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Bruno Schulz wurde am 12 Juli 1892 in Drohobycz geboren und am 19 November 1942 in Drohobycz erschossen.
1971 nehme ich seine 'Zimtläden' als Bettlektüre aus dem Bücherschrank meines Vaters. Am nächsten Morgen verkündige ich, dass ich jene Welt zeichnen und in Zink ätzen werde.
Nach einer Inkubation von sieben Jahren entstehen bis April 1983 hunderte von Zeichnungen, 300 Radierungen und einige Portraits von ihm anhand seiner Selbstportraits, einiger Fotos von und Berichten über ihn.
1981 bitten mich Freunde aus Warschau mit einem Bericht über meine Konfrontation - später dann spreche ich lieber über meine Begegnung - mit Bruno Schulz an einem Wettbewerb über polnische Literatur teilzunehmen. Mit einem Spaziergang mit ihm ende ich damals meinen Bericht. Hier steht der Spaziergang, übearbeitet, für sich.

 

BRUNO SCHULZ ODER DER ANDERE KOMET

© Sabine Vess

 

Ein Riesenkopf auf einem Klumpen, bucklig - ja, bucklig - mit sehr dünnem Hals; klein, hässlich, hatten sie gesagt.

Hell ist es, heiss. Die Strasse leer. Nur er und ich. Unsere Schritte, der Wind wirbeln den Staub auf. Er bleibt stehen. "Schauen Sie sich diesen Hals an!" Seine Hände greifen nach dem kolossalen Kopf auf der weissen Hemdbrust. Greifen nicht zu. Die Arme fallen. "Tun Sie es!"

Ich fasse den Kopf mit beiden Händen. Hebe ihn aus dem Kragen. Schaue ihm in die Augen. Brennende Augen. Und wenn der Kopf nur lose auf diesem Klumpen mit der weissen Hemdbrust sitzt? Keine Verbindung... "Bitte!" Mein Mund ist trocken. "Bitte!" Ich setze den Kopf zurück in den Kragen.

Ungestüme Bewegung muss immer wieder darin gewütet, sich gedreht, gewunden haben, gestrandet sein. Die Augen liegen tief. Die Wangen überwuchern den geschlossenen Mund. Er beugt den Kopf zurück, den Kopf samt Rumpf, hält sich dabei die Augen zu, so von der Seite her, mit den Spitzen der Zeigefinger, die Oberarme fest an sich gepresst. Er lächelt: "Das sieht komisch aus, nicht wahr!"

Er tut ein paar Schritte, stapft im Kreis herum. Die Arme flattern, der Kopf hüpft aus dem Kragen. "Nein", sagt er, zieht die Schultern hoch. Steht still. Der Kopf, wieder eingezogen, sackt auf die Hemdbrust. Wir laufen weiter.

"Tanzte ich wirklich, kugelten sich mir die Arme aus, verhedderten sich meine Beine. Einmal in Schwung geraten, liesse sich dieses Ungetüm nicht mehr halten, stürzte mich. Fliegen mit diesem Leib? Einen Anlauf nehmen, weg? Die Arme rissen nur ganz aus. Der Kopf, nicht länger von Schlips und Kragen gehalten, irr vor Freiheit, geblendet vom Licht, schlängelte sich endlich dem so ersehnten eigenen Leben entgegen durch die Lüfte. Vielleicht blieben Arme und Kopf neben und über dem abgetakelten Klumpen schweben. Um den Schein zu wahren? Wie lange? Schon kraftlos und ohne Vernunft mehr, verschleuderte der Kopf seine letzte Masse an wildes hohles Machwerk, an Luftschlangen, Feuerwerk, kristallklare spiegelnde Luftschlösser, und klackte, noch in Anbetung sich selbst verzehrend, auf den Boden. Seine Füsse zerträten ihn. Seine aufgeblasenen Hände mit mehr und mehr wuchernden Fingern stürzten sich eiskalt auf das rumtapsende Restungetüm. Die Beine könnten nicht fliehen. Natürlich könnten sie. Sie könnten sich verheddern und dieses Etwas, dessen sie noch immer Teil sind, völlig aus dem Gleichgewicht bringen oder ganz schnell trippeln, so dass es nicht mehr mitkäme und auf den Rücken fiele. Dann könnten auch sie sich rausreissen. Füsse brauchen immer einen Grund zum Laufen. Ein eigenes Leben? Die Ideen, Träume, Wünsche stammen ja aus der Zeit des Zusammenseins. Erkaltend, ohne Zufuhr von Kraft, Hitze, Atem mehr, fielen Berge Luftschlangen, geschrullter Ballons und Feuerwerksasche vom Himmel, stürzten die verglühenden Wände der Luftschlösser ein. Fliegen ist nur Fliegen im Augenblick des sich Losreissens; und ganz und gar und dauernd aufs Neue.

"So wie ich gebaut bin, schaue ich auf den Boden, betrachte die Welt von schräg unten. Hebe ich den Kopf, muss der diesen Klumpen mitziehen. Mit Mühe halte ich die Augen offen. Das scharfe Licht blendet, spiegelt Bewegungen tausendfach wider, bricht sie. Bewegungen, Teile davon rasen auf mich zu." Er schliesst die Augen. Wischt mit dem Handrücken über die Lider. Die Arme fallen. "Auch die Leere hier, tausendfach gespiegelt, gebrochen, hämmert auf mich ein." Er presst die Lippen aufeinander, schliesst die Augen. Eine Hand greift nach dem Revers. Die Lippen fallen auseinander. Ein Speichelfaden reisst. "Ich spinne eine zweite Umgebung um mich herum. Es ist die gekannte, tausendfach gespiegelt, gebrochen, übereinander gestapelt, verdichtet. Sie ist so weit weg, lässt mich taumeln, so nahe, erdrückt mich. Von mir herangezogen, auf sicheren Abstand verwiesen, trägt sie mich. Oder ich sie? Alles in allem ein bizarres Gebilde. 'Gib mich frei!', sage ich, 'Warum gibst du mich nicht frei?' 'Wir sind ineinander verästelt. Adern, Kapillare zu Mutterkuchen verwirrt, Bläschen. Unsere sich da gegenüberstehenden Peripherien bestehen aus lauter Bläschen. Das blosse Auge kann nicht erkennen, was wessen ist. Du musst dich lösen.'"

Weit öffnet er den Mund, singt, wiegt diesen Leib auf seinen Knien. Bewegung, Gesang und Gestalt sind eins. Sinkt in sich zusammen, wiegt, rammt sich in die Strasse, schläft ein. Vergessen. Ein Knäuel im Strassenstaub. Ein Spielball für streunende Hunde und Katzen, bereit für den Fusstritt von Kindern, von Erwachsenen, zerfallend, aufgehend im blendenden Staub. Irre!, denke ich, zucke mit den Achseln, laufe schon weiter. Laufe wieder zurück. Ich lege mein Ohr auf das Knäuel - es ist nichts als ein Ahnen - betaste, schüttle es. Nehme es an mich, mit, nach Hause. Unterwegs zerfallen die Gespinste. Ich zerreibe sie zwischen meinen Fingern. Die Klänge werden lauter, eindringlicher. Das letzte Korn knete ich heftig zwischen Daumen und Zeigefinger.

2004 IGdA-aktuell, letzte Korrektur: Mai 2010

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