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MORGEN WUSSTE ICH NICHT WEITER

© Sabine Vess

 

sprichst und sprichst, das nackte Gesicht zerrend hinter Wörter.

wenn die Wehen einsetzen, ist die Geburt nicht weit. sie wirft zu Boden wie Liebe, wie Tod. Sperma und Blut tränken die Erde, schwängern den Raum, zeugen Schreie, Tränen, Worte, pressen die heiss sich erbrechenden berauscht zurück, schwängern den Kampf, treiben ihn voran - manche erliegen - lassen schorfige Wunden berstend sich öffnen.

rückwärtig krieche ich aus kalter Berührung, auf dass sie mich nicht noch einmal auf sich söge, harter Grund, mich nicht der Masse zum Frass hinwerfe, die unerbittlich Wehen frisst.
dieser Anblick! sagen sie.
was war, verschüttet die Zukunft, verschlingt sie noch immer. das Geschehen nahm hohen Kredit, frass allen Schmerz, auch den kommenden. wir hatten keinen Schmerz mehr zu haben, haben keinen Schmerz mehr, keine Wehe. manche gebaren noch im Schatten des Todes, der dann einsetzte, manche überschattete der kommende kalte Herrscher. Tod kennt keine Wurzel, keine Geborgenheit.

freundliche glatte Gesichter irren wir durch die Strassen, trockener stechender Augen; haben nicht mehr geweint. das Salz der Tränen lagert tief. starren in in leergebrannte Weiten. unsere Augen verschmelzen. wir halten uns fest. Glut. Entsetzen. Ruinen von Leben über, unter Ruinen von Leben, stürzen wir uns ineinander. auf der Strasse sind unsere Gesichter dann glatt.

im Dunkel der Stille höre ich dich weinen.

überall Tote. der heisse Wind. es ist schon Mitte September. die Hitze kam spät dieses Jahr. wir schlagen unser Lager unter ihnen auf. rostige suppende Erde, dein Klopfen. das aufgebäumt Werden und Fallen der von dir Erbrochenen, von dir nicht mehr Aufgenommenen. es waren so viele.

ich lege mein Ohr auf die Erde, suhle mich in dem rostigen Rot.
ich hatte gehört, die Erde sei tot.

monotone Stimmen, unlogische Pausen, die roten Dächer.
unsere Schlachtfelder, vorgerückt in die Städte, verunzieren unsere Strassen.
wir fressen die wehe Luft,
fressen,
fressen,
erbrechen uns.

sie ist schön, lächelt. komm! sagt er, streckt ihr die Hand hin.
nur dieses Lächeln, gleichbleibendes Lächeln.

unsere nackten Leiber sind unsre Trommeln, unsere Hände und Finger die Trommelstöcke.
das Aufklatschen schneidet.

der Wind brennt durch die Strassen. die halb Verschlungenen, halb wieder Erbrochenen, voller Schorf, haben teilweise versengte Gesichter. einer erhebt sich. wir binden ihn. Tote sollte man binden. immer. sofort.

Worte, weit weg noch, tonlos.
sitze da, bleich, zitternd. richtete jemand das Wort an mich, ich zerfiele.

das immer wieder Abnehmen des zugestandenen Raumes durch die Machthaber geschieht subtil. Einwände sind nicht möglich.
dieser Anblick! sagen sie, und dass die Stätte der Menschen doch höher liege.

auch manche der Leiber sind ausgebrannt, nicht nur die Züge.
wir besteigen diese Ausgebrannten, dringen mit unserem vor Panik wahnsinnigen Rhythmus in sie ein, führen sie uns ein. schlagen. würgen.

furchtbare Klage vor Kommen. Leiber, gelähmt vor der Ungeheuerlichkeit. zerstückelte Leiber, die ein Kommen nicht kommen lassen. trockene Lippen. manche legen selbst Hand an sich, versperren starr die Wege.

schwankt, singt mit sanfter weiter Stimme, grölt, wirft sich auf die Knie, erhebt die Arme, sinkt zu Boden. der Leib krümmt sich, schnellt hoch. die Stimme erstirbt.

wir.
nichts.
das Haus hast du vergittern lassen.

