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und der Vogel in uns lacht

die Unterschiede
zwischen hier und da
und der und dem
fallen ins Nichts

© Sabine Vess, 2010

 

die Frau am Fenster
ich hatte keine Schritte gehört
dreht sich um, geht, kein Laut

die geringste Aufmerksamkeit lässt mich aufatmen, umschauen, mir den Atem stocken

das glaube ich dir, höre ich sagen, oder: was für ein interessantes Leben du da führst! während ich die Bilder nicht mehr irgend gekannt zusammenkriege

neben dir das Mädchen mit Baby
guten Tag
auf verlatschten Stöckelschuhen
erst den Vater des Kindes suchen
am Strand entlang
hier, sagt sie, steigt aus mit Baby, läuft über die Dünen, kommt wieder, steigt ein, steigt ein Stück weiter wieder aus
andere kommen über die Dünen, wir kurbeln die Fenster runter

das erste Mal am Fluss, ich konnte nicht fassen, dass da Menschen leben, sagt sie
der, der vor der Tür steht, mit Goldzahn links oben: sind Sie?
ja, ich steige ein
sie und ihr Chauffeur schleppen Säcke mit abgedankten schicken Klamotten ihrer Casinogäste vor die Kinder
und Decken und Shampoo und Seife
eine Seidenbluse!
eine Hotelpagenjacke!
es folgt das Gruppenfoto mit Dame

es wird noch später werden und dann Torte wie immer zu Geburtstagen und noch warm essen
nein, ich tue nichts, gar nichts, sagt er
sie sind Künstler, sind alle Künstler!

mir fallen die Augen zu

drei kehren am Abend nicht wieder, erst am nächsten Tag
Geschrei
kehrst du wieder, bist du weniger als zuvor - du kehrst ja nicht zurück
wenige verbessern dadurch ihre Position
manchen wird die Wiederkehr verweigert
manche weigern sich wiederzukehren

zu irgendetwas müssen sie nutze sein
diese mageren vor Dreck strotzenden Leiber in Dreck

wie du dich extra vorsichtig kompliziert festhältst, hinsetzt
ich bin schwammig, habe zugenommen, für die Strasse bin ich ein alter Mann

der Drang zum Platz an der Sonne, wo jeder jeden und alles unter seinen Füssen zertrampelt
wir fliehen uns dem Anblick zu entziehen
so gekeltert, dringen wir in euch ein
es gibt kein Entkommen

die Arme voraus gestreckt, erhebst du dich
halsloser Käfer gepanzerten weissen Rückens
drückst alles weg
Käfer haben acht Beine
Menschen zwei
laufen sie wie Käfer, vier

ich weiss nur, wie es bis heute Abend läuft, eventuell

alle Strukturen, die wir erarbeiten können, mit aller Wahrscheinlichkeit voraussagen können, können morgen zerbrochen sein
weil eine Mücke Rotz hustet

die Stunde Fahrt zieht sich mir endlos hin
das Elend wird schliesslich nicht mehr von besseren Aussichten unterbrochen
warum ich gestohlen habe, durchgeknallt bin?

morgens schon sitze ich hier auf den nach Pisse stinkenden Stufen
halte den Beutel mit Bonbons hin, die dreckige offene Hand, Filzhut auf, Kind an der Brust, schaue niemanden an
ich nehme diese Stufen jeden Tag, hier runter, da hoch, von Bus zu Bus
all diese Treppen stinken nach Pisse und überall diese Klumpen Frau mit Filzhut, Kindern, offener Hand

an diesen Ort wagte ich mich nicht allein
einem eitert ein Glassplitter aus der Stirn
es gibt auch eine Liebe, sie ist zwölf, er ist fünfzehn Jahr, auf der Mauer am Fluss lausen sie sich

ich will in eine Entzugsanstalt
oh, Johnny!
passt auf vor diesen Jungen!
ja, Vater

wir wissen nichts von unserem Vater, dein Vater ist ein anderer als meiner, als der unseres Bruders, obwohl alle drei dieselbe Person aus Fleisch und Blut

gib mir das Geld für mein Essen, ich esse nicht mit, brauche Seife, eine Dusche, eine Rasierklinge, will sauber ankommen, rasiert, vielleicht schaffe ich es nicht
oh, Johnny!

