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ER IST AUS PAPIER

© Sabine Vess

 

Seit gestern bin ich mir dessen sicher. Ja. Es ist ungeheuerlich, ist komisch. Ich weiss, dass es so ist, will jedoch nicht, dass es so ist, tue als wisse, als wolle ich es nicht.

Er ist aus Papier. Wer? Er. Wie ich dahinter kam? Eine leise Ahnung hatte ich schon immer. Da war schon immer was. Seit gestern bin ich mir dessen sicher. Ich zeichnete ihn und auf meinem Papier erschien ein Mann, den ich aufrollen kann, zerknautschen kann - die Zeichnung habe ich bewahrt - mit aufgeklebten Lippen und Pappmaché-Händen. Er arbeitet im Büro.

Als ich vor ein paar Wochen mit ihm durch die Hauptstrasse lief, traf's mich zum ersten Mal echt, krallte sich fest. Ich fasste ihn beim Arm und fühlte Papier. Da ich dieses Papier nicht zerknautschen wollte - seinen Anzug - das sieht so unordentlich aus, tat ich nur, als hielte ich ihn fest - die Geste nur. Die Leute hätten ja nicht begriffen, wenn ich meine Hand schreiend zurückgezogen hätte. Auch er merkte es nicht. Fröhlich pfeifend lief er vor sich hin. Etwas steif. Ich stiess ganz sacht gegen seinen Ärmel, kaum mehr als das Hinführen der Hand. Der Arm flatterte nach vorn.

Und plötzlich stand in mir das brennende Verlangen ihn vollkommen zu zerknüllen, zu zerknautschen oder zu zerreissen oder... Ich dachte darüber nach, was man mit Papiermenschen nicht alles tun könne. Bunt bemalen. Zerreissen. Sich den Hintern mit ihnen abwischen. über einem Aschenbecher verbrennen wie einen Liebesbrief, der seine Gültigkeit verloren hat. Zerschnippeln und durchs Klo spülen. Fisch drin einpacken. Es gäbe hunderte von Möglichkeiten. Aber Zerknüllen ist schön. Man reduziert die Menschen so auf ihre eigentliche Grösse, Falten und Runzeln inbegriffen. Und immer, wenn sie sich aufplustern, kann man sie wieder zerknüllen.

Aber ich schweife ab. Da lief er also neben mir - nichts Besonderes, wie üblich - die Hände auf dem Rücken. Ich wischte mir mit der Hand über die Augen, lief kurz etwas schneller, einen halben Schritt, und schaute ihn an. Ist etwas, fragte er. Nein, sagte ich.

Auf dem Rückweg passierte noch etwas, das mich stutzig machte. Ich sah etwas und stupste ihn an. So wie man das tut, mit der Hand, nein, nur den Fingerspitzen gegen das Schulterblatt. Er flog nach vorn, etwas schräg von mir weg. Hatte kein Gewicht. Leistete keinen Widerstand. Wenn er jetzt nur nicht ziellos umherflattert, dachte ich. Wäre ich doch beinahe über meine eigenen Füsse gestolpert, sagte er.

Ich vergass das wieder. Am nächsten Morgen standen wir zusammen in der Kochnische. Er mit dem Rücken zum Fenster. Ich musste an ihm vorbei, streifte ihn. Wieder verlor er sein Gleichgewicht. Wäre, für Augenblicke nur, die Aussenwand nicht gewesen, wäre er rückwärts in die Tiefe gesegelt. Auf der Strasse läge ein Blatt Papier. Etwas mitgenommen. Mit aufgeklebtem Mund.

Ich vergass das alles. Es geschah nichts Besonderes. Er sah aus wie immer. Und die Kinder sagten nichts. Ich musste mich getäuscht haben.

Aber doch, wenn er mich küsst, lässt mich die Vorstellung von den aufgeklebten Lippen nicht mehr ganz los. Die Küsse sind so platt. Was, wenn seine Lippen sich jetzt loslösten, wenn er mich küsst? Das ist noch nie passiert. Aber jedes Mal, wenn er auf mich zukommt, muss ich mir sagen: Es ist nicht so. Er ist ganz normal. Aber schon sehe ich die Wunde an seinem Mund und fühle, wie das Papier auf meinen Lippen kleben bleibt. Und ich kriege seine Lippen von meinem Mund nicht mehr ab.

Und seit gestern ist alles so gewiss. Mitten in der Nacht werde ich wach. Schweissgebadet werde ich wach. Ich setze mich aufrecht hin. Ich knipse das Licht an. Da liegt er. Eingemummelte. In sein Federbett. Neben mir. Ich starre auf dieses Bündel. Ich sehe nur sein Gesicht. Du täuschst dich, sage ich mir. Und dann sehe ich seine Hände. Mein Mund klappt trocken auf. Mein Gott! Wie kann er mit solchen Händen überhaupt etwas anfassen! Vor meinen Augen sehe ich das noch feuchte Pappmaché unter der Haut. Fühle es. Und dann sehe ich die Risse in der Haut. Als sei Leinwand schlecht bemalt. Graues, noch feuchtes Pappmaché presst sich aus diesen Rissen heraus. Ich will es wissen. Ich beuge mich hin zu seinen Händen und polke mit meinen Fingernägeln an den Rissen zwischen den Fingern. Ich muss es wissen. Da bewegt er sich, öffnete die Augen. Ist da was, fragt er schlafwarm. Ich habe deine Hände betrachtet, würge ich heraus. Mir ist kalt. Ich knipste das Licht aus, schmiege mich an ihn, schlafe ein.