Panzern gleich walzen wir durch die Strassen, die entfesselten Geschlechter zwischen den Schenkeln, Blut und Sperma im Hirn, entlang den rotbeleuchteten Fenstern. für Huren gibt es kein Ladenschlussgesetz.

das sich Anhäufen nicht gelebter Trauer in Mauern, an denen sie - die ihr entspringende Klage - sich bricht.

jeder Raum, in dem wir uns befinden, ist das, was uns in diesem Augenblick an Raum zur Verfügung steht. im Grunde nur das Pflaster unter unseren Füssen. mit unserem Schritt verleihen wir ihm Raum. alles andere sind nichts als mehr oder weniger garantierte Möglichkeiten, wenn schon. mit unseren persönlichen Räumen sind wir den Kräften eines jeweils umspannten Raumes ausgeliefert. aus dem, der einen Schritt davor lag, geraten wir, und jeder persönlich, auf die Schwelle des kommenden.

du brauchst Wärme, eine Hand, die über deine Haut fährt, 600 Stunden, Tage, Wochen, ich sage dir nur guten Tag.
Tag und Nacht waren wir gefahren. jetzt fahren wir wieder her. wieder ist Nacht.
deine Schultern, ich wollte diese Schultern für immer umfassen. lehne deinen Kopf an mich. tue es. heule. ich liebe dich.
ich weiss.
du weisst.
ja.
weisse Birkenstämme, dunkle Kiefern, Dünen, sachter Teppich brauner Nadeln und Blätter. heisser bitterer Wermut. September.
meine brennenden Augen. der dröhnende Kopf. er fährt über meine Züge, drückt seine heissen Finger auf die Glut meiner Augen.

schwankt, singt sanfter Stimme, grölt, fällt auf die Knie, erhebt die Arme. das zerrissene Gesicht, der magere Leib liebkosen das Pflaster.

knirschen durch die Strassen, zermalmende Gliederketten. seit ich gestern diese Stimme aus dem Rumpf mit dem einen Arm hörte, dröhnt wieder ihr Grauen in mir. die besudelten Fassaden werfen schallend das Knirschen zurück. das trifft auf das nachkommende Glied, vermischt sich mit dessen Geknirsch.
ich hatte mein Land verlassen. Hass, fragte mich eine. nein.

mein Leib nimmt meine Seele mit zu dem Grab in mir. sie stellt sich neben ihn, wie immer dann. mein Leib zieht sie zu sich in den klopfenden Schlamm, der Leiber aufnimmt, Leiber erbricht. die Seele ekelt sich, der Leib taucht sie unter. sie erbricht sich. er taucht sie unter.

Tag und Nacht rinnt Wasser aus meinen Augen. und dann das unbändige Lachen.

deine Narben, deine Furchen. deine gestutzten, immer wieder dir selbst gestutzten Fittiche.
auch der Junge, den ich liebte, war alt.

dieses meist leere Haus, in das ich den aufgewühlten Leib schaffe. komm! hattest du gesagt.

das Haus wie in Eile verlassen. Schritte, Wörter, Lachen irgendwo noch, unter, neben, über mir.

menschliche Landschaft, dein Durst, deine Oasen, Zittern vor Ahnen, vor Furcht. Stampfen der gestampften Erde, irre Kelter. früh stehe ich auf.

in Schutt und Unrat werden gleichgültig uniforme Fassaden hochgezogen, vor graue aufeinander gestapelte Betonkartons. junge Frauen mit Gesichtern, die schon alles gehabt haben, schieben Kinderwagen, halten Mädchen an groben Händen, schelten Jungen, schlurfen. die Unterlippe kann die aufgedunsene Völle nicht tragen. Spitzengardinen, Topfblumen, junge Männer mit hohlen Gesichtern hinter beschlagenen Scheiben.