sie kotzt mich an
sag es ihr

wir wissen ja nichts von unserem Vater

das trockene Flussbett besät mit Zeug
ne Ratte, hast du schon mal ne Ratte gesehen?
jede Stadt beherbergt mehr Ratten als Menschen
bist du nur dick oder schwanger?

ich kehre nicht wieder
du musst ja
als gäbe es das
er wartet mir auf
läuft hin und her bis ich aus dem Zug steige, der mich von da wieder hergebracht hat

du ziehst die Oberlippe hoch, die Vorderzähne wie bei Kaninchen

der rechte Schuhabsatz war ein Damenschuhabsatz

sie bombardieren mich mit ihren Bitten
damals legten wir Kissen auf unsere Köpfe, damit die Bomben sachter fielen

die Stimme der Frau heute im Bus
wir sollten diese Leute von der Strasse auflesen, mitmachen lassen
wir können sie nicht bezahlen, unser Publikum zahlt nicht
ich liebe diese Busfahrten, diese Auftritte

und wie willst du weiter? wohin?

einen Monat allein in der Zelle, stehend, Medikamente um mein Leben umzukrempeln, nach diesem Monat war ich irr

den Kretin haben wir eingesperrt, sie hatte sich verliebt, ist mannstoll geworden

ich konnte mich dem Druck nicht entziehen, stand tatenlos, gelähmt daneben, dachte, der Kelch ginge vorüber
alles war, ist immer weit weg, doch geschieht
ich liebe meine Umwege, das mich Verlaufen

du weisst doch, dass du tot bist
du kannst dir nicht vorstellen, wie ich schon morgens danach lechze
auf deinem Gesicht bilden sich Perlen
niemand kommt mir beim Aufstehen helfen

während das fette Kind Schokolade frisst, bittet die fette Mutter aufdringlich um Geld für ein Brötchen, legt ein Heiligenbildchen auf den Tisch
steck die Schokolade weg!

einer kniet auf der Strasse - das ist eine andere Geschichte

hältst dich fest, wankst, fällst
was schreist du so!
nein, nichts!
keuchst, isst dann, das Essen ist fertig, schluchzt
was berührst du meinen Arm!

eine Brücke weiter schiessen sie

Polizisten zerren einen vom offenen Laderaum runter auf die Strasse
Haut über Knochen, der Oberkörper bloss
und seine Lumpen
das verfilzte Haar zu Berge kniet er da
küsst den Asphalt
erhebt die Arme
brüllt einen unverständlichen Gesang
rückt ein Stück weiter
zieht die Lumpen nach
küsst den Asphalt
erhebt die Arme
brüllt diesen unverständlichen Gesang
die Polizisten schleifen ihn auf den Rasen, fahren weg

zieht die Hand mit Beutel aus dem Ärmel, senkt den Kopf
nein, sage ich, schnüffelst du hier, dürfen wir alle nicht mehr hier sein
er lächelt, legt sich auf die Bank
nein, sage ich, legst du dich hier auf die Bank, dürfen wir alle nicht mehr hier sein
sein Gesicht, eingefallener als letztes Jahr, die Augen unsteter, der Leib knochiger

wir sind doch wie Geschwister
ich will dich
ich bin doch deine Schwester
leg dich zu mir

um 4 Uhr am Nachmittag des 16. September 2009 verbrennen Polizisten und Ordnungshüter Matratzen und Habseligkeiten der Kinder und Jugendlichen unter der Brücke

wir rufen, sie kriechen aus der Asche, schütteln sich, setzen sich auf die Mauer
fange ich jetzt nicht an, funktioniert nichts mehr

