bleiben in ihren Hälsen stecken,
reissen das Maul auf: zack!
Männlein, Weiblein: zack!
Schwangere, Gebärende: zack!

wem singen sie?
schlagen die Trommeln?

Hitze lässt die Haut sich lösen.

vom Himmel hoch da komm ich her, ich bring euch gute neue Mär

irgendwann, wenn du denkst ins Haus schlüpfen zu können, lasse ich den Stein auf dich fallen.
du kannst eine Falle aufstellen, sagt Friederike, sie heisst Friederike, meinen Tod einem Mechanismus oder Gift, Gas überantworten. es gibt massenhaft Mäuse. du tötest uns, lässt uns töten, um zu töten?

verkohlte Leiber am Strand.
das Wasser des Flusses war niedrig geblieben.

Vögel scheren kreischend über meinem Kopf, als sässe da nichts.
Friederike klettert in die Blüten der dorren Blümchen.

es lähmt.
Lähmung ist keine Entschuldigung.

ich bohre sie an, ihre Worte strömen rot verkrustend aus ihnen heraus.

 

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