wir hatten geglaubt, auch wenn wir gewusst hatten, mit dem ersten Blick. wir ummauerten die Unruhe, sagten, wir wären sesshaft. gaben unseren Worten steinerne Fundamente, erhöhen die Mauern, bessern sie aus. es gibt keinen Anspruch, kein Recht Haben auf. mehr weiss ich nicht. ja, und dass alles, was einmal geschehen, erneut irgendwann, irgendwo zum Ausbruch kommen wird.
Züge kreischen.
und an jeder Kreuzung Altäre, Versprechen auf gedeckte Tische, auf Essen, Trinken, ewiges Leben. wir sind nüchtern. knien im Staub der Strasse. schwerer Weihrauch, Gesang. betäubt von Nüchternheit, vom Hunger unter der Nüchternheit, sollen wir Frieden erbeten, erbeten wir Frieden. werfen uns nieder vor dem, der Herr über das Brot ist, vom Weg spricht, von Wahrheit von Ewigkeit zu Ewigkeit.
unsere Pilger durch Häuser und Städte, die wir immer zu verlassen haben, ist ohne Ankunft. an jeder Kreuzung stehen zurückgelassene Koffer, manche noch nie geöffnet. irgendwo nehmen wir einen an uns. irgendwo setzen wir den, den wir tragen, ab. weg von dem Grab, das den einen verschlingt, den anderen auswirft, dem wir nicht entkommen, wir tragen es in uns: einziger Altar.

der erste gedeckte Tisch warf sie zu Boden. Frieden, sagten sie, meinten Brot - dass das die Normen des Herrn des Brotes bedeutet... - unblutiges Brot. Frieden, sprachen wir ihnen mit dünnen Stimmlein nach.

sie waren gegangen, weg, nur weg, ihre Haut und die ihrer Kinder zu retten. in ihrem Namen hatte angefangen zu geschehen. sie opferten den Namen, gaben ihn auf, gaben ihn hin, gaben sich auf, gaben sich hin. der Name ist nichts ohne Mensch, der Mensch nichts ohne Name. sie nahmen ihn wieder auf, hatten nur diesen.
der gedeckte Tisch! sie brachen nicht weiter auf.
das dumpfe Tropfen der suppenden Erde in sich deckten sie ab: nichts, es ist nichts!

Millionen nicht betrauerte Tote, kalte Leiber voller geronnenen Blutes und Auswurfs vererbten sie Kindern und Kindeskindern schweigend. manche waren noch warm gewesen.
hat je ein Mörder sein Opfer betrauert, ein Opfer seinen Mörder verlassen, ein Mörder den, den er dann doch nicht getötet hatte?

Fleisch gleich Brot gleich Menschenkind in Monstranz.
wir knien vor dem Gefangenen, erheben diesen Weg, diese Wahrheit, dieses Leben, den von Ewigkeit zu Ewigkeit weissgewalzten Menschen in uns, erheben ihn in seiner Gefangenschaft,
knüppeln ihn nieder mit seinem Gefängnis mit dem goldenen Strahlenkranz. sehen nur die funkelnde Monstranz, wollen Monstranz sein, glänzend schön. zahlen jeden Preis, beleihen das Leben hoch, prellen es. schleppen den zerquetschten Menschen in seiner Monstranz durch blumenbestreute Strassen. stellen ihn, die Monstranz, auf den Altar. knien nieder.
komm! sagt der Herr.
schau! sagt der Herr, wenn du angesichts meines Buhlens, meiner Kopulation mit all jenen, dem Hören ihres Gesangs, ihres Ächzens und Stöhnens, der Zuckungen ihrer feuchten Leiber, eingedenk deiner nichtigen Zeitlichkeit...
du!

das Rot, so lange weiss zusammengepresst, durchsickert mich warm. der Leib nimmt die Seele, die sich wie immer dann neben ihn stellt, zieht sie mit sich in den aufquellenden Schlamm.
wie viele Massengräber bergen wir in uns, übereinander getürmt, ineinander versackt, seit Anbeginn.

jetzt weiss ich, dass Angst die Stimme glättet, sie jeder Tiefe beraubt.

die Bettler werden aggressiv.

spielen Sie dieses Spiel nicht mit. Sie verlieren es immer!
bleiben Sie nicht stehen!
schauen Sie es sich nicht an!
gehen Sie weiter!

in offenen Fenstern knutschen Zuhälter ihre Nutten ab.