kriechen raus, schütteln uns, setzen uns auf die Mauer

die Proben mit ihnen tasten schliesslich die Strukturen beider Seiten an
Strukturen für etwas, das morgen vielleicht schon wieder zerbrochen ist, vor unseren Augen Strukturen gebiert, die wir noch nicht denken können

meine sehr verehrten Damen und Herren, die grösste Schau der Welt!
Ratten zwischen Seidenlaken, in Badewannen mit goldenen Wasserhähnen, am Swimmingpool, süss, nicht?
meine sehr verehrten Damen und Herren, mit aller Achtung, die ihnen gebührt, ich habe AIDS, Tuberkulose, bin süchtig, noch eben, dann ich bin tot, ich habe kein Essen, ich singe ihnen jetzt die Geschichte meines Lebens

hiermit laden wir Sie zur schönsten Reise Ihres Lebens ein
ohne Essen, sagen Sie, ohne Trinken?
Sie haben ja schon siebzig Jahre lang gegessen und getrunken
wo ist der Sammelpunkt? wie kommen wir dahin?
es gibt Zwischendeponien
Sie werden einander umbringen für die Zattern an ihren Knochen

ich will nicht mehr, sagt der mit dem zerschnittenen Gesicht

mager sind wir geworden
ihr stinkt nach Kleister
legen uns auf die Bänke, ja, wollen, wollen nicht, wollen Geld

er wollte über die Brüstung, nicht über die Treppe nach unten, ich konnte ihn zurückhalten, hielt ihn zurück, das zweite Mal nicht, sah ihn am Boden des Treppenschachts liegen, der Aufprall muss arg gewesen sein

Brötchen, seit sie wissen, dass ich Brötchen holen lasse und Wurst und Limo
vielleicht kommen sie ja wegen dieser Brötchen, der Wurst, der Limo, der warmen Mahlzeit danach

die Gegend heruntergekommen, dreckig, die Leute heruntergekommen, dreckig, die Häuser leprös
dass da Restaurants sind, die für vierzig Cent ein viertel Huhn bieten mit Reis und Pommes
der Bus zwängt sich durch die Strassen
überall Leute mit Schubkarren, Stapel Kartons, Bonbons
das Elend wuchert nicht nur am Rand, wuchert im Innern, das ja ehedem nicht arm war
vielleicht gehören diese Häuser einem Boss, Bossen, die diese Häuser bewusst verkommen lassen um die Grundstücke dann teuer verkaufen zu können an noch gierigere Bosse, die da Wohnblocks oder Bürohochhäuser hinknallen

Durchliegen geschieht nicht von aussen nach innen, sondern von innen heraus, sagte der Arzt am Sterbebett meiner Mutter

ja, ja, wir wollen, zehn Minuten, ich habe keine Lust mehr, noch einmal zwanzig Minuten, kurz deckt sich die Kakophonie, die sie produzieren, mit den Bewegungen der Menschen auf der Strasse

schliesslich haderst du mit allen, die Anlage auf dem anderen herum zu trampeln setzt sich in die Tat um

du rufst nie zurück, seit ich dir gestern auf der Fahrt zurück in die Stadt ins Handy gerufen habe: ich gehe mich ausruhen, natürlich schaffen sie ihre Auftritte, alle
die Verbindung war schlecht

bisher konnte ich mich des Druckes kriechend, robbend rückwärts entziehen

wir treffen uns im Zentrum, begeben uns zur Brücke worunter die Kinder schlafen, er war einer von ihnen gewesen
setzen uns auf die Mauer, rufen, fangen mit denen an, die rauskommen
einer hat eine Wunde an der Nase und unter der Mütze, über dem linken Auge eine noch grössere
erst arbeiten wir mit den Mädchen, dann mit den Jungs, die Babys legen sie auf eine Decke ins Gras
wir arbeiten bis zwei, sage ich den Sicherheitsbeamten, die auf uns zu kommen
passen Sie auf sich auf, sagen sie
wir spielen die Szenen im Autobus
lachen uns kaputt
der mit den Wunden im Gesicht singt
kommt, wir gehen essen!
frisst die Wurst mit Senf, noch eine, stellt sich mit ausgebreiteten Armen hin

