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NOTIZEN VON IRGENDWO

© Sabine Vess

Sein Husten geht mir durch Mark und Bein. Seine Stimme, sich aufbäumend in tiefem dauerndem Hooo! Hoo! muss den Körper vom Lager reissen, erstirbt. Dieser Husten, dieses Hoo! dringen aus dem ersten Zimmer links des Gästekorridors, raus auf die Terrasse, über das Schwimmbecken hinweg, verlieren sich im Gebell der Hunde. Zwei Labradore mit Nest.
Nachts Gescharre im Garten, ein dumpfer Aufsprung.

Die Magd, mit weisser Schürze, trägt Frühstück, Mittagessen, Abendbrot auf das Zimmer, aus dem das Gehuste, das Hoo kommen. Das Gehuste wird schlimmer, als hätte er Mühe beim Schlucken. Auch der Chef geht auf jenes Zimmer. Einmal hatte er einen Löffel in der Hand. Die Tabletts werden von der Magd oder einer Frau, die nicht zum Personal gehört, via Korridor oder Terrasse wieder zur Küche gebracht. Die Magd kommt aus den Bergen.

Das Haus hat sieben Gästezimmer. Beim Empfang liegt ein Schlüssel mit der Nummer 205. Das Haus hat kein zweites Stockwerk. Alle Gästezimmer liegen an jenem Korridor.

Das Mädchen beim Empfang rechnet und rechnet die zu berechnenden Tage an den Fingern aus: "1, 2, 3, 4, 5, 6. Nein." Nimmt den Kalender: "1, 2, 3, 4, 5. Ich frage den Chef." Sie bewegen sich wie nicht da. Bemerken sie mich, lächeln sie. Auf einmal rennt die Magd, schlenkert dabei die weichen Waden nach aussen, den Körper schräg nach vorn gerichtet. Auch ihr Gesicht ist weich. Das Mädchen beim Empfang, das, wenn die Magd frei hat, fürs Frühstück sorgt, vergisst den Saft: "Oh je, ich habe den Saft vergessen." Geht zurück zur Küche. "Verzeihung." Die Magd vergisst die Brötchen, dann ist kein Wasser in der Kanne. Manchmal ist ein zweiter Frühstückstisch gedeckt. Einmal sass an dem zweiten Tisch ein Paar. Der Knecht fegt Laub. "Gnädige Frau, Sie werden abgeholt." Obwohl ich gern schwämme, tue ich es nicht. Nicht wegen der Blicke oder der zwei Blätter auf dem Wasser.

Der Chef spielt Schach gegen den Computer. Es besteht eine permanente Internetverbindung. Manchmal steht auf einem der Tische eine verlassene Partie. Manchmal kommt er, früh noch, schon wieder zurück, bringt einen Herrn mit. Knecht und Magd hatten den Tisch mit besonderer Sorgfalt gedeckt. Die beiden Herren frühstücken. Danach nehmen sie Papiere durch. Immer geht der Chef irgendwann weg, kommt irgendwann wieder. Er wohnt hier. Dies ist sein Haus.

Im Gewühl der Strasse hebt die Hutzelige an Krücken die Röcke, pinkelt auf den Bürgersteig.
An der Kreuzung liegt ein Mann mit aufgedunsenem gelbem Bauch und abfaulenden Beinen. Passanten schmeissen Münzen in die Konservendose neben ihm.

 

"Wir fahren Freitag.
Wir fahren Sonntag."
Wir fahren Montag erst.

"Sie holen uns um 7 Uhr ab."
"Ich komme um 8 Uhr."
" Sie holen uns um 7 Uhr ab."
"Sie kommen immer zu spät."
Vor 7 Uhr klingeln sie.

"Ich komme um 8 Uhr."
Um 7.30 Uhr steht sie vor der Tür, will noch eines der Taxis erwischen, die nur bis 7 Uhr warten.

Im offenen Innenraum des Hotels, in dem wir für eine Nacht schlafen, hängen da und dort Galerien, noch nicht alle mit Geländer; führen Treppen zu wandlosen Flächen. Die Besitzerin wollte sich das Leben nehmen, stürzte sich in dieses Stein- und Zementchaos, brach sich die Beine.
Aus der Tür zur Dusche haben sie ein Stück herausgesägt. Die Tür konnte wegen des Waschbeckens nicht weit genug geöffnet werden.

"Wir fahren Dienstag."
Wir fahren Sonntag schon.

 

Der Knecht macht das Schwimmbecken sauber. Die jungen Hunde sind weg.