Angst lässt uns in Reih und Glied, im Kreis, entlang der Mauer laufen, in Reih und Glied vergewaltigen, morden. bei manchen läuft die Mauer quer durchs Wesen.

in diesen unsichtbaren Mauern, die wir nicht von selbst sprengen können, wollen, drücken wir uns fest an jene Mauer, werden Mauer. jedem Schwellen des Fleisches, jeder Flucht der Gedanken, folgt ein Verschärfen der Kontrolle, ein Verstärken, Erhöhen der Mauer.

Haut über eingefallenen Wangen, pergamenten gespannt, liegen sie auf den Rücken, die Münder ein wenig geöffnet, die Augen zu. früher bestattete man die Toten oberhalb der Stadt, jenseits ihrer Wälle. das ist lange her. jetzt bleiben sie unter uns. liegen in den Gassen, sitzen auf Bänken. jeden Morgen kommen die mit den nach vorn gestreckten rot lackierten Fingernägeln vorbei, tänzeln, schütteln die Köpfe.

ihre wunden Hände. Singsang, dieser ständige Singsang aus ihnen. sie legen einander die Hände auf die Leiber. ihre Lippen zucken.

Apparate aus den Idealen von gestern bestimmen über das, was auf der Schwelle zum Morgen steht, stutzen die Flügel vor Ansatz des Fluges. die Zukunft ist als Vergangenheit verplant.

wir nehmen dem Menschen so viele Verbindungen, dass er sich nicht mehr von der Stelle rühren kann ohne in sich zusammenzufallen. wir töten ihn nicht.

ich schleppe den Leib auf die Strasse. manchmal nimmt einer den Leib, ringt sich zwischen die Schenkel.

es herrscht eine endlose Müdigkeit. am Morgen stehen wir auf, streifen uns die Kleider über, stopfen Brot in unsere Münder, schlürfen Kaffee, machen uns auf. manche essen unterwegs. viele schafft der Zug weg. es regnet schon tagelang. manche Stellen unserer Leiber sind dumpf, schimmlig. rote, gelbe, orange Pünktchen quellen auf uns auf. all die Gesichter, die keine Züge mehr zulassen. der Rückstau ist tödlich. wir verrecken am eigenen Leichengift, trinken die Müdigkeit zu vergessen, ihr eine nahe Ursache zu geben.

trinke, bis ich die Betäubung spüre. der Rausch verfliegt. in der Hand die eigene Brust. sie ist warm. und da der Mann, der jeden um Geld bittet. tanze, in der Hand die Brust.

tanzt bis sie umfällt, dies idiotische Lachen!

nein, wir töten Tote. solche, die es gemäss unserer Spielregeln nicht gibt.
nein, wir sperren sie ein, töten ist so unwiderruflich.
arme Irre. wir lächeln ihnen bedeutsam, mitleidig zu. streicheln ihnen die Wangen, tätscheln ihnen die Hintern. mein Gott! dann gehen wir über zur Tagesordnung. niemand ist dankbarer als diese armen Irren. ihre Dankbarkeit ist ihr sicherstes Gefängnis. sie küssen uns die Hände in klebriger Anhänglichkeit, leisten alle nur erdenklichen Dienste.
dieses Lächeln, Streicheln der Wangen, Tätscheln der Hintern. eine Kusshand.