den ersten Kontakt zu Häusern, zu Regeln, die für sie noch keine sind
und so für sie vielleicht auch nie gelten
Häuser schliessen aus
Regeln schliessen aus
Kontrollen, Beweisführungen nehmen erschreckende Ausmasse an, fressen Zeit
ich betrage mich wie eine Ratte, die immer wieder durch Stromstösse zurückgeschlagen wird, die Ratte gibt schliesslich auf

der Langsamere gibt das gemeinsame Tempo, die gemeinsame Länge der Strecke an
gehe dann eher, allein, kehre später wieder, irgendwo treffen wir noch auf einander, gehen die letzte Strecke zusammen

alles Geräusch ist weit weg
ich stelle mich auf die Strasse, lächele
ihr schlagt nicht einmal einen Bogen um mich herum, prallt nicht auf mich auf

nur ich weiss von dieser roten Strieme im Rot, ich hatte das falsche Rot genommen und die Zeit war um und ich werde diese Strieme in mir nicht mehr los

zum ersten Mal fahre ich auch abends allein ins Zentrum, setze mich auf die Treppe der Kathedrale, das Elend, das eine Strasse weiter beginnt, kann diesem Platz nichts anhaben, setzt sich jemand neben mich: ich bin, ich erhebe mich, gehe

steht da, proper, stramm, öffnet eine schwarze Mappe mit abscheulichen Schlüsselringen:
meine sehr verehrten Damen und Herren, mit allem Respekt, der Ihnen gebührt, verzeihen Sie die Störung, ich komme aus dem Knast, habe drei kleine Kinder, muss Geld verdienen, habe im Knast gelernt mein Geld auf anständige Art zu verdienen, mein Leben selbst in die Hand zu nehmen, ich danke Gott dem Allmächtigen, dass ich das jetzt kann, hoffe dass keiner von Ihnen mich im Stich lässt, jeder von Ihnen mir einen dieser abscheulichen Schlüsselringe abkauft, für die, die solch abscheulichen Schlüsselring nicht kaufen wollen, habe ich auch Bonbons, Schokolade, ich darf nur bis zur nächsten Haltestelle, danke, danke
kaum ist sie draussen, steht die nächste schon da, proper, stramm, öffnet ihre schwarze Mappe:
meine sehr verehrten Damen und Herren, mit allem Respekt der Ihnen gebührt, entschuldigen Sie die Störung, ich danke Gott, dass ich hier sein darf, Ihnen diese abscheulich Schlüsselringe verkaufen darf, ich war im Knast, das ist nicht leicht, habe vier kleine Kinder, muss jetzt auf anständige Art mein Geld verdienen, habe im Knast gelernt auf anständige Art mein Geld zu verdienen, mein Leben selbst in die Hand zu nehmen, das tue ich jetzt, danke Gott dem Allmächtigen, dass ich das jetzt kann, biete Ihnen diese abscheulichen Schlüsselringe zum Kauf an, bitte enttäuschen Sie mich nicht, lassen Sie mich nicht mit meinen vier kleinen Kindern allein im Elend, denen die diese Abscheulichkeiten nicht mögen, verkaufe ich auch Bonbons, Schokolade, Kugelschreiber, danke, vielen Dank
auch Männer mit diesen schwarzen Mappen, proper, steigen ein

bitte!
ich will nicht
was hast du verkauft?
Bonbons
für wen?
die Tante
hat die Tante noch mehr kleine Neffen und Nichten?
acht
wir hätten dich nicht bitten dürfen, wir haben dich gebeten

Oma ist 86, Essen, Trinken, Torte, Musik
wir tanzen, schwingen mit unseren Armen wie Vögel mit ihren Flügeln, schaffen uns mit zwei, drei sich immer wiederholenden, schneller werdenden Schritten leicht, schütteln die Schultern, heben ab
und der Vogel in uns lacht

letzte Korrektur Juli 2015

 

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