Die Sekretärin schliesst die Tür von aussen auf: "Bitte." Wir erheben uns, folgen ihr. Der Abgeordnete sitzt an seinem Büro.
Sein Sekretär kommt auch. Mit ihm hatten wir vor drei Wochen schon gesprochen. Alle begrüssen einander.
Wir nehmen dem Abgeordneten gegenüber, am Büro Platz - unter dem Büro stehen Sandalen -, sein Sekretär setzt sich auf das Sofa seitlich rechts von uns. "Kaffee?" "Wasser, bitte."
Stühle und Sofa stehen so, dass es uns unmöglich ist den Abgeordneten und seinen Sekretär gleichzeitig anzuschauen. Der Abgeordnete kann sowohl uns als auch seinen Sekretär gleichzeitig anschauen. Der hat, wenn er den Abgeordneten anschaut, keinen Augenkontakt mit uns, sieht allerdings unsere Profile. Augenkontakt mit dem Sekretär kann nur zustande kommen, wenn wir unsere Köpfe in seine Richtung drehen.

Sie ist wieder raus auf die Strasse. Wankt, wirft sich bäuchlings auf die Rücksitze, kommt wieder hoch, nimmt einen Zug Leimdunst aus dem Plastikbeutel. Lächelt mich an. Der Leimdunst verklebt ihre Gehirnzellen. Sie machen sich zu Idioten, denn sie wissen, dass Leimdunst die Gehirnzellen verklebt. Auch er ist wieder raus, ganz raus auf die Strasse. Seine von Messern zerschnittenen Züge noch wirrer... "Du kennst mich doch noch." "Natürlich." Ich fahre mit der Hand über sein Gesicht.
Hier grassiert Tuberkulose, grassiert Aids und das von der Stadtverwaltung gelegte Rattengift vergiftet auch die Kinder, die hier leben.

Auf der Terrasse am Tisch schlafe ich ein. Die besondere Atmosphäre hier lässt Klarheit sich unergründlich und unzusammenhängend auswachsen.

Das Gehuste. Sirenen heulen vorbei. Gleich morgens werden Stimmen eingeschaltet, nicht nur in diesem Haus, in allen Häusern, Autos, Bussen, Strassen, Geschäften. Kreischende Radios werden an Ohren gehalten.

Rausstürzen, mich davonschleichen ist nicht möglich, ich muss erst den Knecht oder eines der Mädchen finden, mir das Aussentor aufschliessen lassen.
Meine Zeit hier ist begrenzt.

Der Knecht harkt Blätter. Der Korridor ist nass. Ein Besen steht in der offenen Tür jenes Zimmers. Eine Hand zieht ihn rasch rein, die Tür zu. Sogar im Frühstücksraum höre ich das elende Gehuste der eingeschlossenen Kreatur.

Zeit ohne Schwung,
in aller Hektik,
Gezappel auf der Stelle,
in beklemmender, schier endloser
Absenz.

"Weisst du..."

Nach dem Überqueren der Hauptverkehrsader steigen wir aus. Es soll direkt hier sein, ein grünes Haus, rechts, vielleicht auch links der Strasse, der Querstrasse. Es ist schon dunkel. Wir laufen ein paar Schritte in Fahrtrichtung, überqueren die Strasse, fragen da in einem Haus. "Nein." Gehen die Strasse, auf dieser Seite, zurück, überqueren die Hauptverkehrsader. Da stehen keine Häuser. Wir überqueren die Strasse, fragen durch Gitter hindurch Wachtposten eines Hauses. "Nein." "Eine Telefonzelle?" "Da." Da gibt es keine Telefonzelle. Wir haben auch keine Telefonnummer des Hauses oder der Menschen, die uns gebeten haben sie in dem Haus zu treffen. Wir laufen zurück und wieder zur Hauptverkehrsader, biegen rechts ab. Überquerten wir die Hauptverkehrsader, wären wir wieder da, wo wir ausgestiegen waren. Wir wollen bei der Tankstelle fragen. Da ist niemand, nur ein Münztelefon. Ein Telefonbuch gibt es nicht. Wir überqueren die Hauptverkehrsader an dieser Kreuzung, laufen auf der anderen Seite zurück zu der Strasse, der Stelle, wo wir ausgestiegen waren. Liegt das Haus gleich rechts von jener Stelle, kommen wir dran vorbei. "Ja", sagt der Mann in dem Laden, "das letzte Haus rechts vor der Strasse."

"Du rauchst nicht?" "Nein." "Wie kannst du dann schreiben, zeichnen."

Immer wieder gehen Menschen die Treppe hoch, verschwinden, kommen runter, verschwinden, tauchen wieder auf.

Kindergeburtstage zwischen Riesenmickymäusen, erdrückenden kuscheligen Stundenkameraden.

Nichts soll den anderen uneigentlich zurückhalten. Nur ist nicht immer deutlich, was eigentlich und was uneigentlich ist. Irgendwo ist der Mensch, solange er lebt.

"Ich muss das Hotel um 12 Uhr verlassen haben."
"Ich komme um 1 Uhr."
"Nein, um 12 Uhr muss ich das Hotel verlassen haben."
"Caramba, wir sehen uns."

Die Hündin springt an mir hoch.

Gestern haben sie auf einmal grosse Mengen Tomaten abgewogen und gekocht.

aus meinen Herbstnotizen 2003

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