es gibt nichts zu beweisen.
es gibt keine Hoffnung, nur das mich öffnen vor aller Augen, jetzt.
überall Blicke. sie töten.
ich schreie, nächtelang.

dein Gesicht, deine Glieder so aufgedunsen, die feuchte Lippe. stehst im kalten Licht, inmitten der Menge, der Handtaschen vor den Schössen, der Gläser in Händen.

es ist ja nicht so, dass wir tatsächlich zuhören. irgendwann, während einer Atempause, haken wir ein, bringen den eigenen Gesang. wir haben dann gelernt auch während des Ausatmens zu sprechen.

das Ende des Winters ist noch lange nicht in Sicht. auf den Kalender ist kein Verlass mehr.
wir feiern unseren Karneval. Bewegungen erfrieren. Leiber springen auf. im Festzelt erdrückt man sich. als herrsche eine Zeit, die nirgends hingehört.
nichts reift, wird mehr ausgetragen und dem, in dem reift, reichen wir das Messer, unterbinden jeden Kontakt, macht jede Geburt doch zeitbewusst wie jeder Tod.

in der Nacht höre ich Schritte. sehe Licht, Schatten vorbeiziehen, höre Stimmen über mir, aufgepfropfte Schreie, Getrappel von Füssen. das Scharren von Füssen, die zu sitzenden Leibern gehören, Abwerfen von Kleidern.

graue Stadt. eiserner Himmel.
Vögel fliegen vorüber. nichts lockt sie an.
Hausen in Häusern, längst verlassen.
tanze vor leeren Bänken.

es wird ein schöner Tag, sagt er.
ich erkenne das, sagt er.
wenn mich nicht alles täuscht, sagt er.

sie liegen im Bahnhof. sie greift an seinen Schoss. er nimmt ihre Hand da weg.

sie streichen einander über die malträtierten ausgehungerten Leiber. hatten das ganze Jahr getanzt. manche können sich kaum mehr aufrecht halten. dann spielt das Klavier. die Beinwärmer, die Tutus.

verzeihen Sie, ist dieser Stuhl frei? da steht nur noch der Tisch, der Stuhl, auf dem ich sitze.
sie wissen jetzt, dass ich niemanden erwarte.

eine unausgeführte Idee ist ein Gott, nichts. mit Worten lässt sich dauernd bestätigen, untermauern, ohne da zu sein, da gewesen zu sein.

Grausamkeit dringt durch die Augen, verankert sich im Fleisch, rinnt durch die Adern.
Liebe dringt durch die Augen, verankert sich im Fleisch, rinnt durch die Adern.

wir sind nicht fähig zu lieben, tun Gewalt an und dann tun wir mit unserer Aussage dem Geschehenen Gewalt an.

die Frau tanzt zur Trommel.
manche laufen barfuss, laufen, als hätten sie keine Knochen in ihrem Fleisch. die Arme hängen sehr lang. erschreckt richten sie sich auf. manche fallen.

Kokain zerfrisst die Nasen.
Heroin zerstört die Zähne.

die Frau tanzt zur Trommel.

als du aus Krieg wieder zu uns kamst - zurückkamst, sagtest du - was sollte ich mit dir? dann lernte ich dich kennen. die vielen Väter mit Totenflecken in ihren Gesichtern. das schwarze Blut rinnt noch immer aus ihren Mundwinkeln. deine Narben, Furchen, deine immer wieder dir selbst gestutzten Fittiche. aus der Summe unserer - jeweils bis dann - überspannten Räume heraus treffen wir jedesmal erneut aufeinander, immer das erste, immer das letzte Mal. standest da, graue Haut über Knochen. konntest kaum laufen. dein offener Fuss suppte. du sagtest: ich bin dein Vater. es ist vorbei, ich bleibe jetzt immer bei euch, alles wird, wie es war.
wo solltest du schlafen?
immer wieder sagt einer: es ist vollbracht, ist vorbei, und: ich bin dein Vater, ich bleibe jetzt immer bei dir. alles wird, wie es war.

wieder rinnt Wasser über die Wände, braune Rinnsale auf frischem Weiss.
das Haus ist kalt, leer.