Am Morgen ist alles wie üblich. Doch als er unter der Dusche steht, halte ich es nicht mehr aus. Ich renne zur Tür, reisse sie auf, will schreien: Tu's nicht, oder doch! Ich weiss nicht mehr. Da steht er fröhlich pfeifend unter dem Wasser, das dampfend auf ihn niederprasselte, über seinen Leib rinnt. Zu seinen Füssen der abgespülte Seifenschaum. Er hat noch eine gute Figur, denke ich. Alles ist noch stramm und fest, denke ich. An seinen Händen ist nichts zu sehen. Ich mache das Frühstück.

War das überhaupt gestern? Denn es passierte noch viel mehr. Ich dachte, dass zwischen beiden Vorfällen lange nichts passiert war. Ich weiss nicht mehr. Vielleicht geschieht alles gleichzeitig, überhaupt, gewissermassen wie ein kleiner runder Ball. Schwer ist er. Und wir müssen alles gut ausschmieren wie Butter auf eine Stulle, weil wir es so kompakt nicht runter kriegen, verdauen, begreifen können. Beim Schmieren sind wir - naja - etwas nonchalant. Das eine Mal zerreisst die Schicht, dann ist sie wieder zu dick.

Also. Ich werde wach, gehe ins Badezimmer. Ich bin immer die Erste, die duscht und sich fertig macht. Ich schaue in den Spiegel über dem Waschbecken. Da sehe ich's. Da in meiner Wange, vielleicht drei Zentimeter unterhalb meines linken Auges, ist etwas. Ich zwinkere ein paar Mal mit den Augen. Bringe das Gesicht ganz nahe an den Spiegel heran. Da hat sich die Gesichtshaut gelöst, zeigt sich ein grauer Brei. Pappmaché, durchfährt es mich. Was jetzt? Ich riegele die Tür zu. Das tue ich sonst nie. Warum auch? Ich riegele zu und pinkele erst einmal. Dann stelle ich mich wieder vor den Spiegel. Hier muss irgendwo die Karnevalsschminke der Kinder liegen. Nur noch Weiss und Blau und ein wenig Rot. Aber erst duschen. Ich passe auf, dass kein Wasser auf mein Gesicht fällt. Nach dem Abtrocknen bearbeite ich das Stück Gesicht. Wie schlecht ich mich erinnern kann, wie das Stückchen ausgesehen hat. Aber ich habe nur Weiss und Blau und Rot. Ich fange an. Das Rosa stimmt nicht ganz. Aber mit einem leichten blauen Lidschatten sieht das gar nicht schlecht aus. Die Schminke räume ich gleich wieder auf. Ich öffne die Tür, ziehe mich an, mache das Frühstück. Als wir alle am Tisch sitzen, sagt die Jüngste: Mama hat Lidschatten! Und sie starren mich alle an. Ich wollte das nur 'mal ausprobieren, sage ich. Du siehst aus wie geschlagen, sagt er. Ich habe nicht gut geschlafen, sage ich, ich werde das später nachholen.

Als sie alle weg sind, suche ich im Atelier die passenden Farben, gehe wieder ins Bad, wasche die Karnevalsschminke vorsichtig ab. Das Loch in der Haut klafft mir entgegen. Eine Stunde brauche ich für die Restauration. Jetzt merkt niemand mehr etwas, denke ich. Nur kann ich das Stückchen Gesicht nicht mehr wirklich gebrauchen. Unbeweglich steht es in meinem Gesicht. Und die Farbe verändert sich nicht mehr. Ab und zu muss ich das Stückchen wieder ausbessern. Was ich unheimlich finde, ist dass der Fleck immer grösser wird.

Und noch etwas. Ich gehe jede Woche zum Ballett. Für Hausfrauen. Es ist mehr ein Rumhopsen nach Popmusik. Ich zeichne diese Damen. Als ich das letzte Mal eine Bewegung festhielt, sah ich, dass die Dame eine offene Kniekehle hatte. Und in der offenen Kehle sah ich ein Drahtgeflecht. Auch auf meinem Blatt Papier war das deutlich zu sehen. Das Blatt habe ich bewahrt. Ich rieb mir die Augen, ging in den Waschraum und trank ein Glas Wasser, schaute in den Spiegel. Ein bisschen bleich war ich geworden. Der Farbfleck in meinem Gesicht blieb unverändert. Was ich gerade gesehen hatte, erklärt viel. Diese hölzernen Bewegungen. Dieses sparsame Lächeln.

Ich probiere mit diesem Wissen zu leben. Ich habe es noch niemandem gesagt. Diese Flecken, diese steifen Bewegungen - stören mich nicht mehr, nicht wirklich, fallen mir beinahe nicht mehr auf.

Nur gestern Abend. Wir hatten Besuch. Da fing er an sein Gesicht zu zerknautschen. Mit den klobigen unhandlichen Pappmaché-Händen. Er quetschte den aufgeklebten Mund hoch bis unter die Nase. Pass auf!, wollte ich schreien, deine Lippen zerreissen. Ich konnte mich beherrschen. Schaute kurz weg. Als ich wieder hinsah, war auch die Nase schon zerknautscht. Irgendwie, zwischen den rosa Unhänden hing sein zermanschtes Gesicht. Vor meinen Augen sah ich schon wie die Farbschicht losliess, wie sie aufbrach, zerriss, wie er sie einfach abzog von seinem Gesicht, wie das Pappmachmaché zwischen den knetenden und quetschenden rosa Fingern hervorquoll.

Ich reichte ihm ein Stück Käse. Danke, sagte er.

 

November 1982, Hollands Maandblad: 'Hij is van papier' (Übersetzung Paul Beers/Sabine Vess). Letzte Korrektur des deutschen Originaltextes 2017.

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