Paare kommen mir entgegen. ihre Schritte hallen von den heruntergelassenen Rollläden wider. von halb sieben abends bis halb zehn morgens sind diese Strassen eisenvergitterte Schächte.
bitte, sage ich, gehe einen Schritt auf sie zu. sie wehren ab.

um sie herum die vollgepfropften Plastiktaschen. es nieselt. eine Flasche Bier. sie wiegt den zottigen Kopf. eine Doppelstulle. Röcke über Röcken, darüber der Mantel. er hat keine Knöpfe mehr.

haste Geld für mich? sein Essen fischt er aus den Abfalleimern entlang den Strassen. nachts schläft er auf der Treppe der Börse. manche haben Eimer mit Deckeln. da können sie drauf sitzen.

ich gebe den Tagen ihre Namen nicht mehr. es wird nur noch hell und dann wieder dunkel. ich zähle sie nicht mehr.

wie viele sind auf einmal nicht mehr gekommen, kommen auf einmal nicht mehr. ihr Kommen, ihr Schreien. manche lassen, was sie mitbringen, liegen. irgendwann ist es weg.

in diesem Haus gibt es, wenn überhaupt eine Geburt, nur Abschied oder Tod. der Tod kann dauern. ohne rückzeugenden Beifall, bestehst du nicht.
du weisst, dass wenn diejenigen, denen wir die Totenmaske abnehmen, nicht wirklich tot sind, sich ihre Gesichtshaut mit dem Stearin der abzunehmenden Maske verbindet. danach sind sie immer tot. die serumbenetzten offenen Stellen in ihren Gesichtern.
du kommst von weit her, sagst du.
ich nehme dir die Maske ab,
wische dir die Perlen von der Stirn, kostbare Perlen. schaue die Ruinen.
deine Hand an meinem Hals.
ich muss gehen, sagst du.
das Klicken der Tür.

die Züge der Jungen, die im Bahnhofsgelände lungern, glänzen, sind undurchlässig verschmolzen. geronnenes Fleisch neben fadenscheiniger Haut. ihre Leiber zerfallen. sie bieten diese zerfallenden Leiber an. Männer kommen, feilschen, nehmen sie mit. meist nach Büroschluss. wollen sie meine Schwester, fragt einer. irgendwann sind sie nicht mehr da. andere warten schon auf ihre Auftritte. die Männer nach Büroschluss entzückt alles frische Blut.
über die Brücke, nach rechts.
gegen Abend schliesse ich das Haus wieder ab. am Morgen schliesse ich es wieder auf. gegen wieder ab.

immer steht sie auf einmal im Fenster. manchmal hält sie ein Glas in der Hand. ab und zu stehen auch andere im Fenster. an solchen Tagen sehen wir sie nicht. manchmal sind ihre Bluse und Hose mit Farbe verschmiert. meist Weiss. mittwochs steht sie auch abends immer wieder da.
steht am Fenster, die Linke an der Kehle, in der Rechten das Glas. die Lippen sind geschlossenen. es ist Mittwoch, dunkelt. die Linke löst sich, fällt von der Kehle ab. sie dreht sich um. verlässt das Zimmer. wir sehen nur jenes Zimmer. zwanzig Minuten. dann ist im Gang hinter dem Zimmer Licht. dann ist es aus. sie steht schwarz im dunklen Fenster, schaut in die Tiefe. im Winter herrscht das Dunkel schon früh.

ich benetze meine Hand mit Speichel, Tränen. reisse mir den Leib mit den Fingernägeln auf, trenne den Uterus heraus, wühle ihn ein in die Erde. eine rote Spur ist die letzte, die bleibt, geht über in Rost. das geht schnell.
ein Echo, ein Nachhall von irgendwo, ein Zittern.

 

Aus Notizen 1988/91

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